Peter Trotzig Kommentare zum Zeitgeschehen

Über „Wertschöpfung“ – oder warum die Politische Ökonomie heute mehr über den kapitalistischen Produktionsprozess weiß als ihre modernen Kritiker

7/8-06

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onlinezeitung

 

Mensch gebe einmal die Begriffe „Wertschöpfung“ oder „Wertschöpfungsprozess“ bei google ein und nehme sich nur eine Stunde Zeit für flüchtige Lektüre einiger der Seiten und Dokumente, die da aus den Tiefen des Internet hervorgezaubert werden.

Da heißt es dann z. B:

„Produktion ist ein Wertschöpfungsprozess. Wertschöpfung entsteht in jedem einzelnen Produktionssystem, wenn aus einzelnen oder komplexen Teilen wertgesteigerte Teile erzeugt werden.“

oder:

„Wertschöpfung ist das originäre Ziel produktiver Tätigkeit. Diese transformiert vorhandene Güter in Güter mit höherem Nutzen und damit - in einer Geldwirtschaft - in Güter höheren Geldwertes. Der geschaffene Mehrwert wird zu Einkommen.“

Die aktuelle, zeitgemäße Politische Ökonomie (hier: Betriebswirtschaftlehre) betrachtet den „Wertschöpfungsprozess“ durch Produktion von Waren (Produktionsmittel, Konsumtionsmittel, Dienstleistungen) als Kernprozess jedes kapitalistischen Unternehmens, den es kontinuierlich zu „optimieren“ gilt. („Produktion als primäre Wertschöpfungsaktivität, keine Wertschöpfung ohne Produktion“) Er wird flankiert durch „Leitungsprozesse“ und „unterstützende Prozesse“

 

Aufgabe der „Leitungsprozesse“ ist es für folgendes zu sorgen:

  •  „rationelle Produktion zu Vergrößerung der Gewinnspanne/Marge

  •  „finden von Abnehmern und entsprechende Produktpolitik“

Entsprechend werden Aufgaben etwa wie folgt formuliert

„Die ständige Verbesserung des Wertschöpfungs-Prozesses ist eine unabdingbare Voraussetzung für dauerhaften Erfolg

Die Straffung und Optimierung der Geschäftsprozesse - nämlich derjenigen Vorgänge im Unternehmen, mit denen Geld verdient wird - ist der Schlüssel zum Unternehmenserfolg, heute und in Zukunft!

Durch die Konzentration auf den Wertschöpfungsprozess werden die Unternehmensabläufe transparenter, Schwachstellen werden offensichtlich und die Gesamtleistung kann oft schon durch kleine Korrekturen wesentlich verbessert werden.

Hier gilt es klar und präzise den Wertschöpfungsprozess des Unternehmens aufzuzeigen, Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen, die ergebniswirksamen Stationen im Ablauf aufzuzeigen und das Unternehmen straff und konsequent danach auszurichten.“

 

Wie die Theorie der Politischen Ökonomie, so die Praxis!

 

Während die Sachwalter des Kapitals ihre Kräfte darauf konzentrieren, die kapitalistischen Produktionsprozesse auf Teufel komm raus zu restrukturieren, zu reorganisieren etc., und die erforderlichen Rahmenbedingungen für die Durchsetzbarkeit ihrer rigiden Maßnahmen zu schaffen, weil sie den kapitalistischen Produktionsprozess, den Arbeitsprozess als „Wertschöpfungsprozess“ verstehen, interessiert das, was da abgeht, theoretisch und praktisch eigentlich niemanden mehr in den luftigen Höhen von „kritischer Wissenschaft“ oder „theoretischer Kritik“. Wie sollte auch, wenn „erkannt“ wurde, dass es keine Wertsubstanz gibt, das Wert nicht in der Produktion der Waren entsteht, vielmehr die einzelnen Waren nur Gebrauchsgegenstände sind, der Arbeitsprozess nur technischer Arbeitsprozess ist. Oder wenn erkannt wurde, dass die wertschöpfende Arbeit eh schon so gut wie verschwunden sei, man von Mehrwert gar nicht reden dürfe, weil es sonst nur noch um Verteilung desselben gehe. Stattdessen interessiert man sich sehr für die „Entbettung“ des Marktes, für kaufen und verkaufen durch kaputte „Warensubjekte“ etc., starrt auf das jeder Kontrolle entwachsene Finanzkapital. Was man noch kritisiert ist die Wertform, der Tauschwert und die aberwitzigen Erscheinungen des Marktes. Im Gegensatz zu den Sachwaltern des Kapitals ist der „Kritik der Politischen Ökonomie“ jedes der gesellschaftlichen Praxis angemessene Verständnis zwischen „Wertschöpfung“ (Produktion von Wert und Mehrwert) und Wertrealisierung abhanden gekommen. Die sogenannte „Kritik der Politischen Ökonomie“ fällt hinter die Erkenntnisse der Politischen Ökonomie selbst zurück. Eine verdrehte Welt ist das! Man beschränkt sich auf die Kritik der unheimlichen „Wertschöpfung“ von Spekulation etc., als einer „Wertschöpfung“, die der sozialen Kontrolle entwachsen sei. Teilweise möchte man Kontrolle des Finanzkapitals und verkürzt die Kapitalkritik auf eine Kritik an den „Heuschrecken“. Ja, auch die teils scharfsinnig analysierten Mechanismen der „Wertschöpfung“ des Finanzkapitals laufen in der Konsequenz auf platte „Heuschreckenkritik“ raus, weil der Zusammenhang mit dem Produktionsprozess des Kapitals theoretisch aufgehoben ist. (Von einer Durchsetzung des Wertgesetzes ist nichts mehr zu sehen: Spekulation des Finanzkapitals als Folge des Falls der Profitrate, der „Klassenkampf von oben“ als Versuch, den Fall der Profitrate aufzuhalten und umzudrehen.) Das ist keine Kritik des Kapitals mehr, aber es ist sehr populär. Für die „Heuschreckenkritik“ ist leicht eine Mehrheit zu bekommen, doch wehe, diese „Heuschrecken“ werden als logische Quintessenz des Kapitals selbst benannt. Da sperrt sich der gesunde Menschverstand und auch die in Selbstauflösung begriffene „Kritik der Politischen Ökonomie“.

 

Die Sachwalter des Kapitals drücken auf

 

  • Verlängerung der Arbeitszeit

  • Flexibilisierung der Arbeitszeit

  •  Streichung oder Kürzung von Pausen

  •  Ausdehnung von Nacht- und Schichtarbeit

Ihr Traum besteht nach wie vor darin, alle Lebenszeit der Lohnabhängigen in Arbeitszeit für das Kapital zu verwandeln. Nur soziale Bewegung und gesellschaftlicher Zwang kann dem Grenzen setzen oder diesem Traum der Kapitalisten ein für alle Mal die Grundlage entziehen.

 

Damit die Zeit, die die Lohnabhängigen für ihre eigene Reproduktion arbeiten, verkürzt wird, müssen natürlich auch die Löhne sinken, egal um welche Form des Lohnes es sich dabei handelt, um direkt ausbezahlte Löhne oder jene Lohnbestandteile, die das Kapital an Sozialversicherungen abführt. Umwandlung der Lebenszeit von Lohnabhängigen in Arbeitszeit fürs Kapital bedeutet Ausdehnung der unbezahlten Mehrarbeit. Das ist die Quintessenz einer „optimierten Wertschöpfung“ durch Arbeit. Als jemand, der von diesen radikalen Veränderungen betroffen ist und sie aufmerksam verfolgt, bin ich immer wieder sprachlos über das Ausmaß der theoretischer Ignoranz gegenüber dieser sozialen Reaktion. Und:

Wer sich auf grund „reiflicher theoretischer Überlegung“ und eines erfolgreichen „Abschieds vom Proletariat“ nicht für den kapitalistischen Produktionsprozess interessiert, der interessiert sich auch nicht für die mehr oder weniger verheerenden psychischen, physiologischen und sozialen Folgen von langer Arbeitszeit, Flexibilisierung der Arbeitszeit, Ausdehnung von Nacht- und Schichtarbeit, etc. (Nachgewiesen durch arbeitsmedizinische Untersuchungen). Was die Arbeit mit den Menschen macht ist nicht Gegenstand von Kritik und Forderungen, wird allenfalls mit Phrasen von der Abschaffung von „Arbeit überhaupt“ abgetan. Während das Kapital ein klares Programm zur Veränderung der Arbeit entwickelt hat und verfolgt, haben die „Linken“ entweder gar keins oder faseln von „abstrakter Vernutzung von Mensch und Natur“ oder der „Abschaffung der Arbeit als solcher“. Beides ist gleichermaßen perspektivlos. Über die verderblichen Auswirkungen des Marktes kann man dagegen überall lesen (was nicht falsch, aber ungenügend ist).

 

Fast alles Denken und Handeln der bürgerlichen Welt konzentriert sich komischer Weise auf die „Optimierung der Wertschöpfung“ und die Schaffung neuer Arbeitsgelegenheiten für „Wertschöpfung“. Eigentlich sind unsere Kapitalisten ziemlich dumm, weil sie nicht verstanden haben, dass die Produktion für die „Wertschöpfung“ irrelevant ist, vielleicht gar schon eine Sache der Vergangenheit oder Wert allenfalls eine „gegenständliche Reflexion“ auf die gesellschaftliche Gesamtarbeit ist. Aber die Sachwalter des Kapitals sind instinktiv „Materialisten“ (sei es, weil sie ihr nun einmal in produktives Kapital angelegtes Geld mit ordentlicher Rendite vermehren wollen, sei es, dass sie als Politiker oder Verbandsfunktionäre eine ungefähre Vorstellung vom Gesamtreproduktionsprozess des Kapitals haben, die um den Zusammenhang von „Wertschöpfung“ durch Arbeit und Wertrealisierung auf dem Markt weiß) und misstrauen der verselbständigten „Wertschöpfung“ mit dem Handel von Wertpapieren.

 

Die wichtigsten sozialen Prozesse, Zusammenhang und Ausmaß der sozialen Reaktion, die über uns hinweg rollt, betreffen allesamt den kapitalistischen Produktionsprozess, spitzen sich auf seine Veränderung und Ausdehnung zu. Aber mit dem „Abschied vom Proletariat“ ist nicht nur das revolutionäre Subjekt abhanden gekommen, damit die Sache rund wird, fällt auch die revolutionäre Zuspitzung von Kritik der Politischen Ökonomie. Sei es, dass der Wert primär eine Sache des Austausches sei, sei es, dass die „wertschöpfenden“ Potenzen der Arbeit eh schon erschöpft seien, man kann den kapitalistischen Produktionsprozess in jedem Fall getrost ausblenden. (Wehren tut sich obendrein kein Schwein.) Die Verwertung von Wert in der kapitalistischen Produktion ist einfach kein Thema mehr, was eine ganz verheerende Auswirkung auf die Stoßrichtung der theoretischen Kritik und mögliche Perspektiven einer praktischen Politik hat. Es ist der Weg der „Linken“ in die absolute Bedeutungslosigkeit, angereichert mit ein paar weltfremden esoterischen Zirkeln, die sich bei Bedarf mal eben selbst zerfleischen.

 

Für die Perspektive sozialer Emanzipation ist Kritik und Veränderung der Arbeit ein zentraler Programmpunkt. Dabei geht es weder um Phrasen von der Abschaffung der Arbeit noch um das Ausmalen von Utopien. Es geht um die konkrete Kritik der kapitalistischen Arbeit und deren Folgen, sowie daraus unmittelbar ableitbare Forderungen. Das Kapital selbst setzt die Frage des Normalarbeitstages wieder auf die Tagesordnung! (Wird seinem Treiben nicht angemessen bewusst begegnet, dann wird die veränderte Realität allein ein tüchtiger Leermeister sein.) Forderungen nach Begrenzung der Arbeitszeit, die dem Stand der Produktivkraftentwicklung entsprechen, sowie nach Verboten für Überstundenarbeit, Nacht- und Schichtarbeit etc., die den arbeitsmedizinischen Erkenntnissen über die schädlichen gesundheitlichen und sozialen Auswirkungen solcher Arbeitsformen entsprechen, sind die zentralen Eckpunkte für Diskussionen über die Veränderung der Arbeit, ohne die sich kein Bewusstsein und keine soziale Bewegung entwickeln kann.

 

Editorische Anmerkungen

Peter Trotzig schreibt ab der Nr. 1-05 in unregelmäßigen Abständen seine Kommentare zum Zeitgeschehen.