Vor 70 Jahren in Frankreich: Sommer 1936 : Der Front populaire, der Generalstreik und die sozialen Errungenschaften
von Bernhard Schmid
7/8-06
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onlinezeitungIm Sommer 1936 sehen viele Franzosen und Französinnen zum ersten Mal in ihrem Leben das Meer. Andere radeln die Marne entlang oder spazieren durch die Alpen. Die Regierung des Front populaire (sehr vergröbernd übersetzt: Volksfront) hatte soeben - im Juni desselben Jahres - ein Gesetz eingeführt, das den Arbeitern und Arbeiterinnen erstmals das Recht auf bezahlten Urlaub gab. Zwei Wochen im Jahr sollten sie dem Arbeitsplatz fern bleiben können, ohne den Anspruch auf ihr benötigtes Einkommen zu verlieren.
Im öffentlichen Bewusstsein, jedenfalls des progressiveren Teils der französischen Gesellschaft, ist vor allem diese soziale Errungenschaft untrennbar mit der Erinnerung an die Ära der regierenden « Volksfront » verknüpft. Aber was war diese geschichtliche Periode wirklich? Rückblick auf eine geschichtliche Erfahrung, die tief im historischen Gedächtnis der französischen Arbeiterbewegung sitzt.
Die Vorgeschichte
Am 06. Februar 1934 versuchen die französischen Faschisten, durch eine gewalttätige Massendemonstration mit Sturm auf das Parlament (Bilanz: 17 Tote, 2.300 Verletzte) die Republik zu stürzen. Die Kommunistische Partei reagiert gemäb der «Sozialfaschismus»-Doktrin der Dritten Internationale (Komintern). Der französische KP-Chef Maurice Thorez erklärt im Parlament: «Sie alle, Regierende und Abgeordnete der Rechten oder der Linken, führen das Land in den Faschismus. Die internationale Erfahrung beweist, dass es keinen Wesensunterschied zwischen der bürgerlichen Demokratie und dem Faschismus gibt.»
An der Basis der Linksparteien jedoch stellt sich von selbst die antifaschistische Einheit her: Als in Paris am 12. Februar zwei getrennt angelegte Demonstrationszüge gegen den Putschversuch von Rechs marschieren, ein sozialdemokratischer und ein kommunistischer (zusammen rundd 150.000 Demonstranten), vereinigen sie sich spontan unter Rufen: «Einheit! Einheit!»
Unter dem mächtigen Druck der Arbeiterbasis hin zur antifaschistischen Einheit, aber auch unter dem Eindruck der Niederlage der deutschen Kommunisten (1933) bereitet die Komintern einen Kurswechsel vor. Ab jetzt fordert sie nationalen kommunistischen Parteien dazu auf, die Einheit gegen den Faschismus zu suchen, Bündnisse mit der Sozialdemokratie, aber auch mit Parteien des bürgerlichen Zentrums in den westlich-imperialistischen Demokratien einzugehen und auch einen patriotischen Diskurs zu übernehmen.
Auf dem Weg zur Regierungsübernahme
Am 27. Juli 1934 unterzeichnen französische Kommunisten und Sozialisten einen Pakt der Aktionseinheit. Mit Blick auf die Parlamentswahlen, die am 26. April und 03. Mai 1936 stattfinden werden, schlieben sie ein Wahlbündnis ab, dem sich dann auch die Radikalen (so heiben seit dem 19. Jahrhundert in Frankreich die antiklerikalen Liberalen) anschlieben: Es heibt «Sammlung des kleinen Volkes (Rassemblement populaire) für Brot, Frieden und Freiheit», bekannt geworden unter dem Namen Front populaire (ungefähr: Front der gesellschaftlichen Unterklassen, äuberst grobschlächtig und verzerrend übersetzt mit «Volksfront»). Gleichzeitig kommt es im März 1936 auch, nach fünfzehn Jahren Trennung, zur Wiederververeinigung der beiden groben Gewerkschaftsorganisationen CGT (Mehrheitsblock) und CGT-U (der kommunistische Flügel) unter dem nunmehr wieder gemeinsamen Namen CGT. Letztere wird dadurch zur unangefochtenen gewerkschaftlichen Massenorganisation.
Als offizieller Name für die Allianz auf Wahlebene wird Rassemblement populaire (gegenüber dem gebräuchlicheren Titel « Front... ») vorgezogen, da die Parteistrategen namentlich bei der KP keine Verwechslung mit dem Front unique (Einheitsfront, gemeint: der Arbeiterparteien) aufkommen lassen wollte, über den man in den 1920er Jahre noch lebhaft diskutiert hatte. Denn nunmehr geht es nicht um eine «Einheitsfront» der (in welcher Form auch immer) sozialistisch orientierten Kräfte und der Parteien der Arbeiterbewegung, sondern um ein Bündnis, das dezidiert auch bürgerlichen Kräften wie den ‘Radicaux’ offen stehen soll.
Dank des Rückzugs jeweils aller anderen Bewerber aus der Linken, zugunsten des best platzierten Kandidaten einer Linkspartei im jeweiligen Wahlkreis, trägt die Linke den Wahlsieg davon. Das Kräfteverhältnis zwischen den Blöcken der Rechten, die 100.000 Stimmen verloren hat (4,2 Millionen), und der Linken mit 300.000 gewonnenen Stimmen (5,4 Millionen) hat sich aber nur in geringfügigem Mabe verändert. Innerhalb der Linken freilich hat sich das Kräfteverhältnis verschoben. Der grobe Gewinner ist die KP, die sich von vorher 08,4 Prozent auf 15,4 Prozent der abgegebenen Stimmen katapultiert und erstmals zur wirklichen Massenpartei wird. Statt vorher 10 Abgeordneten hat sie jetzt 72 Abgeordnete im Parlament sitzen. Und die SFIO wird erstmals stärkste Partei auf der Linken, vor den « Radikalen » (ursprünglich antiklerikalen Liberalen) mit nunmehr 1,4 Millionen WählerInnen. Die KP erhält ihrerseits 1,5 Millionen Stimmen, gegenüber 1,9 Millionen für die SFIO.
KP-Chef Maurice Thorez betrachtet das neue Bündnis als «Union der französischen Nation», das auch Katholiken und ehemaligen Nationalen offen stehe, um das Land gegen die «Agenten des Auslands» zu verteidigen, nämlich die Faschisten als (in seiner Darstellung) Diener Deutschlands und Italiens. Just in jener Periode übernimmt die KP auch eine für sie neue Symbolik: In ihren Veranstaltungen wird zukünftig – und bis heute – noch vor der « Internationale » auch die französische Nationalhymne (La Marseille) gesungen, unter Berufung darauf, dass diese ja auch ein revolutionäres Erbe widerspiegele. Und ab jetzt werden auch französische Nationalflaggen bei der KP zur Schau gestellt: Im April 1936 spricht ihr Generalsekretär Maurice Thorez erstmals davon, « die Trikolore-Fahne unserer Väter und die rote Fahnen unserer Hoffnungen/Erwartungen » miteinander zu versöhnen... In der ersten Phase hat die Parteiführung dabei jedoch noch ernsthafte Schwierigkeiten mit ihrer Basis: Auf ihren Demonstrationen rollen die Kommunisten von der Parteibasis die blau-weib-roten Fahnen einfach um die Fahnenstange herum zusammen – so lange, bis nur noch der rote Stoff sichtbar bleibt.
Die Forderungen, so der Chef der französischen KP, dürften daher nicht zu radikal formuliert sein. Die Partei hatten unter dem als beruhigend verstandenen Titel « Für die Ordnung – Wählt kommunistisch! » Wahlakmpf geführt. Teile der sozialistischen Partei SFIO hingegen wollen ein Regierungsprogramm mit «sozialistischen Inhalten», von dem sie sich tief greifende Reformen (damals handelt es sich noch nicht um «Reformen» im neoliberalen, regressiven Sinne!) versprechen. Der linke Flügel der SFIO beispielsweise kann im Programm der Sozialisten eine Reihe von Nationalisierungsforderungen durchsetzen, die jedoch in der Folgezeit im gemeinsamen Bündnis durch die KP ausgegrenzt werden. Denn aus deren Sicht gilt es einerseits nicht die bürgerlichen Bündnispartner in der gemeinsamen « Volksfront » zu verärgern. Andererseits aber kann die KP es nicht dulden, dass da jemand ohne ihr Zutun nach vermeintlichen ( !) Wegen des Übergangs zum Sozialismus sucht: Niemand anders als sie selbst verkörpert eine grundlegende Alternative zum kapitalistischen System. Also darf auch niemand an Versuchen, dieses System umzuwandeln, herum basteln, so lange die KP dabei nicht mittut.
« Alles ist möglich » oder: « Man muss einen Streik beenden können » ?
Der Wahlsieg der Linken löst unterdessen eine spontane Massenbewegung aus, mittels derer sich der jahrelang aufgestaute soziale Druck entlädt: Seitdem die (im Oktober 1929 in den USA ausgebrochene) Weltwirtschaftskrise und ihre Folgen seit 1931 auch Frankreich erfasst haben, hatte die Arbeiterbewegung eine Reihe von Schlägen und Niederlagen einstecken müssen. Begünstigt wird die rasante Ausweitung der Streikbewegung durch die subjektive Hoffnung, die damit verknüpft wird, dass nun « unsere Regierung », « unsere Genossen » endlich an der Macht seien. Ob Illusion oder nicht, diese Vorstellung erweist sich als mächtige Antriebskraft. Die soziale Basis der Linksparteien entwickelt so eine « überbordende » Kraft, die erst einmal wieder eingefangen werden muss.
Unmittelbarer Anlass für den Anlass sind Entlassungen von Arbeitern, die am 1. Mai (damals noch kein gesetzlicher Feiertag!) nicht in der Fabrik erschienen und aus diesem Grund gefeuert worden waren. Ab dem 7. Mai kommt es deshalb zu Konflikten, und zwischen dem 11. und 13. Mai brechen Streiks in zwei Flugzeugfabriken aus: in den Bréguet-Werken in Le Havre (am Ärmelkanal) und den Latécoère-Fabriken im südwestfranzösischen Toulouse. Die zunächst lokalen Arbeitsniederlegungen lösen eine massive Streikbewegung aus, die alsbald anzuschwellen beginnt: Eine zweite Welle von Ausständen kommt hinzu, dieses Mal für Lohnforderungen. Ab dem 14. Mai werden die Bloch-Werke in der Pariser Vorstadt Courbevoie (nordwestlich von Paris) bestreikt - und besetzt. So kommt der Stein ins Rollen. Die Bewegung breitet sich mehrere Wochen lang aus, noch bevor der Regierungswechsel stattgefunden hat: Dieser wird am 04. Juni vollzogen, denn in der damaligen Zeit ist es üblich, dass man die Phase der Ablösung einer amtierenden Regierung einige Wochen dauern lässt.
Auf dem Höhepunkt der mächtigen Streikwelle, zwischen dem 09. und 11. Juni 1936, sind anderthalb bis zwei Millionen Lohnabhängige im Ausstand. Neben den streikenden Arbeitern findet ihre Bewegung auch Sympathien in anderen Bevölkerungsteilen. Bauern, kleine Händler und Geschäftsleute versorgen die Streikenden in ihren – besetzten - Fabriken mit Nahrungsmitteln. Innerhalb der Arbeiterschaft kommen neue Schichten in Bewegung, so finden (zum ersten Mal auf Massenebene) Streiks von arbeitenden Frauen statt. Und, vor allem, die Streikenden besetzen «ihre» Fabriken und Arbeitsstätten!
Der radikale Flügel der SFIO-Sozialisten unter Marceau Pivert und die (zahlenmäbig schwachen) französischen Trotzkisten halten die damalige Situation für potenziell revolutionär und erklären: « Alles ist möglich » (Tout est possible), so lautet die Überschrift eines Artikels in der SFIO-Zeitung vom 27. Mai 1936, verfasst von Pivert. In dem Artikel heibt es: « Alles ist den Wagemutigen möglich, eine soziale Revolution inbegriffen. » Marceau Pivert ist damals der Kopf der Tendenz « Gauche révolutionnaire » (Revolutionäre Linke) innerhalb der SFIO – keine unbedeutende Fraktion, denn sie kontrolliert immerhin die Parteisektion im Département Seine, dem damaligen Hauptstadtbezirk von Paris und Umgebung (der später in mehrere Départements aufgeteilt werden würde). Ihm antwortet in der KP-Tageszeitung L’Humanité ein Artikel von Marcel Gitton, damals Mitglied des Sekretariats der stalinisierten Partei (und später Kollaborateur in Vichy) unter dem Titel: « Tout n’est pas possible » (Alles ist nicht möglich). - Leo Trotzki meint damals zeitweise sogar, « die neue französische Revolution (habe) begonnen », was sich dann im Nachhinein doch als reichlich optimistisch heraus stellt.
Hingegen fordert KP-Chef Maurice Thorez die Arbeiter am Abend des 11. Juni auf: «Man muss einen Streik beenden können, sobald die Forderungen erfüllt sind. Oder auch wenn nicht Zufriedenstellung zu allen Forderungen erreicht werden konnte, aber die wesentlichen Punkte erfüllt sind. Alles ist nicht möglich.» Zuvor hatte eine Delegiertenversammlung von streikenden Metallarbeitern den vorgelegten Kompromissvorschlag abgelehnt und zusätzliche Garantien für die folgende Periode eingefordert. Vor allem der berühmte Halbsatz aus der Rede von Maurice Thorez, der auch in der KP-Tageszeitung L’Humanité abgedruckt wird (Il faut savoir arrêter une grève... : « Man muss einen Streik beenden können ») ist seitdem im historischen Gedächtnis der französischen Linken fest verankert geblieben.
Die öffentlich Bediensteten, insbesondere die gut organisierten Mitarbeiter/innen der Verkehrsbetriebe, schlossen sich unter dem Druck der KP und der mit ihr verbündeten CGT-Führung dem Streik nicht an. Der Professor für Zeitgeschichte Jean-Paul Brunet schreibt dazu: « Diese (KP- und CGT-Führung) hatten Angst vor der Breite der Bewegung, die ihrer Kontrolle entglitt, und schätzten, dass die gewerkschaftlich nicht organisierte Masse der Arbeiter die Grenzen des Vernünftigen überschreiten würde. » (Zitiert aus: Historia, Nr. 593, Mai 1996.)
Der neue sozialdemokratische Innenminister Roger Salengro, der am 04. Juni sein Amt antreten wird, stellt am Vorabend der Übernahme seines Ministeriums klar: « Diejenigen, die zur Aufgabe haben, die Arbeiterorganisationen zu führen, mögen ihre Pflicht tun und sich beeilen, dieser ungerechtfertigen Agitation ein Ende zu setzen. Was mich betrifft, so haben ich meine Entscheidung getroffen: Wenn die Wahl zwischen der Ordnung und der Anarchie besteht, dann werde ich die Ordnung gegenüber und entgegen Allen aufrecht erhalten ». Später erklärt er vor dem Senat, dem Oberhaus des französischen Parlaments: « Falls morgen Besetzungen von Geschäften, Büros, Baustellen, Fabriken versucht werden, dann wird die Regierung dem mit allen geeigneten Mitteln ein Ende zu setzen wissen. » Tatsächlich kommt es in der Schlussphase der Streikbewegung zu 1.300 Festnahmen durch die Sicherheitskräfte (darunter 800 in Paris). Ferner werden in diesem Zusammenhang insgesamt 1.100 Abschiebungsanordnungen gegen eingewanderte Arbeiter ausgestellt ; es ist nicht genau bekannt, wieviele davon ausgeführt werden, die französische trotzkistische Gruppe « Le Cri des travailleurs » spricht in einem interessanten analytischen Text (http://groupecri.free.fr/article.php?id=207 ) von « hunderten ». In einer Dienstanweisung an die Polizei- und Ausländerbehörden vom 04. Juli 1936 spricht Innenminister Salengro davon, dass Frankreich ein grobzügiges Aufnahmeland bleiben werde... es aber nicht in Frage komme, dass « Ausländer sich aktiv in Diskussionen der Innenpolitik einmischen und Unruhe und Unordnung stiften ».
In den Abkommen von Matignon (d.h. vom Amtssitz des Premierministers), die durch die CGT am 07. Juni 1936 – bereits am Tag der Aufnahme der Verhandlungen selbst – unterzeichnet werden, wird die Pflicht zur alsbaldigen Wiederaufnahme der Arbeit festgeschrieben. Bei alldem hat die neue Regierung einen ordentlichen Schrecken davon getragen: Eine Demonstration der Links- und Arbeiterparteien, die am 14. Juni geplant war, um den Antritt des Front populaire-Kabinetts zu feiern, wird annulliert. Man hatte in Regierungskreisen befürchtet, dass die soziale Basis erneut « überbordende » Initiativen ergreifen könnte.
Errungenschaften dank der neuen Regierung – oder aufgrund des massiven Streiks ?
Aber erst die Streikwelle war es, die zum Durchbruch einiger der wesentlichen «Reformen der Front populaire-Regierung» führte. Darauf hatte der linke Journalist Serge Halimi dankenswerter Weise schon zum 60. Jahrestag des Front populaire, im Jahr 1996, hingewiesen. Aus Anlass des diesjährigen 70. Jubiläums hat diese Erkenntnis nunmehr gröbere Verbreitung gefunden.
So hatte das Wahlprogramm des Front populaire nur in allgemeiner Form eine «Verkürzung der Arbeitswoche ohne Lohnverlust» versprochen bzw. gefordert. Erst im Juni 1936, nach dem Streik!, taucht dann die konkretisierte Aussicht auf die 40-Stunden-Woche (anstatt der bisherigen 48-Stunden-Woche) auf. Das Wahlprogramm des « Rassemblement populaire » hatte zwar von Arbeitszeitverkürzung gesprochen, aber nur in sehr allgemeiner Form und ohne das Versprechen in Zahlen auszudrücken. Dagegen zählte die Forderung nach der 40-Stunden-Woche seit längerem zum Programm der CGT.
Hingegen war die Forderung nach bezahltem Urlaub vor dem Ausbruch der Streikwelle durch die Linksparteien gar nicht programmatisch erhoben worden. Die französische KP stand ihr sogar ausgesprochen feindlich gegenüber, da ihrer Auffassung nach eine solche Forderung « das arbeitende Volk abwertet », indem es dieses als Liebhaber von Faulerenzei und Nichtstun statt als stolzen Inhaber seiner Arbeitskraft erscheinen liebe. Bei voraus gegangenen Streikwelle, wie etwa 1925 und 1933 bei Citroën, hatte die KP sich sogar eifrig bemüht gezeigt, die (im Dezember 1925 zunächst erhobene!) Forderung nach bezahltem Urlaub aus dem Forderungskatalog verschwinden zu lassen. Der Bourgeoisie zu zeigen, dass man bezahlt werden wollte, um keinen Finger zu rühren – diese « Blöbe » wollte man sich nicht geben... Die Sozialdemokratie hatte einen zaghaften parlamentarischen Versuch unternommen, eine gesetzliche Grundlage für das Recht auf Urlaub zu schaffen. Doch war die Ambition 1925, 1928, 1931 und 1932 irgendwo auf dem Verhandlungsweg im parlamentarischen Betrieb stecken geblieben.In anderen Ländern, die über weniger konflikthafte soziale Bewegungen verfügten und wo man eine staatliche « Lösung der sozialen Frage » (ohne gesellschaftliche Brüche, und also im Rahmen des Kapitalismus) anstrebte, gab es zu dem Zeitpunkt bereits seit längerem eine – bescheidene – Gesetzgebung über Arbeitsferien. Etwa in Deutschland seit 1905, in Österreich-Ungarn und den skandinavischen Ländern seit 1910.
In Frankreich brachte die Streikwelle vom Mai und Juni 1936 die Wende, und beförderte das Anliegen in den Reihen der Linksparteien. Danach ging alles sehr schnell: Am 07. Juni wurden im Hôtel Matignon – dem Amtssitz des Premierministers, wo Léon Blum seit drei Tagen residierte – die Verhandlungen mit den Gewerkschaften eröffnet. Sie werden nur einige Stunden dauern und etwa Lohnerhöhungen um 12 Prozent beschlieben, aber auch (aus Sicht der Regierung und der Fabrikanten das Wichtigste!) die Räumung der besetzten Fabriken durch die Arbeiter. In der Nacht vom 08. auf den 09. Juni schrieb der Kabinettsdirektor im Arbeitsministerium, Charles Piquenard, in Windeseile einen Gesetzentwurf über bezahlten Urlaub nieder, der am 09. Juni dem Parlament vorgelegt wurde. Umgekehrt stimmten nunmehr auch Abgeordnete der Rechten, unter dem Eindruck der Streikwelle, der Einführung des Rechts auf Urlaub zu – obwohl die politische Rechte ideologisch solchen Reformen im Prinzip feindlich gegenüber steht, da er die Faulheit der niederen Klassen begünstigt. (Und sogar noch belohnt! Skandalös.) Der Parlamentsbeschluss über die Einführung von zwei Wochen bezahltem Urlaub vom 11. Juni 1936 wird einstimmig gefasst, alle 592 anwesenden Parlamentariser stimmen ihm zu. Allenfalls wählen einzelne Abgeordnete den Weg des passiven Widerstands, in dem sie sich vor oder während der Abstimmung verdünnisieren.
Es war also der Streik mit Fabrikbesetzungen, der die entscheidende Änderung herbei führte, und nicht (allein) der Wahlsieg des Front populaire. Insofern hat ihre soziale Basis tatsächlich die Linksparteien erfolgreich vor sich hergetrieben. Woran es ihr aber ansonsten ermangelte, war jede auch nur ansatzweise Selbstorganistion, die über die Grenzen des jeweiligen Betriebs oder der jeweiligen besetzten Fabrik hinaus gereicht hätte: Die überörtliche Koordionation blieb in den Händen der beiden Arbeiterparteien SFIO und KP (und ihrer bürokratisierten Apparate), sowie des Gewerkschaftsbunds CGT, der ihnen zuarbeitete.
Ein Marxist wird Regierungschef
Am 04. Juni 1936 tritt die neue Regierung ihr Amt an. Léon Blum wird Premierminister bzw., nach damaliger Terminologie (der Ausdruck ‘Premierminister’ wird unter der Fünften Republik seit 1958 benutzt) «Präsident des Ministerrats», Président du Conseil. Die KP unterstützt die Regierung, nimmt aber nicht selbst mit Ministern an ihr teil, sondern erprobt eine Art Tolerierungsmodell (Soutien sans participation, «Unterstützung ohne Teilnahme»); ihre Führungspersönlichkeiten werden aber stets in engem Kontakt mit Premierminister Blum bleiben.
Der Historiker Aymar du Chatenet schreibt: «Es ist das erste Mal, dass ein Jude ins höchste Regierungsamt eintritt; das erste Mal, dass ein Marxist Präsident des Ministerrats wird; und auch das erste Mal, dass der Regierungschef durch die Kommunisten unterstützt wird.» Blum holt drei Frauen in die Regierung, obwohl der weibliche Teil der Bevölkerung damals noch überhaupt nicht das Wahlrecht hat – das Frauenwahlrecht wird in Frankreich erst 1944 gesetzlich verankert. Ein Teil der öffentlichen Meinung zeigt sich «schockiert». Die Presse der extremen Rechten, die damals in Millionenauflage erscheint, geifert gegen den «streunenden, wurzellosen Juden» (juif errant) Blum, gegen die «Tyrannei dieses Mannes einer anderen Rasse», gegen «den Asiaten». Und sie streut finsterste Gerüchte, etwa das, wonach Léon Blum in Wirklichkeit Karfunkelstein heibe, nicht Franzose sei, aus Bessarabien (heute Moldawien) stamme und ein geheimes Vermögen aus Diamanten besitze. Doch es hilft alles nichts: Aufgrund der nachfolgenden Reformen wird Léon Blum durchaus als populäre Figur im historischen Gedächtnis eines Grobteils der französischen Gesellschaft bleiben. Die antisemitische Propaganda hat damals ihre zweite gesellschaftliche Niederlage erlebt, nach der Niederringung der antisemitischen Bewegung während der Dreyfus-Affäre (auch wenn ihre Ideologie unter der deutschen Besatzung und dem Kollaborationsregime vier Jahre lang zum Staatsprogramm erhoben werden wird, was sie aber späterhin erst recht diskreditiert).
Reformen
Die ersten Wochen der Regierungsära des Front populaire bringen Reformen Schlag auf Schlag, 133 Gesetze werden in 73 Tagen veraschiedet. Die wichtigsten betreffen die 40-Stunden-Woche (statt bisher 48 Stunden), den ersten bezahlten Urlaub (zwei Wochen pro Jahr) für die Masse der Arbeiterschaft – viele sehen im Sommer 1936 zum ersten Mal in ihrem Leben das Meer! -, kräftige Lohnerhöhungen u.a. durch Festlegungen von Mindestlöhnen, die gesetzliche Einführung der Kollektivvereinbarungen (= Tarifverträgen). Für die Bauern, damals immerhin 30 Prozent der arbeitenden Bevölkerung, wird das Office de Blé (ungefähr: Weizenbüro) gegründet. Eine wichtige Neuerung, denn durch diese Agentur übernimmt die öffentliche Hand eine Abnahmegarantie für das Getreide zu festen Mindestpreisen, so dass das häufig Existenz gefährdende wirtschaftliche Risiko für die landwirtschaftlichen Erzeuger doch erheblich gemindert wird. Am 30. Juni 1936 werden ferner die rechtsextremen «Bünde» (ligues), die bestehenden Ansätze von faschistischen Massenorganisationen, verboten und aufgelöst. Die Staatsbank ist nunmehr der Regierung verantwortlich und kann nicht mehr, unabhängig von der Politik bzw. (falls diese für das Kapital unangenehme Entscheidungen trifft) zu deren Nachteil, eigenmächtig über Auf- und Abwertungen der französischen Währung entscheiden. Und am 11. August 1936 wird die Waffenindustrie verstaatlicht. Die Banque de France (französische Zentralbank) wird zur « Banque de la France » und soll nunmehr auf die Ziele der staatlichen Wirtschaftspolitik verpflichtet werden, statt allein für Geldwertstabilität durch Inflationsbekämpfung zu sorgen.
«Die ökonomische Doktrin von Léon Blum war in ihrer Essenz nicht sozialistisch (...). Das Schema Blums sah das Wachstum des Binnenkonsums vor (...) und ging davon aus, dass sich so erhöhte Profitaussichten für eine Unternehmerschaft ergeben würde, die neue Investitionen vornehmen würde» (so der oben zitierte Historiker Brunet). Ein eher keynesianisches Schema also.
Doch das Bürgertum zieht es damals vor, sein Kapital «in Sicherheit zu bringen», vorzugsweise in die Schweiz. 7 Milliarden damalige französische Francs wurden schon vor Antritt der Blum-Regierung auber Landes geschafft (vgl. ‘Libération’ vom 20. Juni 2006). Durch Währungsspekulation verliert der französische Franc zunehmend an Boden. Da Léon Blum sich jedoch anfänglich weigert, eine eindeutige Wahl zu treffen und die Währung freiwillig abzuwerten (und damit Importe zu verteuern, Exporte zu verbilligen, aber Gefahr zu laufen, das französische Image in Sachen «Stabilität» zu schädigen), muss er schlieblich eine von auben erzwungene, unfreiwillige und erzwungene Abwertung hinnehmen.
Am 25. Oktober 1936 schliebt Paris ein Abkommen mit London und Washington, demzufolge der Franc um 25 bzw. 35 Prozent abgewertet wird. Die positiven Effekte (Verbilligung von Produktion und Exporten) sind angesichts anhaltender Kapitalflucht und Währungsspekulation alsbald verflogen. Doch die negativen Aspekte (Abwanderung spekulativen Kapitals, das auf der Suche nach Gewinnen bisher in französischen Francs angelegt worden war; Verteuerung der Importe) greifen rasch, noch zusätzlich beschleunigt durch die psychologische Niederlage der Regierung Blum. Die Inflationsrate durch Preiserhöhungen bei vielen Gütern (70 Prozent binnen zwölf Monaten) bringt alsbald die vorhandenen Lohnzuwächse der Arbeiter in Gefahr. So holt sich das Kapital zurück, was es am Anfang hatte herausrücken müssen.
Als am 17. Juli 1936 der General Franco in Spanien putscht und eine weitere Front in der Ausbreitung des europäischen Faschismus eröffnet, ist Léon Blum zunächst Anhänger einer Intervention zugunsten der bedrohten spanischen Republik. Am 06. September 1936 jedoch spricht er sich in einer Rede für die Nicht-Intervention aus, dem europäischen Frieden zuliebe. Die Regierung Blum (die allerdings de facto private Initiativen für Waffenlieferungen nach Spanien und andere Solidaritätsformen ermuntert) steht von mehreren Seiten her unter Druck. Die Kommunistische Partei rührt aktiv die Trommel für eine militärische Unterstützung der spanischen Republik. Dagegen sind die Radicaux (Linksliberalen; damals eine Zwanzig-Prozent-Partei, von der heute nur noch ein kümmerlicher Rest übrig ist) für die britische Politik des «Heraushaltens». Und innerhalb der Sozialistischen Partei, SFIO, wünscht der pazifistische Flügel ebenfalls ein Heraushalten, wenn auch aus anderen Motiven, die (für sich genommen) moralisch ehrbar sein mögen, aber im konkret gegebenen Text naiv wirken.
Die neue Akzeptanz der KP als staatspolitische Kraft ist unterdessen nach einigen Monaten bereits am Dahinschmelzen. Vor allem internationale Ereignisse liefern dazu Anlässe. Die Haltung der franzözsischen Kommunisten zum Bürgerkrieg in Spanien bringt insbesondere katholische Milieus gegen sie auf, die durch Horrorberichte über angebliche Schändungen von Kirchen durch «Rote» (die freilich, wenn überhaupt, durch radikale spanische Anarchisten begangen worden waren) aufgeschreckt worden sind. Dies schmälert zunehmend die gemeinsame Basis, im Rahmen des Front populaire-Bündnisses, gegenüber der organisierten katholischen Arbeiterschaft.
Eine wichtige Rolle spielen aber auch die Moskauer Prozesse, deren erste Welle zwischen dem 18. und dem 23. August 1936 ablief. Nicht wenige Intellektuelle wenden sich nach den ersten Schauprozessen angewidert von der KP ab, darin bestärkt durch zwei Buchveröffentlichungen von André Gide. Dieser war als kommunistischer Sympathisant in die Sowjetunion gereist, schrieb jedoch Ende 1936 in sehr kritischem Ton «Rückkehr aus der UdSSR» (Retour d’URSS) und Ende 1937, schärfer verfasst, «Korrekturen an meiner Rückkehr aus der UdSSR». Die Terrorprozesse in Moskau bleiben in der französischen Intelligenz auch sonst nicht unbeachtet. Die KP-Tageszeitung L’Humanité berichtet zunächst nüchtern-neutral aus der UdSSR. Aber zur zweiten Prozesswelle im Januar 1937 schickt sie zwei Beobachter. Im Anschluss schiebt sie sich heftig-geifernd auf die politische Opposition und andere «Spione» ein. Die inner-kommunistische Opposition, in der Sowjetunion wie im Übrigen auch in Frankreich selbst, wird nunmehr perfide als (so die neue offizielle Sprachregelung der französischen KP) Hitléro-trotzkistes, also «Hitler- und Trotzki-Anhänger», tituliert. Eine Sprachregelung, die Maurice Thorez bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg beibehält.
Dennoch darf man nicht unterschätzen, dass eine der wichtigsten Langzeitwirkungen der Front populaire-Periode der rasante Mitgliederzuwachs für die KP und den (ihr zunehmend nahe stehenden) Gewerkschaftsbund CGT gewesen ist. Nunmehr schaffen sie den Sprung in das Stadium, wo sie « echte » Massenorganisationen darstellen. Die KP hatte im Jahr 1935 noch 81.000 Mitglieder, 1938 werden es 328.000 sein. Und die CGT sieht ihre Mitgliederzahlen auf angeblich 4,5 bis 5 Millionen (1937) anschwellen. Die Frage wird nur sein, was diese Organisationen mit ihrer neu gewonnene Stärke anfangen werden...
Das Ende vom Lied
Am 13. Februar 1937 spricht Léon Blum sich in einer Radioansprache für eine «Pause» bei den Reformen aus. Der Druck des in privaten Händen konzentrierten Kapitals, das ja seine wirtschaftlichen Machtpositionen grundsätzlich behalten hatte, wird nunmehr übermächtig.
Einen Monat später findet der gröbte politische Skandal unter der Front populaire-Regierung statt: Am 16. März 1937 demonstrieren die Linke und die Arbeiterorganisationen in der Pariser Vorstadt Clichy-la-Garenne gegen eine Veranstaltung der pro-faschistischen, militaristischen Organisation Croix-de-Feu (‘Feuerkreuze’) bzw. deren Nachfolgeorganisation, die nach ihrem gesetzlichen Verbot sofort ihre Stelle eingenommen hat. Es handelt sich um den « Parti social français » (PSF) unter dem Colonol (Oberst) Henri La Rocque, der in den späten 30er Jahren mit zeitweise bis zu 800.000 Mitgliedern zur Massenorganisation der nationalistischen Ultrarechten wird. Unter anderem die KP und die SFIO haben zur Demonstration in Clichy-la-Garenne, das unmittelbar nördlich/nordwestlich an Paris angrenzt, aufgerufen. Die staatliche Polizei eröffnet das Feuer auf die Demonstration, es kommt zu sechs Toten und über 200 Verletzten (manche Quellen sprechen von 500).
In der Folgezeit ergreift die sozialistische Partei SFIO Sanktionen gegen ihren linken Flügel ; die sozialistische Jugendorganisation JS (Jeunesses Socialistes) und die Gauche Révolutionnaire (Revolutionäre Linke), die innerparteiliche Tendenz rund um Marceau Pivert, werden aufgelöst. Beide hatten in Clichy-la-Garenne nebeneinander demonstriert. Die Strömung um Pivert, die für eine Mixtur aus antiautoritärem Marxismus und ernst gemeintem, radikalem Reformismus (d.h. Reformismus in der tatsächlichen Absicht, den Kapitalismus zu überwinden) steht, wird 1938 dann aus der Partei ausgeschlossen. Marceau Pivert wird eine neue Partei gründen, die « Sozialistische Arbeiter- und Bauernpartei » PSOP, die aber in der damaligen Situation erfolglos bleibt.
Am 15. Juni 1937 dann will Blum sich vom Parlament in ökonomischen Fragen umfassende Vollmachten verleihen lassen, um nunmehr restriktive Mabnahmen durchsetzen zu können: Das Ende der (im Prinzip) automatischen Angleichung der Löhne an den Preisanstieg; fünf Milliarden Francs zusätzliche Steuern; eine drastische Erhöhung der Tabakpreise, der Post- und Bahntarife; aber auch die parallele Einführung einer Kontrolle (endlich!) der spekulativen Währungsgeschäfte und anderer Aktivitäten des Finanzkapitals.
Während die KP die Einführung der erstgenannten Mabnahmen beklagt, empört sich die Bourgeoisie über die letzteren. Die KP stimmt schlieblich für das Gesamtpaket an Mabnahmen, «um den Front populaire zu retten». Aber die Radikalen (Linksliberalen) spielen ein doppeltes Spiel: In der Nationalversammlung, dem «Unterhaus» des französischen Parlaments, stimmen sie für Blum. Doch im Senat, dem «Oberhaus», votieren sie gegen ihn. In der Nacht vom 21. auf den 22. Juni 1937 reicht Léon Blum seinen Rücktritt als Präsident des Ministerrats ein.
Doch es kommt nicht zu Neuwahlen. Das bedeutet, dass jene Regierung und jenes Parlament, die im September 1938 dem Münchener Abkommen mit Adolf Hitler zustimmen und im November 1938 die gesetzliche Rückkehr zur 48-Stunden-Woche anordnen, auf derselben Parlamentsmehrheit fuben wie die Regierung Blum. Federführende Kraft der Regierung sind nunmehr aber die Radicaux (die ursprünglich antiklerikalen Liberalen), die das Ruder an sich gerissen haben und unter Edouard Daladier regieren. Unter Blum war er Kriegsminister und Vizepremierminister gewesen, nunmehr amtiert er als Präsident des Ministerrats. Gegen die Rückkehr zur 48-Stunden-Woche (statt der unter Léon Blum eingeführten 40 Stunden) rufen die CGT, die sozialistische SFIO und die KP zu einem 24stündigen Streik auf, der aber höchst defensiv geführt wird: Ohne Demonstrationen, ohne Veranstaltungen und natürlich ohne Fabrikbesetzungen, mit rein passiven Arbeitsniederlegungen. Dennoch wird der Streik (an dem dennoch zwei Millionen Lohnabhängige teilnehmen) hart beantwortet, es kommt zu tausenden von Entlassungen, die gegen Streikteilnehmer verhängt werden. Ein Versuch, die Renault-Werke zu besetzen, wird durch polizeiliche Sondereinheiten zerschlagen, 300 Arbeiter werden festgenommen.
Spätfolgen
Im Oktober 1939 verbietet dieselbe Regierung Daladier die französische KP, und ihre Abgeordneten werden verhaftet. Hintergrund ist der Ausbruch des Zweiten Weltkrieg, infolge des Angriffs Nazideutschlands auf Polen. Zweifelsohne hat die französische KP durch ihre damalige saudumme Politik in Gestalt ihrer Unterstützung des Hitler-Stalin-Pakts (französisch: pacte germano-soviétique) diese Mabnahme gegen sie auberordentlich begünstigt. Dennoch hat die französische Bourgeoisie auch einfach nur die günstige Gelegenheit benutzt, um mit einer Organisation der verhassten Arbeiterbewegung « aufzuräumen » und endgültig mit ihr fertig zu werden. Denn in den Reihen dieser französischen Bourgeoisie hat sich längst die Devise ausgebreitet: « Plutôt Hitler que le Front populaire » (Lieber Hitler als die Volksfront), was sicherlich zum Teil das Münchener Abkommen mit erklärt. Die passive Haltung von wesentlichen Teilen des französischen politischen und militärischen Establishments während der ‘drôle de guerre’ (des « komischen Kriegs ») im Winter 1939/40 und Frühjahr 1940, als Nazideutschland in Windeseile Frankreich überrennen kann, erklärt ebenfalls so manches an der französischen Niederlage von damals.
Im Nachhinein hat sich jedoch ein Geschichtsmythos in Teilen der politischen Rechten Frankreichs herausgebildet, der den Front populaire für diese Niederlage gegenüber Hitler verantwortlich macht. Namentlich die Einführung der 40-Stunden-Woche wird als angebliche unmittelbare (Mit-) Ursache für den französischen Zusammenbruch vor dem Ansturm Nazideutschlands benannt: Ihre Umsetzung habe verhindert, dass das Land hinreichende Rüstungsanstrengungen unternehmen konnte, habe die Arbeiterschaft bequem (und dekadent) gemacht und dadurch den Wehrwillen geschwächt. Solchen und ähnlichen Unfug kann man auch heute noch in rechten Wirtschaftsmagazinen wie ‘Valeurs actuelles’ und mitunter in der konservativen Tageszeitung ‘Le Figaro’ nachlesen. Solche Behauptungen sind nicht nur deshalb falsch, weil die 40-Stunden-Woche beim Kriegsausbruch zwischen Frankreich und Nazideutschland längst nicht mehr existierte (siehe oben). Sie verkennen auch bewusst, dass es in den Reihen der Bourgeoisie durchaus Sympathien für ein autoritäres Regime gab, die sich späterhin auch konkret in der aktiven und passiven Kollaboration mit der Besatzungsmacht NS-Deutschland niederschlugen. Dass der Nationalsozialismus weitaus mehr als « nur » ein autoritäres, militärisch-traditionalistisches Regime war (wie es Grobteile der in Vichy versammelten alten Eliten anstrebten), erkannten diese Kreise erheblich zu spät. Dagegen wäre man in den Reihen der französischen KP 1938 durchaus für einen Krieg gegen Hitler zu haben gewesen, zumal man glaubte, dass die Arbeiter – wenn sie einmal die Waffen in Händen hielten – diese dann auch nicht so leicht wieder herausrücken würden, und so auch innerhalb Frankreichs politisch nicht mehr übergangen werden könnten. So schildert es etwa Jean-Paul Sartre in seinem groben Roman über 1938, « Le sursis » (Der Aufschub).
Das Vichy-Regime machte Léon Blum 1942 in Riom (in der Auvergne) den Prozess, völlig im oben zitierten Geiste: Es suchte nach den « Verantwortlichen für die Niederlage von 1940 » und stellte deswegen Blum, aber auch seinen Nachfolger Daladier vor Gericht. Die 40-Stunden-Woche und die zwei Wochen bezahlten Urlaubs, die dadurch bedingte Verweichlung der Arbeits- und Abwehrkräfte, eine ungenügende Aufmerksamkeit für die und Ausstattung der Armee : All diese Elemente hätten zu Frankreichs Dekadenz beigetragen und die militärische Niederlage verschuldet. Zudem habe es die Blum-Regierung bei der Repression der « subversiven und revolutionären Elemente » an Härte mangeln lassen. Doch die Angeklagten kehrten die Vorwürfe um, und es gelang ihnen teilweise, im Laufe der Verhandlungen nachzuweisen, dass die Armeeführer selbst und nicht die verantwortlichen Politiker die Niederlage mabgeblich verschuldet hatten. (Lag doch ein Gutteil ihrer Sympathien in Wirklichkeit beim nazistischen Feind...) So war die Artillerie zum Teil, während des Vormarschs der nazideutschen Truppen, auf französischer Seite in den Depots geblieben und nicht einmal herausgeholt worden. Da die internationale Presse während des gesamten « Prozesses von Riom » anwesend sein konnte, begann sich das Blatt tatsächlich zu Gunsten der Angeklagten zu drehen, und die französische Regimepresse ihrerseits berichtete zunehmend weniger über den Prozess. In Berlin packte Adolf Hitler die Wut über den Prozessverlauf, der in seinen Augen von Anfang an in die falsche Richtung ging, da es ihm zufolge darum gehen musste, die angebliche Schuld der Republik am Krieg nachzuweisen. Im April 1943 wurde der Prozess abgebrochen und Blum nach Buchenwald, später nach Dachau deportiert. Er überlebte den Krieg.
Nach dem Zweiten Weltkrieg trat Léon Blum wieder der sozialdemokratischen SFIO bei und war dort, zu Beginn des Kalten Krieges, ein prominenter Fürsprecher einer Politik des Nicht-Bündnisses mit den Kommunisten und der Hinwendung zum « Westen » aus Ablehnung der stalinistischen Sowjetunion. Er starb 1950. Sein ehemaliger linker Kritiker Marceau Pivert schloss sich ebenfalls erneut der SFIO an, hielt sich dort aber nunmehr mit radikalen Positionen zurück. Er wurde in regelmäbigen Abständen in das Vorstandsgremium der SFIO gewählt, hatte aber kaum noch ein nennenswertes Echo in der Partei. Vor seinem Tod 1958 ergriff er dann aber noch – vergleichsweise früh – Partei für die Unabhängigkeit Algeriens, während die Mehrheit der (zu dem Zeitpunkt an der Regierung beteiligten) SFIO damals an der Fortführung des Kolonialkriegs festhielt. Zur bestimmenden Figur in den Reihen der französischen Sozialdemokratie sollte aber ab jenen Jahren eine Person aufrücken, die Kollaborateur in Vichy gewesen und moralisch weder Léon Blum noch Marceau Pivert das Wasser reichen konnte. Es handelt sich um einen gewissen François Mitterand, übrigens Justizminister während eines Teils des Algerienkriegs und direkt verantwortlich für Hinrichtungen während dieser Phase. Später sollte Mitterrand... Aber das ist eine andere Geschichte.
Nachwort
Bemerkenswert ist neben all dem Ausgeführten ferner, dass dieselben Parteien wie zu Zeiten des Front populaire beieinander versammelt sind, als im Juni 1997 die Koalition der so genannten « pluralen Linken » (gauche plurielle) unter dem Sozialdemokraten die Regierungsgeschäfte in Paris übernimmt. Alle drei sind sie wieder da: die französische Sozialdemokratie (damals SFIO, jetzt PS), die französische KP und auch die ‘Radicaux’ (inzwischen unter dem Namen PRG/Parti Radical de Gauche), auch wenn letztere inzwischen eine kümmerliche Zwei-Prozent-Partei geworden sind. Hinzu kommen nun, im Bündnis von 1997, noch zwei andere Parteien, die 1936 noch nicht existiert hatten: die französischen Grünen, und die linksnationalistischen Republikaner unter Innenminister Jean-Pierre Chevènement. Ein Vergleich der jeweils ausgeführten Politik beweist mühelos, welchen Weg diese Parteien – und namentlich die Sozialdemokratie und die KP – seit damals zurückgelegt, und welche Ansprüche sie hinter sich gelassen haben. 1936 hatte diese Parteien zumindest noch während einiger Monate probiert, « echte » Reformen (im damaligen Sinne des Wortes in der Arbeiterbewegung, und nicht im Sinne des inzwischen erfolgten neoliberalen Begriffs-Hijackings) durchzuführen. In den Jahren der « Linksregierung » von 1997 bis 2002 gilt von vornherein der Kapitalismus als « unüberschreitbarer Horizont », ja sogar dessen besondere neoliberale Konfiguration wird weitestgehend respektiert.
In einem Gedankenspiel, das die Reformen von 1936 in den Kontext des laufenden Jahres 2006 versetzt, lieb die französische Satire- und Enthüllungszeitung ‘Le Canard enchaîné’ am 10. Mai dieses Jahres aktuelle Prominente zu Wort kommen. So durften die amtierende Arbeitgeber-Präsidentin Laurence Parisot oder der Jet-Set-Inkellektuelle BHL (Bernard-Henri Lévy) fiktive Antworten auf entsprechend vorgetragene Ansinnen erteilen. Wie bitte ? Die Arbeitszeit gleich um ein Sechstel verkürzen, von 48 auf 40 Stunden ? Eine Forderung, die unter ihrem progressiven Lack und « trotz der Sympathie, die sie (auf den ersten Blick) einflöbt, zutiefst konservativ » sei. Dies wird dem linksliberal-konformistisch-modernen Fernsehphilosophen BHL in den Mund gelegt; aber er hatte diese Worte tatsächlich benutzt, um nämlich die soziale Bewegung gegen die Prekaisieriung der Arbeitsverhältnisse im März/April dieses Jahres zu charakterisieren. Und gar bezahlten Jahreserlaub einführen ? Unerhört! Ja, wollen Sie denn die französische Ökonomie ruinieren, guter Mann ? Und das in einem Kontext wachsender internationaler Konkurrenz und wirtschaftlicher Globalisierung ? Wo denken Sie denn hin ? Und unsere Exporte ?, gibt Arbeitgeber-Präsidentin Parisot zu bedenken. Wie man sieht, hat sich auf dieser Seite des gesellschaftlichen Spektrums auch in 70 Jahren nicht so viel verändert.
Die heutige KP-nahe Tageszeitung L’Humanité hat ihre eigenen Lehren aus der Erfahrung des Front populaire gezogen. In ihrer Ausgabe vom 03. Mai 2006 schreibt ihr Herausgeber, Patrick Le Hyaric: « In diesem Monat Mai (2006) weht über Frankreich, nach den Mobilisierungen (Anm.: gegen den CPE), ein Duft, wie eine Lust nach einem Front populaire... Es ist die Kombination aus dem Handeln einer parlamentarischen Mehrheit der Linken, einer linken Regierung, die den Auftrag erhalten hat, die Dinge zu verändern, zusammen mit einer gewerkschaftlichen und sozialen Mobilisierung, die den Erfolg erlaubt. » Das ist die Lehre, die die ‘Genossen’ aus sieben Jahrzehnten gezogen haben: Versuchen wir es noch mal mit der Regierungsbeteiligung! Ob diese Rezeptur nach den französischen Wahlen im Frühjahr 2007 mehr Erfolg, im Sinne einer Gesellschaftsveränderung, bringen wird als in der Vergangenheit ? Nun, Wetten dürfen schon jetzt abgeschlossen werden...
Editorische Anmerkungen
Den Text erhielten wir von Bernhard Schmid zur Veröffentlichung.