Interview mit René K. aus Berlin, der nach der Parada Równości zwei Monate in Warschau in Haft war.

7/8-06

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René wurde am 10. Juni auf der Parada Równości, der Parade für sexuelle Gleichberechtigung in Warschau von der Polizei festgenommen und saß bis zum 11. August in Untersuchungshaft. Ihm wird vorgeworfen auf der Parade Polizisten mit Schlagstock und Reizgas angegriffen zu haben. Weiterhin wird ihm der Besitz von geringfügigen Mengen Amphetamine zur Last gelegt. Er wurde von der Untersuchungshaft nach zwei Monaten verschont, nachdem seine Freundinnen und Freunde 7.500 Euro Kaution für ihn hinterlegten. Ein Prozess gegen ihn wird voraussichtlich nicht in absehbarer Zeit stattfinden. Wir haben das Interview gemacht, um mehr über die Haftbedingungen zu erfahren und diesen blinden Fleck bei vielen politischen Aktiven zu erhellen.

Weitere Hintergründe zu dem Fall gibt es auf http://www.queerberlin.tk.

Q: Es gab allerhand zu Dir in der Presse zu lesen und einige Aktionen zu deiner Verhaftung. Nach zwei Monaten wollen wir Dich nun auch zu Wort kommen lassen. Die Festnahmesituation ist allen bewusst. Es gab am Endkundgebungsplatz Auseinandersetzungen mit Gegendemonstranten von faschistischen und katholischen Organisationen. Wahllos nahm die Polizei Personen aus der Menge fest. Was ist nach deiner Festnahme auf der Parade geschehen und wie hast du die letzten zwei Monate erlebt?

R: Zunächst wurde ich durchsucht und in einem Polizeiauto auf ein Revier gebracht. Dort saß ich mit drei Neonazis, die ebenfalls auf der Parade festgenommen worden waren ein paar Stunden zusammen. Mir wurde mitgeteilt, dass kein Dolmetscher aufzutreiben sei und sie brachten mich in ein anderes Revier, wo ich bis zur Vernehmung am Abend auf dem Gang saß. Soweit ich weiß wurden die Neonazis entlassen.
Die vier Polizeibeamten, die mich festgenommen hatten, saßen neben mir, sprachen ihre Aussagen ab und notierten diese in ihren Büchern. Obwohl ich kein Wort polnisch spreche, verstand ich worum es ging. Dort sah ich auch zum ersten Mal einen zertrümmerten Polizeihelm, den einer der Beamten bei sich hatte. Als am späten Abend ein Dolmetscher kam, wurde mir der Tatvorwurf mitgeteilt. Ich soll vier Polizisten mit Reizgas eingenebelt, mit einem Holzknüppel einem Beamten in der Hüftgegend verletzt und ihn dann zu Fall gebracht haben. Auch wurde ich gefragt, ob ich einen Pflichtanwalt oder Wahlanwalt haben wolle. Da ich keinen Anwalt nennen konnte, verwies ich auf meine Verlobte und meine Mutter, die benachrichtigt werden sollten.

Festname
Festnahme

Da ich an eine Verwechslung glaubte, gab ich an, ich sei auf der Parade gewesen und habe vor meiner Festnahme nichts weiter mitbekommen, als kleinere Rangelein mit Gegendemonstranten am Rande. Mir wurde nicht geglaubt und ich wurde in ein drittes Revier gefahren, wo dann auch die Amphetamine festgestellt wurden. Es handelte sich um ein kleines Tütchen mit etwa 0,1 Gramm (also nicht mehr konsumierbarem) Pulver, was in meinem Portmonate festgestellt wurde. Erst bei der dritten Durchsuchung wurde das Pulver als relevant erachtet und dieser Vorwurf kam zu dem des Angriffs auf Polizeibeamte hinzu. Den Drogenbesitz gab ich zu, da es das einzige war, was mir juristisch wirklich vorzuwerfen war und den Tatsachen entsprach. In diesem Revier verbrachte ich die erste Nacht in einer Einzelzelle und wurde am Morgen erkennungsdienstlich behandelt.
Danach folgte die Aussage bei der Staatsanwaltschaft, wo nur noch meine früheren Aussagen bestätigte. Zu dem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass bereits ein Anwalt von meinen Freundinnen und Freunden eingeschaltet wurde.
Ich kam in eine Sammelzelle mit vier weiteren Gefangenen. Ein älterer Mann fragte mich, ob ich auf der Parade war was ich verneint habe, da ich befürchtete es würde dann ungemütlich werden. Zu Essen gab es trocken aber immerhin belegte Brote, schlechten Tee und irgendetwas möglicherweise Nudeln waren.
Am Montag wurde ich dann zum Gericht gefahren, wo geprüft wurde, ob gegen mich Untersuchungshaft angeordnet wird oder ich freigelassen werde. Auch hier wurden die Vorwürfe noch mal wiederholt und ich hatte meinen früheren Ausführungen nichts weiter hinzuzufügen. Dann wurde ich gefragt, welche Gründe dafür sprechen würden mich freizulassen. Dass ich unschuldig sei, galt nicht als Begründung und auch nicht, dass ich mich möglicherweise wöchentlich bei der Polizei melden könnte. Nach 15 Minuten wurde entschieden, dass ich keine einzige Bedingung zur Freilassung erfülle und dass ich die nächsten drei Monate in Untersuchungshaft verbleiben müsse. Dieser Termin fand ohne Staatsanwalt, ohne jemanden von der Botschaft und ohne meinen Wahlanwalt statt. Es war auch das letzte mal, dass ich einen Dolmetscher gesehen habe. Da ich das Urteil nicht auf polnisch ausgehändigt haben wollte, ließen sie es übersetzen und mir nach ca. zwei Wochen zukommen. Mir war klar, dass ich unter allen Umständen verhindern müsse, dass die Anklage anderen Mithäftlingen bekannt wird. Deshalb trug ich das Urteil bis zum Ende meiner Haft immer bei mir und verriet niemandem etwas davon.

Q: Gab es während der zwei Monate Haft überhaupt Schwule, die sich geoutet haben und was ist mit denen passiert?

R: Keine Ahnung. Ich habe dieses Thema vermieden und auch nie nachgefragt. Die Sozialarbeiterin, die mich bei meiner Einweisung in dem Knast Białołęka klassifiziert hatte, warnte mich davor das Thema Parade oder Homosexualität anzusprechen. Sie meinte ich sollte mir lieber eine plausible Geschichte einfallen lassen weil sonst meine Situation im Knast ziemlich ungemütlich werden würde. Ich bin ihrem Rat gefolgt.
Beim ersten Hofgang wurde ich von einem polnischen Häftling auf deutsch angesprochen, ob ich auf der Parade war. Er hat lange Jahre in Bayern gewohnt und hatte einige Wochen gleichzeitig mit meiner Zelle Hofgang. Wir dachten uns die Geschichte aus, das ich in Warschau gewesen sei, um Party zu machen als ich beim durch die Stadt schlendern zufällig in eine Schlägerei mit Polizisten verwickelt wurde. Diese Geschichte behielt ich bis zum Ende bei. Da ich aufgrund der sprachlichen Hürden sowieso wenig Gelegenheit hatte, mit anderen Häftlingen zu sprechen, war es auch nicht nötig die Geschichte weiter auszubauen.
Ich war und bin diesem jungen Polen sehr dankbar.
Rückwirkend betrachtet hat die Schwulenfeindlichkeit in Białołęka wenigstens einen Vorteil. Du kannst dir sicher sein, dass dir bei Durchsuchungen niemand zwischen die Beine fasst. Kein Mensch, nicht mal die Schließer, wollen als schwul gelten und so kannst du theoretisch allerhand schmuggeln. Von Sexualität habe ich in Białołęka wenig mitbekommnen. Da du keine Sekunde allein bist, ist dafür auch kein Platz.

Knast Bialoleka Übersicht

Gefängnis Bialoleka in Warschau

Q: Nachdem du am Dienstag vom Revier ins Gefängnis Białołęka gebracht wurdest, musstest du dich plötzlich in einen dir unbekannten Gefängnisalltag eingliedern. Wie sah dieser Alltag aus und welche Strategien hast du entwickelt, um damit klarzukommen?

R: Ich kam die ersten Stunden nach meiner Einlieferung in eine 9qm große Sammelzelle, in die sich 16-18 Gefangene quetschten. Alle wurden einzeln fotografiert, ordentlich durchsucht und bekamen ihre Gefangenenausstattung: Decken, Laken, Zahnbürste, Rasierer und eine Garnitur Plastikgeschirr. Die Sozialarbeiterin gab für mich die Prognose, dass ich ein bis zwei Jahre in Haft verbringen würde, was mir nicht wirklich Hoffnung auf ein schnelles Ende gab.
Nach der Aufnahmeprozedur kamen wir jeweils zu fünft für einen Tag in provisorische Zellen. Ich konnte nach vier Tagen zum ersten Mal duschen. Wir wurden ärztlich untersucht, geröntgt und zum Zahnarzt gebracht. Generell war die ärztliche Betreuung allerdings sehr schlecht. Als ich einmal üble Bauchschmerzen hatte, wurde mir ein Glas voller verschiedener Pillen verordnet, ohne nachzufragen was eigentlich los sei. Eine Medikamentierung wurde durch die Mithäftlinge besser erledigt, als durch den Amtsarzt.
Nach der ersten Nacht in Białołęka fing ich an, die letzten Tage schriftlich festzuhalten. Ich habe das bis zum Ende beibehalten und knapp 80 Seiten Tagebuch zusammengebracht. Irgendwie hatte ich das Bedürfnis, meine Ängste und Erfahrungen niederzuschreiben und so zu verarbeiten. Da ich sehr vergesslich bin und mich natürlich auf den Prozess vorbereiten wollte, schrieb ich alles nieder, was in der Zeit passiert war. Nach vier Wochen hatte ich mich zu weit da rein gesteigert und hab mich gezwungen weniger zu schreiben, um mich nicht immer mit meinen Gefühlen im Kreis zu drehen. Aber diese Auseinandersetzung mit mir selbst war wichtig, um den Knastalltag zu ertragen, ohne völlig durchzudrehen.

Q: Was war mit den Mithäftlingen. Hast du Beziehungen zu denen aufgebaut?

R: Zwei Wochen vor meiner Festnahme wurden 200 Hooligans der Legia Warszawa eingeliefert, weil sie sich an Riots in der Stadt beteiligt hatten. Der erste Eindruck, den ich hatte, als ich das Gefängnis betrat waren 30 von diesen muskelbepackten grimmigen Männern. Mit allen Klischees, die du so von Knast und Häftlingshierarchie im Kopf hast, war mir klar, dass ich weit unten in der Nahrungskette stehen würde.
In der Zelle waren wir, wie gesagt, zu fünft. Ein Jugendlicher, der einen geringfügigen Diebstahl begangen hatte, ein Mann der sich bei einer Schlägerei mit Polizisten verletzt hatte und zwei Polen, bei denen ich nicht weiß, was mit denen war. Das ging wie gesagt nur ein, zwei Tage. Dann wurden wir von der Sozialarbeiterin klassifiziert (wahrscheinlich nach Statur, Delikt, Vorkenntnisse im Vollzug etc.).
Białołęka ist das größte europäische Gefängnis mit Kapazitäten für 3000 Gefangene. Es hat zwei Untersuchungshaftanstalten und zwei Strafhafttrakte. Die Häftlinge werden anhand ihrer Gefährlichkeit in Stockwerke untergliedert. Ich war im Untersuchungshafttrakt 4 im ersten Stock - also total „ungefährlich“. Im Keller befanden sich die Duschen - ein größerer gekachelter Raum mit neun-zwölf Duschköpfen, und einige Zellen, die ich nie von innen gesehen habe. Ausbrüche gab es bisher keinen einzigen und soweit mir bekannt, „nur“ zwei Morde.

Nur Mörder trugen orange Gefängniskleidung, alle anderen normale Klamotten. Allerdings ist dort eh keine Fashionshow angesagt. Pro Monat bekommst du eine handvoll Waschmittel und dementsprechend oft wäschst du die wenigen Klamotten auch. Du kannst dir vorstellen, wie nötig da die Bodylotion und das Deo wird, die du über den Knastladen kaufen kannst. Die Wäsche wird übrigens in zwei Schüsseln in der Zelle erledigt, die sonst fürs Duschen genutzt werden: in eine Schüssel reinstellen und dich mit Wasser übergießen. Ich trug die ersten zwei Wochen die Klamotten, die ich bei meiner Festnahme dabei hatte. Ein Mithäftling gab mir ein paar Boxershorts. Bevor meine Verlobte mich das erste Mal besuchte, beantragte ich ein Packet mit Klamotten, Schreibzeug und Stifte bei dem Sozialarbeiter meiner Station. Da ich vergessen hatte, ein Handtuch extra zu beantragen, wurde das auch aus dem Paket, was ich von draußen bekam, aussortiert. Ich hatte dann zwei Garnituren Klamotten, zwei Paar Schuhe und Badelatschen. Auch ein 5 Kg Paket mit Essen, vor allem Kaffee und Schokolade beantragte ich. Erst dann konnte es mir von den Leuten draußen reingegeben werden. So ein Fresspaket kannst du aber nur einmal im Quartal bekommen.
Das Toilettenpapier war auch stark reglementiert: pro Gefangenen und Monat gab es eine Rolle. Bei dem schlechten Essen da drinnen und meinem sensiblen Magen war vorprogrammiert, dass ich Bekanntschaft mit den polnischen Tageszeitungen machte würde, um die Notdurft zu verrichten.
Auf jeder Etage gab es einen Hausarbeiter, der selbst Gefangener war. Er hatte den Gang sauber zu halten und das Essen auszuteilen. Ich besorgte mir anfangs noch Schlaftabletten, da ich nur schwer einschlafen konnte. Darüber hinaus wäre es auch problemlos möglich gewesen, an eigentlich alles, was es auch außerhalb des Knastes an Betäubungsmitteln gibt, ranzukommen.
Meine Zelle hatte die Nummer 14, war knapp 15qm groß und für sechs Personen ausgelegt, hatte eine Toilette hinter einem Vorhang und zwei Tische in der Mitte. Die Belegschaft änderte sich dreimal erheblich.
Zunächst war da ein junger Räuber, ein erzkonservativer Katholik, der bei einem Familienstreit ein Messer ungünstig geführt hatte und ein Mann aus Algerien, der bei einer Auseinandersetzung mit der Polizei ohne Papiere aufgriffen worden war. Er sprach als einziger halbwegs englisch und erklärte mir die wichtigsten Regeln für polnische Knäste. (Diese hielten bereits während der 50er Jahre Einzug in den polnischen Knastalltag, als zu dieser Zeit viele Häftlinge aus Sibirien zurückkehrten) Zum Beispiel Eine, wonach ist es strengstens verboten sei zeitgleich in der Zelle zu essen bzw. zu trinken während das Klo geöffnet wird oder sich auf Toilette jemand umzieht. Wenn also irgendwer hinter dem Vorhang verschwand (natürlich musste ankündigt werden was für ein Geschäft dort erledigt wird), musste man aufhören zu trinken oder zu essen. Damit bin ich bis zum Ende nicht klargekommen bin und immer wieder angeschissen wurde.
Der Katholik, ein alter Mann, verließ uns nach einiger Zeit, da er in einem anderen Trakt, nach anderthalb Jahren Untersuchungshaft, also ohne Prozess, Arbeit gefunden hatte und innerhalb des Knastes mit seinem Fernseher und den beiden Kochern umzog.

im Knast
im Knast

Der junge Räuber hatte noch m selben Tag versucht, sich die Pulsadern mit Rasierklingen aufzuschneiden, was wir aber verhindern konnten. Er wurde dann in eine Isolationszelle mit Kameraüberwachung untergebracht. Im Prinzip gibt es in Białołęka unzählige Möglichkeiten sich umzubringen. Wer es wirklich will, der schafft es auch. Solche Kandidaten werden auf Verdacht in solche Einzelzellen gesperrt, die aber auch für Leute gedacht sind, die von Mitgefangenen aus welchen Gründen auch immer Misshandelt werden. Zeitweise habe ich mit dem Gedanken gespielt so eine Zelle zu beantragen, falls es Ärger mit den anderen Häftlingen gegeben hätte, aber die dort noch ätzendere Langeweile und Einsamkeit hat mich davon abgehalten.
Nach zwei Tagen allein mit meinem algerischen Freund kam ein Alkoholiker hinzu, der uns zunehmend nervte, aber zumindest einen derben Humor hatte, welcher die allgemeine Tristes auflockerte. Außerdem kam noch ein Betrüger, der Probleme mit dem Finanzamt und mit Psychopharmaka hatte. Es ist schwer Leute einzuschätzen, deren Geschichte du nicht kennst, aber mit denen du dennoch auf engstem Raum zusammen leben musst. Du beginnst schnell zu klassifizieren, weil du keine andere Wahl hast.
Ein Bodybuilder, der wegen Drogendelikten bereits 20 Monate in U-Haft sitzt, kam auch auf unsere Zelle und ich freundete mich mit ihm schnell an. Er war echt OK - ich verstand ihn zwar kaum, dennoch lachten wir zeitweise herzlich. Wir legten eine Woche lang ein 3000er Puzzle zusammen. Mit ihm zusammen absolvierte ich auch meinen ersten Einkauf im Knastladen. Über diesen kannst du alle zehn Tage Genussmittel , also Zigaretten, Essen, Saft und so weiter, Klamotten und Hygieneartikel einkaufen. Allerdings ist die Liste auf polnisch und ich brauchte seine Hilfe. Leider verließ er zwei Wochen später wieder die Zelle, weil er der einzige Nichtraucher bei uns war. Den Einkauf beim Knastladen zahlst du über dein Knastkonto, was von den Leuten draußen per Überweisung oder bar gefüllt wird. Von dem Geld werden 25 Euro vom Knast bis zu deiner Entlassung einbehalten. Du selbst hast kein Bargeld und wenn wird es bei der nächsten Zellendurchsuchung konfisziert. Allerdings hast du andere Zahlungsmittel wie Zigaretten und auch manchmal doch verstecktes Bargeld, womit du alles mögliche, zum Beispiel fabrikneue Decken, Laken, Handtücher usw. bei der Wäscheausgabe während des Duschens unter der Hand erwerben kannst.
Der Algerier wurde strafverlegt, weil er zu oft durch das Fester mit der Nachtbarzelle Gespräche führen musste. Ihm folgten zwei Polen, der eine, ein eigentlich ganz Netter, saß wegen schwerer Körperverletzung, der andere war glaube ich einfach obdachlos.
Zwei Tage nach dieser Umbesetzung der Zelle, kam endlich mein Fernseher. Ich hatte, nachdem der Katholik seinen mitnahm, versucht einen zu beantragen, aber der Sozialarbeiter meinte, das würde nur was werden wenn ich mich als „guter Schüler“ beweisen würde (was auch immer das heißt). Da die deutsche Botschaft unmittelbar darauf netterweise beim Direktor u.A. wegen des Fernsehers angerufen hatte, wurde er ganz schnell bewilligt und meine Verlobte gab den Fernseher für mich ab. Nach einer Woche technischer Kontrolle flimmerte es fleißig bei uns auf der Zelle. Mit dem Fernseher kam auch ein österreichischer Pole mit dem ich erstmalig deutsch reden konnte und ich mich sehr eng befreundete da er eine relativ liberale Einstellung besaß. Ab da ging es in meinem Gefühlsleben bergauf und ab da kann wirklich erst von Alltag geredet werden. Viele Sorgen und Ängste landeten ab da bei ihm anstatt im Tagebuch. Er versuchte sein bestmöglichstes, mich bei Laune zu halten und saß wegen übrigens wegen Betruges einer erheblichen Summe.

Q: Was hast du sonst gemacht, um die Tage rumzukriegen.

R: Schlafen, Essen, Putzen. Du suchst krampfhaft nach Beschäftigung und irgendwas findet sich immer. Am Anfang haben wir uns einen Tauchsieder aus zwei Drähten und Metallplatten gebaut. Irgendwann habe ich einen ordentlichen bekommen und wir konnten Suppen, Kaffee und alles Mögliche heiß machen. Am Tage lief die Glotze mit hauseignem DVD Kanal. Wir vertrieben uns die Zeit mit Kartenspielen und Schach, bauten uns Sportgeräte aus dem spärlichen Mobiliar und reparierten, was uns in die Finger kam. Irgendwann wird, unter diesen Umständen, auch das billigste Feuerzeug zu einem restaurationsbedürftigen Spielzeug. Ich habe einige Tage damit zugebracht, ein altes Kartenspiel nachzuzeichnen und natürlich Tagebuch geschrieben.
Dein Tag ist vorstrukturiert. Um sieben Uhr morgens ist Appell – alle stehen auf, ziehen sich an, machen das Bett und stellen sich gerade hin. Kurz darauf gibt es Frühstück. Ich vertrug das Essen nicht und beantragte beim Arzt die Diät, welche unter Anderen auch Moslems bekommen – bei mir wurde sie abgelehnt. Bis zum Mittag bist du draußen und hast deine Stunde Hofgang absolviert. Wer das nicht will, kann auf der Zelle bleiben – aber nicht allein. Falls keiner mit dir drinnen bleiben wollte, musstest du zu anderen in eine benachbarte Zelle. Es gab keine Chance, mal allein zu sein. Die kameraüberwachten Isolationszellen sind da keine Alternative. In schlechten Zeiten blieb ich auch mal vier Tage am Stück auf der Zelle.
Das mit dem Hofgang ist sowieso schizophren. Den ganzen Tag willst du eigentlich raus, kaum bist du es, willst du so schnell wie möglich wieder rein. Die Hitze dabei wahrscheinlich die größte Rolle gespielt. Draußen war es nämlich nicht viel kühler als drinnen. Einmal am Tag soll sich der Sozialarbeiter in der Zelle blicken lassen. Gekommen ist er genau einmal in den zwei Monaten.
Der Montag war immer am stressigsten, weil es der Tag zum Duschen war und du dich da durchsetzen musstest. Außerdem konntest du beim Sparziergang die staubigen Decken ausschütteln. Alle zwei Wochen bekamen wir neue Bettwäsche. Die Wochenenden waren am langweiligsten, weil da nichts passieren kann. Unter der Woche kann theoretisch Post vom Gericht oder anderen Leuten kommen, es kann Besuchstag sein, der Anwalt kann kommen oder sonst was. Am liebsten hatte ich lange Gespräche mit Österreicher oder einfach nur meine Ruhe.

Free René streetart

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Q: Wie war der Kontakt zu dem Gefängnispersonal und wie steht es mit der Solidarität unter den Gefangenen?

R: Zu den ungeschrieben Gesetzen im Knast gehört auch, keinem Angehörigen von Justiz und Polizei die Handzugeben, ihm auf die Schulter zu klopfen oder gar eine persönliche Beziehung zu irgendjemand aus dieser Gruppe aufzubauen. Nicht das ich das überhaupt vorhatte, viele von den waren noch größere Arschlöcher als die schlimmsten Mitgefangenen. Überhaupt ist der ganze Justizapparat, Polizisten, Gesetze und so weiter, verständlicherweise ziemlich unpopulär. Politische Einstellungen im Knast sind so vielschichtig wie in der Gesellschaft. Einige dort waren Anhänger der rechten Regierung, Andere schwören auf Donald Tusk von der liberalen Opposition. Einen richtigen Nazi hat sich bei mir persönlich geoutet, über den Rest kann man höchstens spekulieren.
Es gibt zwei 12 Stunden Schichten für die Schließer. Auf jeder Etage sind dauernd drei Leute und passen auf. Einer läuft rum und öffnet falls nötig die Türen. Das kommt Nachts gar nicht vor, denn dann ist es strengstens verboten die Türen ohne wirklich wichtigen Grund zu öffnen. Am Tage wird nur bei Hofgang, Besuch, Arzt, Essen, Post oder (Selbst)mord geöffnet, obgleich Ausnahmen die Regel bestätigen. Anträge an die Gefängnisleitung wie Pakete, Besuche, Arzt, Friseur, Sozialarbeiter oder die Einkäufe werden über einen Briefkasten erledigt, der an der Tür hängt und einmal am Tag gelehrt wird.
Die anderen beiden Schließer sitzen in einem kleinem Raum, beobachten die Monitore oder bringen Leute von A nach B.
Prinzipiell haben Schließer in den Zellen nichts zu suchen. Selten (alle zwei Monate) wird die Zelle auf Waffen, Bargeld, Drogen und Handys eher lasch durchsucht, bei Verdacht auch mit Spürhunden.
Durch die strukturelle Abgrenzung vom Gefängnispersonal, aber auch durch die selbst geschaffenen Regeln der Gefangenen, sind Häftlinge automatisch mehr oder weniger miteinander solidarisch. Das geht von geliehenen Klamotten, über großzügige Schenkungen und dass du einen Teil deiner Sachen (Fernseher, Klamotten, Essen) da lässt, wenn du entlassen wirst. Gefangene decken sich prinzipiell gegenseitig, übernehmen Gefälligkeiten für Leute, denen es nicht so gut geht. Du kannst theoretisch Briefe von anderen schmuggeln, welche nicht durch die Kontrolle gehen sollen, indem du sie über Besuche nach draußen, oder Mitteilungen nach drinnen weitergibst. Das ist sehr vielfältig, aber es brauch sich niemand Illusionen machen – letztendlich wollen alle da raus und jeder ist sich selbst der nächste.
Drei Leute aus Pakistan wurden zum Beispiel in ihren ersten Tagen (sie sind mittlerweile seit 27 Monaten in U-Haft) nicht an die Duschen gelassen. Jede Hofgangsgruppe, also die Insassen der Zellen, die immer zusammen Hofgang hatten, durfte einmal pro Woche duschen. Die Duschen wurden da genau 15 Minuten angemacht und wer es schaffte, sich durchzusetzen, konnte sich auch waschen. Die pakistanischen Gefangenen wurden aus rassistischen Gründen von den anderen Inhaftierten einfach nicht rangelassen. Irgendwann haben sie sich gegen diese Praxis gewehrt und waren ab dann mit die ersten, welche duschen könnten. Anderen ist es passiert, dass sie sich nur noch kurz abduschen konnten und das Wasser dann abgestellt wurde, wenn sie noch mit der Seife in den Haaren dastanden. Bei zwölf Duschköpfen für 30 Leute ist klar, dass sich das nach der Rang und Hackordnung orientiert. Die Hierarchie orientiert sich in der Regel an der Zeit, die du bereits einsitzt. Kommst du neu hinzu musst du für die anderen putzen, bist der letzte beim duschen oder auch für die Zellengenossen die Decken ausschütteln.

Q: Wie hast du die Außenwelt wahrgenommen? Du durftest nicht telefonieren und nur Besuch von Anwalt und Angehörigen empfangen. Dir waren deutsche Zeitungen verboten, die zugeschickten Bücher kamen nicht zu dir durch und dir wurde nur einmal Post ausgehändigt – wie funktioniert unter diesen Umständen die Kommunikation nach draußen?

R: Kommunikation nach außen funktioniert ganz einfach – per Zuruf an der Gefängnismauer. Liebeserklärungen, Solidaritätsbekundungen, Kinderwünsche – über eine Entfernung von 50 Meter wird mit der Außenwelt hinter der Mauer kommuniziert. Durch die 200 Hooligans der Legia Warszawa hatten wir öfter Feuerwerk und Parkplatzdiskos aus den getunten Autos ihrer Kumpels. Aber es gab auch Kommunikation von Fenster zu Fenster, die durch die dreifachen Gitter etwas behindert wurde. Zumindest Handel lässt sich so nur schwer betreiben.
Zeitungen gab es polnische Gazetten und Billigpornos. Über den Katalog der Gefängnisbibliothek bestellte ich vier englische Bücher, das war die maximale Anzahl. Irgendwann bekam ich ein paar Werke von Goethe auf polnisch, mit denen ich nichts anfangen konnte. Drei Tage vor meiner Entlassung schenkte mir ein australischer Gefangener, der wegen Menschenhandels saß, beim Hofgang fünf englische Ausgaben der Financial Times.
Ich bekam dreimal Gerichtspost. Nach fünf Wochen bekam ich einen Stapel mit 22 Postkarten und drei Briefen, die kurz nach meiner Festnahme geschickt worden waren. (Der Sozialarbeiter kam dafür persönlich vorbei und der Rest der Zelle hat gut gestaunt) Ich wusste, dass ich mehr bekommen müsste und das reichte mir schon, um mich darüber zu freuen, wie viele Leute sich um mein Wohlergehen scherten. Die restliche Post wird mir vermutlich nach dem Prozess übergeben. Die Zeitungsverbote und wenige Post wird damit begründet, dass das Gericht nur ein begrenztes Kontingent ÜbersetzerInnen hat und die Bearbeitungszeit einfach länger dauert. Selber geschrieben habe ich nur wenig, zumal du als Häftling nur zwei Briefmarken und einen Umschlag pro Monat zugeteilt bekommst.
Durch das Fernsehen habe ich vom Krieg in Nahost mitbekommen und zuletzt vom versuchten Anschlag in britischen Passagiermaschinen. Ich kann mich auch an einige Storys erinnern – wie gesagt, du beschäftigst dich mit allem was es gibt. Der polnische Staat verkauft im großen Stil vom Zoll beschlagnahmte Zigaretten. Ein Motorradfahrer durchbricht eine Polizeisperre und wird mit zehn Kugeln im Rücken gestoppt. Dann geisterte natürlich Erika Steinbach, die Vorsitzende vom Bund der Vertriebenen, öfters mit ihrer Forderung nach einem Zentrum gegen Vertreibungen - sie meint vor allem die Deutschen, die nach dem Krieg polnische Gebiete zu räumen hatten - durch die Presse. Und natürlich die „Kartoffelaffäre“: Peter Köhler von der TAZ macht sich über den polnischen Staatspräsidenten lustig.
Für mich waren die Besuche der einzige brauchbarer Kontakt nach außen. Nach den ersten neun Tagen sah ich meinen polnischen Anwalt Przemyslaw Piotrkowski erstmalig. Ich unterschrieb die notwendige Vollmacht und wir sprachen nur kurz über die Vorwürfe. Jetzt erst erfuhr ich, dass der zertrümmerte Polizeihelm am Gürtel des Beamten hing, und durch den Schlag mit einem Holzknüppel in die Hüftgegend zerstört wurde.
Am nächsten Tag kamen zwei Leute von der deutschen Botschaft, die sich nach meinen Haftbedingungen erkundigten und mir mitteilten, was alles für Leute bei ihnen anriefen, um sich über mein Wohlbefinden zu informieren. Sie sagten, dass sie nichts tun könnten und dass ich sie im Notfall unkompliziert über die Gefängnisleitung erreichen könne. Die Leute aus der Botschaft haben weiterhin einen Antrag auf den Fernseher gestellt und meiner Mutter mit einem Besuchsantrag geholfen. Das war der konsularische Beistand.
Am nächsten Tag kam dann meine Verlobte, es gab Tränen und das Treffen war sehr emotional. Der Verlust an körperlicher Nähe ist schon schlimm im Knast. Ich erfuhr endlich was draußen alles abgeht, dass zu der Zeit gerade eine Kundgebung vor der polnischen Botschaft in Berlin stattfand und wie viele Leute sich richtig reinhängten, um meine Freilassung zu erwirken. Das hat mir einiges an Anspannung genommen. Ich gab mein OK, für alles was mir zuträglich war. Irgendwann, wieder in der Zelle, kam die Einsicht, dass es meinen Status im Knast gefährden könnte, falls Solidaritätsaktionen in der polnischen Presse im Zusammenhang mit der Parade auftauchen könnten. Doch ins Fernsehen, Radio oder die Gazetten, die dort gelesen werden, haben es die Aktionen es nicht geschafft.
Meine Mutter kam nach vier Wochen und wie in solchen Situationen üblich, machen Eltern ihren Kindern Vorwürfe, egal was ihnen von anderen angetan wird.

Schwul-Lebisches Strassenfest Motzstrasse

auf dem schwul-lesbischen Strassenfest Motzstrasse

Ich rechnete mir aus, dass meine Verlobte zum nächsten Wochenende mich wieder besuchen würde und natürlich wurde ich depressiv als das gewünschte sich um ein paar Tage verschob. Eigentlich darfst du zweimal pro Monat von Angehörigen Besuch erhalten, aber es gibt immer Ausnahmen. Knapp drei Wochen nach meiner Mutter besuchte sie mich dann endlich und konnte mein Weltbild wieder zurechtrücken.
Juristisch wirklich beruhigt war ich, als der Berliner Anwalt Wolfgang Kaleck mich Ende Juli besuchte und die Prognose von zwischenzeitlich drei bis vier Jahre Haft auf Geldstrafe beziehungsweise Bewährung reduzierte. Ich war guter Dinge innerhalb der drei Monate Untersuchungshaft einen Prozess zu bekommen und beim ersten Verhandlungstag aus der Haft entlassen zu werden.

Q: Es gab allerhand Solidaritätsaktionen für dich, viele haben ihr Konto für die Kaution und die Anwälte überzogen, haben bei allen möglichen Großveranstaltungen mit Transparenten und Free-René Schildern gewedelt, Interviews gegeben, Kundgebungen veranstaltet, Unterschriften gesammelt, Briefe geschrieben, Benefizpartys gegeben und Texte produziert. Hast du davon was wahrgenommen. Wie wirkt so eine Kampagne auf diejenigen, die betroffen sind?

R: Im Knast habe ich davon nicht viel mitbekommen, nur über die Besuche. Ich bin natürlich für alles was gelaufen ist und was auch noch zum Prozess läuft dankbar und ordne das politisch in den Kampf für selbstbestimmte Sexualität ein. Meinen Namen jetzt auf Aufklebern, Plakaten, Flyern, im Internet zu lesen ist schon seltsam und mir unangenehm. Ich weiß, dass es notwendig ist eine Kampagne für eine Freilassung so aufzuziehen, um Leute politisch und moralisch in die Pflicht zu nehmen, aber unangenehm ist mir diese hervorgehobene Position schon. Ich mag individuell sein, aber ich unterscheide mich dennoch wenig von anderen, die auch nach Warschau gefahren sind und das Risiko auf sich genommen haben, verhaftet zu werden.
Gerade den Leuten, die ungesehen meiner Person für mich aktiv waren bin ich dankbar. Den Leuten in Hamburg, Köln und Leipzig, die Kundgebungen gemacht haben oder den Leuten in Greifswald, die ganz Mecklenburg-Vorpommern mit Informationen versorgten. Von „linken“ Parteien, Promis wie Nina Hagen oder Institutionen aus der lesbisch/schwulen Community wie BEFAH, Village, Intervention e.V. und Schwulenberatung Berlin erwarte ich nichts anderes, als dass sie sich zu solchen Themen öffentlich äußern. Dafür sind sie auch da und das ist ihre Politikform. Umso bedenklicher finde ich die völlige Untätigkeit des LSVD und der Grünen, die sich mit der Forderung nach sexuelle Gleichberechtigung in Osteuropa profilieren und dann, wenn es drauf ankommt, schweigen. Kaum, dass ich freigelassen wurde, hat auch der LSVD und Thomas Birk (Grüne) meine Freilassung gefordert – irgendwie absurd. Da ist mir die Basis solcher Organisationen doch lieber. Ad hoc gebildete Netzwerke von moralisch und politisch motivierten Akteuren sind es, die Leute wie mich unterstützen können und konkrete Hilfe bieten, anstatt alles nur immer weiter zu delegieren. Solidarität kostet massig Geld und verflucht viel Arbeit und dafür bin ich allen sehr dankbar, die sich da eingebracht haben. Die Chance sich darüber zu profilieren ist gering. Organisationen , die nur daran orientiert sind, können das natürlich nicht leisten.

Soliaktion auf Berliner CSD
Solidarität auf dem Berliner CSD

Jetzt bin ich wieder in Berlin und werde mit Queer Berlin, die als mein Freundeskreis das ganze in Gang gesetzt haben, das Gerichtsverfahren durchboxen, um für andere, die nicht die Kraft dazu haben, juristische Tatsachen zu schaffen.
Ich selbst nehme mich wahr als Teilnehmer der Parade in Warschau und diejenigen, die mich unterstützen, tun das zumeist aus politischen Beweggründen. Dennoch: Diese Festnahme nicht persönlich zu nehmen ist schwer, aber während der zwei Monate Haft wusste ich, dass es jede und jeden auf der Parade hätte treffen können, dessen Protestkultur nicht der Loveparade entspricht, wenn mit Eiern auf dich geworfen und auf den Transparenten deine Umerziehung gefordert wird. Als Volker Beck von den Grünen in Moskau trotz Abgeordnetenausweis was abgekommen hat, war die Presse voll davon. Wenn ich als dunkel gekleideter Teilnehmer der Parada Równości in Warschau was abbekomme, bin ich selber schuld. Alles klar. Dieses Verhältnis strukturell zu betrachten fällt den Grünen schwer, obwohl sie es am eigenen Leib erfahren haben. Wenn es in Polen so soft ist, wie sie meinen, dann wundert mich ihre Mobilisierung dahin. Bis zur Parade war nicht klar, ob wir alle in Warschau, wie angedroht, von der Polizei und Neonazis verprügelt werden. Wem soll verübelt werden, dass deshalb lieber festeres Schuhwerk eingepackt wurde?

Q: Was hat die Inhaftierung für eine Wirkung auf dein zukünftiges Handeln? Bereust du hingefahren zu sein? Fährst du nächstes Jahr wieder nach Warschau, gehst du noch auf Demonstrationen?

R: Die Vorzeichen für Warschau waren ungewiss. Alle Welt rechnete mit vielen Gegendemonstranten und einer unwilligen Polizei, welche die Parade nicht vor den Angreifern beschützen würde. Die Vorzeichen in Polen standen klar gegen die Parade. Das war der Grund für uns aus Berlin dorthin zufahren, um zusammen mit der lesbisch/schwulen Community dort gesellschaftliche Konflikte offen auszutragen, Diskussionen anzuregen und durch die Unterstützung aus dem Ausland klarzumachen, dass der Konflikt international für Aufmerksamkeit sorgt. In Warschau bot sich allerdings das Bild einer deeskalierenden Polizei und wenigen Gegendemonstranten, die zum Teil durch Eierwürfe, kleinere Schlägereien und homophobe Sprechchören auf sich aufmerksam machten. Die Parade glich zumindest an ihrer Spitze der Loveparade oder des Berliner CSD mit feiernden und glücklichen Menschen, deren Gesichter wenig angstverzerrt waren. Dennoch will ich die gewalttätigen Angriffe der Gegendemonstranten, gerade auf diejenigen, die sich nicht wehren konnten, nicht herunterspielen. Die Polizei ist dabei sehr zögerlich eingeschritten und die laute Musik und Feierstimmung hat solche Angriffe übertönt. Doch wenn es tatsächlich in dieser Situation Angriffe auf Polizeibeamte gab, dann würde ich nicht dafür den Kopf hinhalten und die zwei Monate Haft dort tatsächlich bereuen. Die Masse der Teilnehmenden war entscheidend, um Angriffe zu verhindern und dafür hat es sich gelohnt hingefahren zu sein. Wären wir mit 1000 Leuten durch Warschau gezogen hätte das Verhältnis anders ausgesehen und es wäre noch ungemütlicher geworden.

Parada Równosci 10. Juni in Warschau

Ob ich nächstes Jahr hinfahren werde, wird der Prozess gegen mich entscheiden. Im Moment konzentriere ich mich weiter auf mein Abitur und das irgendwann stattfindende Gerichtsverfahren. Ich werde wie gehabt an Demonstrationen, deren Anliegen ich unterstützenswert finde, teilnehmen.

Editorische Anmerkungen

Der Artikel  ist eine Spiegelung von http://x-berg.de/