Am 11. Mai 1972, dem Tag,
an dem die Bombenblockade Nordvietnams durch die Vereinigten
Staaten mit heftigen Bombenangriffen gegen Hanoi, die Hafenstadt
Haiphong und die Provinz Than Hoa begann, verübte die RAF durch
ein „Kommando Petra Schelm" (Petra Schelm war 1971 als
RAF-Mitglied von der Polizei in Hamburg erschossen worden) einen
Bombenanschlag auf das Hauptquartier des 5. Armeekorps der
amerikanischen Streitkräfte in der BRD und Westberlin mit Sitz
im früheren IG-Farben-Haus in Frankfurt. Ein Armeeangehöriger
kam ums Leben, 13 weitere wurden verwundet. In der
Kommandoerklärung vom 14.5.72(1)
heißt es zum Anschlag:
„Für die Ausrottungsstrategen von Vietnam sollen
Westdeutschland und West-Berlin kein sicheres Hinterland mehr
sein. Sie müssen wissen, daß ihre Verbrechen am
vietnamesischen Volk ihnen neue, erbitterte Feinde geschaffen
haben, daß es für sie keinen Platz mehr geben wird in der
Welt, an dem sie vor den Angriffen revolutionärer
Guerilla-Einheiten sicher sein können".
Der Sitz des europäischen Hauptquartiers des einflußreichsten
amerikanischen Nachrichtendienstes, der National Security Agency
(NSA), befand sich ebenfalls im IG-Farben-Haus in Frankfurt.
Dazu äußerte sich der ehemalige NSA-Agent Winslow Peck auf einer
Pressekonferenz am 23.6.76 in Frankfurt(2):
„Das Hauptquartier der NSA in Europa, das
IG-Farben-Haus, das in NSA-Kreisen unter dem Decknamen USF-798
firmiert, verfügt über einen immensen elektronischen
Spionageapparat, mit dessen Hilfe nicht nur Informationen über
den Ostblock, sondern auch über westeuropäische Regierungen
gesammelt werden.
Viele der an USF-798 angeschlossenen NSA-Stationen in
England, Italien, Griechenland, Marokko und vor allem in
Deutschland überwachen sogar die Nachrichtenwege jener
Regierungen, die mit den USA verbündet sind. Das heißt, daß
unter anderem die Kommunikation in den Bereichen der
Diplomatie, des Militärs, des Handels (Industriespionage), der
öffentlichen Anstalten und der Schiffahrt abgehört wird. Diese
Aufgabe wird mit solcher Fertigkeit und Präzision erfüllt, daß
es praktisch für keine europäische Regierung im Osten wie im
Westen möglich ist, einen Schritt zu tun, den die
amerikanische Regierung nicht erfährt.
Überall, wo amerikanische Truppen in Deutschland
stationiert sind, gibt es Stützpunkte von USF-798. Dazu kommt
noch, daß USF-798 der NSA von deutschen BND-Spezialeinheiten
und dem britischen GCHQ unterstützt wird, die beide ebenfalls
auf elektronische Spionage spezialisiert sind. Während meines
Aufenthaltes in Indochina habe ich erlebt, daß deutsche
Elektronik-Spionage-Agenten in Vietnam waren und dort der NSA
geholfen haben.
USF-798 ist nicht nur das wichtigste Geheimdienstzentrum
der USA und der Nato in Europa, sondern wurde gelegentlich
auch eingesetzt, um für andere Teile der Welt zu arbeiten. So
sind beispielsweise viele Berechnungen und
Auswertungen von Einsätzen des US-Militärs im
Indochinakrieg im IG-Farben-Haus gemacht worden".
Anschließend ging Peck auf die Schlüsselposition des
IG-Farben-Hauses im Indochinakrieg sowie innerhalb der gesamten
US-Spionage gegen den Ostblock, gegen die Verbündeten der USA,
gegen Befreiungsbewegungen in der dritten Welt sowie gegen
Wirtschaftsunternehmen, die sich in Konkurrenz zu amerikanischen
Firmen befanden, ein. Schlußfolgernd
sagte er:
„Aufgrund meiner Forschungen auf dem Gebiet des Terrors
und Gegenterrors bin ich der Ansicht, daß die Rote Armee
Fraktion eine Antwort auf die kriminelle Aggression der
US-Regierung in Indochina und die Beihilfe der deutschen
Regierung war. In dieser Hinsicht glaube ich nicht, daß man
auch nur eine der sogenannten ,Terrorismus'-Aktionen der Roten
Armee Fraktion in menschlicher oder logischer Hinsicht
vergleichen kann mit dem Terrorismus, der von den USA, in
massivem Ausmaß in Vietnam, verübt wurde. Die Bombenanschläge
auf das IG-Farben-Haus aufgrund dessen Rolle in diesem
kriminellen Krieg können unmöglich verglichen werden mit dem
Bombardement auf Laos oder dem Versuch, die Flußdeiche in
Nordvietnam zu zerstören. Die wahren Terroristen, das war
meine Regierung und nicht die Rote Armee Fraktion".
Am 12.5.72 folgten zwei weitere Bombenanschläge der RAF, bei
denen 13 Personen verletzt wurden und erheblicher Sachschaden
entstand. Sowohl der Anschlag gegen das Polizeipräsidium in
Augsburg als auch der gegen das Landeskriminalamt in München
wurden von einem „Kommando Thomas Weisbecker" der RAF
ausgeführt, das mit diesen Aktionen auf die Erschießung
Weisbeckers durch Angehörige der obigen Polizeidienststellen bei
dessen Festnahme am 2.3.72 in Augsburg antworten wollte.
Am 16.5.72 explodierte eine unter dem Auto des Bundesrichters
Buddenberg angebrachte Bombe. Buddenberg war am
Bundesgerichtshof verantwortlich für die Ausgestaltung der
Haftbedingungen für Personen, die im Zusammenhang RAF
gefangengehalten wurden. Für den Anschlag, bei dem Frau
Buddenberg verletzt wurde, hatte ein „Kommando Manfred Grashof"
der RAF die Verantwortung übernommen(3).
Am 19.5.72 wurden bei einem Bombenanschlag auf die Zentrale des
Axel-Springer-Konzems (u. a. Herausgeber von „Bild" und „Welt")
in Hamburg 34 Menschen verwundet. In der Erklärung eines
„Kommando 2. Juni" (am 2.6.67 wurde in Berlin der Student Benno
Ohnesorg erschossen) wurde u. a. mitgeteilt, daß frühzeitig
dreimal telefonisch zur Räumung des Hochhauses aufgefordert
worden war(4). Vom
Springer-Konzern wurde gefordert, „die antikommunistische Hetze
gegen die Neue Linke, gegen solidarische Aktionen der
Arbeiterklasse wie Streiks, gegen die
kommunistischen Parteien hier und in anderen Ländern" und „gegen
die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt (...), besonders
gegen die arabischen Völker, die für die Befreiung Palästinas
kämpfen", in den konzerneigenen Zeitungen einzustellen.
Schließlich erfolgte am 24.5.72 ein Bombenanschlag auf das
europäische Hauptquartier der amerikanischen Armee in
Heidelberg. Ein Gebäude, in dem sich die Computerzentrale
befand, wurde fast völlig zerstört, drei Personen wurden getötet
und sechs verwundet. Ein RAF-Kommando „15. Juli" (am 15.7.71
wurde das RAF-Mitglied Petra Schelm in Hamburg erschossen)
übernahm die Verantwortung. In der Kommandoerklärung vom 25.5.72
(5) heißt es:
„Im Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte in
Europa in Heidelbergsind gestern abend, am Mittwoch den 24.
Mai 1972 zwei Bomben mit einer-Sprengkraft von 200 Kg TNT
explodiert. Der Anschlag wurde durchgeführt, nachdem General
Daniel James, Abteilungsleiter im Pentagon, am Mittwoch in
Washington erklärt hatte: ,Für die US-Luftwaffe bleibt bei
Bombenangrif-fenkünftig kein Ziel nördlich und südlich des 17.
Breitengrades ausgenommen.
Am Montag hatte das Außenministerium in Hanoi die
Vereinigten Staaten erneut beschuldigt, dichtbesiedelte
Gebiete in Nordvietnam bombardiert zu haben.
Die amerikanische Luftwaffe hat in den letzten 7 Wochen
mehr Bomben über Vietnam abgeworfen als im Zweiten Weltkrieg
über Deutschland und Japan zusammen. Von weiteren Millionen
Tonnen Sprengstoffen ist die Rede, die das Pentagon einsetzen
will, um die nordvietnamesische Offensive zu stoppen. Das ist
Genocid, Völkermord, das wäre die .Endlösung', das ist
Auschwitz."
Über das Heidelberger Computerzentrum sagte der ehemalige
CIA-Agent K. Barton Osborne auf der im Zusammenhang mit dem
NSA-Agenten Winslow Peck zitierten Pressekonferenz:
„Da die meisten geheimdienstlichen US-Stützpunkte in der
Bundesrepublik während des Kalten Krieges eingerichtet worden
waren, benützten die amerikanischen Agenten die zur Verfügung
stehenden deutschen Einrichtungen auch während der
Vietnam-Ära. In großem Umfang wurden erfahrene Geheimdienstler
von der Bundesrepublik nach Vietnam geschleust und die hier
vormals entwickelten geheimdienstlichen Techniken wurden nach
Vietnam exportiert. Inzwischen war das hiesige Netz von
US-Einrichtungen zur Unterstützung des Kriegs in Vietnam
herangezogen worden, darunter die Computer-Anlage der
logistischen Kommandostelle der US-Armee in Heidelberg,
mittels derer der Bombennachschub für die gewaltigen
Flächenbombardierungen von Zivilgebieten Südvietnams und
Deichen des Roten Flusses in Nordvietnam berechnet wurden"(6).
Die „Mai-Offensive"7 der RAF, von ihr als Antwort auf die
Wiederaufnahme der amerikanischen Luftangriffe gegen Vietnam
gedacht, löste eine zentralgesteuerte Hetzjagd auf die
Mitglieder der RAF aus, an der mehr als 130 000 Polizisten und
Staatsschutzbeamte, unterstützt von
westdeutschen und amerikanischen Armee-Einheiten, teilnahmen. Am
2. Juni 1972 wurden Jan Carl Raspe, Holger Meins und Andreas
Baader festgenommen, am 7. Juni Gudrun Ensslin und am 15. Juni
Ulrike Meinhof.
Anmerkungen
1) RAF. Texte, Bo Cavefors. Malmö 1977, S.
448
2) Ebenda, S. 496-502
3) Aus der Kommandoerklärung vom 20.5.72; RAF, a.a.O., S. 449:
„(...) Buddenberg, das Schwein, hat Grashof zu einem Zeitpunkt
vom Krankenhaus in die Zelle verlegen lassen, als der Transport
und die Infektionsgefahr im Gefängnis noch
lebensgefährlich für ihn waren. Er hat den Mordversuch an
Grashof, Bullen nicht gelungen ist. an dem wehrlosen Grashof
wiederholt. Buddenberg das Schwein, ist
dafür verantwortlich, daß Carmen Roll narkotisiert worden
ist,' um sie zum Reden zu bringen. Der
voraussehbare Verlauf der Narkose hat
bewiesen, daß das ein Mordversuch war. Buddenberg, das Schwein,
kümmert sich einen Dreck um geltende
Gesetze und Konventionen. Die strenge Isolation,
in der die Gefangenen gehalten werden, um sie psychisch
fertig zu machen: Einzelhaft,
Einzelhofgang. Redeverbot mit Mitgefangenen, permanente
Verlegung Arreststrafen, Beobachtungszelle, Briefzensur.
Unterschlagung von Briefen Büchern,
Zeitschriften, die Maßnahmen, mit denen sie physisch
fertiggemacht u, den: grelle Zellenbeleuchtung nachts, häufiges
Wecken und Durchsuchen. Fesselung beim
Hofgang, körperliche Mißhandlungen - das sind nicht die Schikanen
von kleinen, frustrierten Gefängniswärtern, das sind Buddenbergs
Anordnungen, um die Gefangenen zur
Aussage zu erpressen. Das ist der bereits institutionalisierte
Faschismus in der Justiz. Das ist der Anfang von Folter (...)".
4) RAF, a. a. O., S. 450: „Gestern, am
Freitag den 19. Mai um 15 Uhr 55 sind zwei Bomben im
Springerhochhaus in Hamburg explodiert. Weil trotz rechtzeitiger
und eindringlicher Warnungen das Haus nicht geräumt worden ist,
sind dabei 17 Menschen verletzt worden. Um 15 Uhr 29 ist unter
der Nummer 3471 die erste Warnung durchgegeben worden mit der
Aufforderung, das Haus wegen Bombenalarm binnen 15 Minuten zu
räumen. Die Antwort war: Hören Sie auf mit dem Blödsinn. Es
wurde aufgelegt. Zweiter Anruf um 15 Uhr 31: Wenn Sie nicht
sofort räumen, passiert etwas Fürchterliches. Aber die
Telefonistinnen hatten offenbar Anweisung, solche Anrufe nicht
zu beachten. Der dritte Anruf um 15 Uhr 36 ging an die Bullen:
Sorgen Sie, verdammt nochmal, dafür, daß endlich geräumt wird.
Weil der Springerkonzem die Tatsache, daß er gewarnt worden ist,
nicht unterschlagen kann, verdreht er die Nachricht: Es sei nur
ein Anruf gewesen und der sei zu spät gekommen. Zwei
Telefonistinnen und die Bullen können bestätigen daß die
Springerpresse einmal mehr lügt. Springer ging lieber das Risiko
ein. daß seine Arbeiter und Angestellten durch Bomben verletzt
werden als das Risiko, ein paar Stunden Arbeitszeit, also Profit
durch Fehlalarm zu verlieren. Für die Kapitalisten ist der
Profit alles, sind die Menschen, die ihn schaffen, Dreck. - Wir
bedauern, daß Arbeiter und Angestellte verletzt worden sind."
5) Nicht veröffentlicht
6) RAF, a. a. O., S. 503-505
7) Peter Brückner. Ulrike Meinhof und
die deutschen Verhältnisse. Wagenbach. Berlin 1977, S. 154.