Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe
 
 
von
Max Beer
7-8/07

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VII. WIRTSCHAFT UND POLITIK (1850—1880)   Zur Kapitelübersicht

1. Das Zeitalter des Liberalismus.

Nach der Niederwerfung der Volkserhebungen der Jahre 1848/49 setzte überall die Gegenrevolution ein. In Frankreich saß Napoleon III. auf kaiserlichem Throne und gewann für sich die Bourgeoisie durch seine außenpolitischen Unternehmungen (Krimkrieg, italienischen Krieg, Mexiko) und Niederhaltung des Proletariats; in Großbritannien wurde die Arbeiterklasse in den mehr und mehr von der trügerischen Idee des Wirtschaftsfriedens beherrschten Trade-Unions politisch zum Anhängsel der Liberalen Partei; in Preußen wurde 1849 das Dreiklassenwahlrecht eingeführt, die Presse geknebelt (die „Ära Manteuffel"), die Staatswissenschaft durch F. J. Stahl, einen zum Christentum bekehrten Juden, in autoritäre, monarchistisch-christliche Bahnen gelenkt; mit Hilfe des Zaren Nikolaus I. warf Österreich die Ungarn nieder und stellte den vormärzlichen Deutschen Bund wieder her. Die gegenrevolutionäre Pause währte jedoch nur etwa ein Jahrzehnt (1849—1859). Die seit 1850 mächtig einsetzende kapitalistische und nationale Entwicklung fegte die Dämme hinweg, die die reaktionären Mächte errichtet hatten. Die Goldentdeckungen in Kalifornien und Australien, die Silberentdeckungen in Mexiko, der Ausbau der Eisenbahnen, Telegraphen und Dampfschiffahrt, der Aufschwung der Montanindustrie, des Fabriksystems, der Banken und Börsen, schließlich der Siegeszug der Naturwissenschaften: der Chemie, Physik (Elektrizität) und der Biologie (Charles Darwin), sowie das gleichzeitige Wiedererwachen der nationalen Bestrebungen in Italien, Deutschland, Polen und in den Balkanländern, beschleunigten die Pulse des sozialen und politischen Lebens in West- und Mitteleuropa; ja sogar in Rußland machten sich liberale und sozialreformerische Tendenzen bemerkbar. Hinzu kamen die Niederlage Rußlands im Krimkriege (1854/55) und Österreichs im Italienischen Krieg (1859), also der damaligen Hauptstützen der europäischen Reaktion. Die Jahre 1860 bis 1870 standen bereits im Zeichen des Liberalismus. In Großbritannien feierten J. S. Millund William E. Gladstone politische Triumphe; in den Vereinigten Staaten von Amerika tobte ein Bürgerkrieg (1861—1865) für nationale Einheit und für Sklavenbefreiung, aus welchem der liberale Lincoln als Sieger hervorging; in Frankreich erhob die bürgerlichrepublikanische Opposition ihr Haupt und brachte Napoleons Thron ins Wanken; in Preußen organisierte sich das liberale Bürgertum im National verein als Opposition gegen Bismarck, der schließlich durch die innere Politik sowie durch seine Kriegspolitik gegen Österreich (1866) gezwungen wurde, eine liberalisierende Politik (allgemeines Wahlrecht, 1867) zu treiben; in Rußland wurde 1861 die sogenannte Bauernbefreiung in Angriff genommen und eine langwierige, von Vor- und Rückstößen erfüllte revolutionäre Periode eingeleitet; Japan trat aus seiner mittelalterlichen Abgeschlossenheit heraus und eröffnete sein Zeitalter der Aufklärung und der modernen Wirtschaft.

Dies Jahrzehnt von 1859—1869 war in vielem entscheidend für die künftige Entwicklung Europas. Es brachte die Hauptwerke von Marx und Darwin, den Durchstich des Suezkanals, die politische Befreiung der Negersklaven in Nordamerika, die ersten liberalen Reformen in Rußland, die Auflösung des Deutschen Bundes als Folge des Krieges 1866, Aufhebung der Koalitionsverbote und das allgemeine Wahlrecht in Deutschland, das Wahlrecht der städtischen Arbeiter in Großbritannien, die schicksalsschweren Anfänge der nationalen Einigung Deutschlands und Italiens sowie das Erwachen Japans, brachte uns auch die ersten nationalen und internationalen Versuche des festländisch-europäischen Proletariats, sich als Klasse zu organisieren und den Kampf für eine neue Wirtschaftsordnung einzuleiten.

2. Übergang zum Imperialismus und Sozialismus.

Das Jahrzehnt 1869—1879 sah die Vollendung des liberalen Zeitalters. Der Sieg Preußen-Deutschlands über Frankreich (1870/71); die massenhaften Gründungen von Geschäften und Unternehmungen in Industrie, Handel, Verkehr und Finanz; die Depression in der Landwirtschaft, teils infolge der Industrialisierung, teils infolge der amerikanischen Konkurrenz; die relative Überproduktion in Fabrikwaren, führten bald zu einer langwierigen wirtschaftlichen und politischen Krisenperiode, die nur durch wenige Prosperitätsjahre unterbrochen wurde. Sie dauerte bis in die neunziger Jahre hinein und war eine der Hauptursachen der Einleitung der imperialistischen Periode — des Dranges nach überseeischen Märkten, nach Aufteilung der nichtkapitalistischen Länder in Afrika und Asien. Sie war auch eine der Hauptursachen des Wiedererwachens der sozialistischen Bewegung in West- und Mitteleuropa. Gegen Ende der siebziger Jahre war der Glanz des Liberalismus verblaßt. Neue Bedürfnis se und neue Ideen drängten sich in den Vordergrund: Staatsregulierung, Schutzzoll, Kolonialpolitik, — kurz, der Imperialismus als Politik der herrschenden Klassen, Sozialismus als Ideal und Programm der Arbeiterklasse. Europa sah sich plötzlich in den Stromschnellen einer Umwälzung, die der Liberalismus nicht meistern konnte. Folgende statistische Ziffern, die teils auf fachmännischen Schätzungen, teils auf amtlichen Zählungen beruhen, mögen die Grundlinien der Umwälzung im Zeitabschnitt 1850 bis 1880 veranschaulichen.

An Dampfkraft (Eisenbahnen, Schiffahrt, Fabriken) wurden verwendet (in Pferdekräften):

1) Vereinigte Staaten von Amerika.

1) 1 Pfund Sterling = 20 Goldmark.
2) Die statistischen Ziffern sind sämtlich Mulhalls Dictionary of Statistics, Ausg. 1899, entnommen.

Die Weltausstellung in London 1851, Paris 1855, London 1862, Paris 1867, Philadelphia 1873 veranschaulichten die enormen Fortschritte der Industrie.

Merkwürdig ist die Zunahme der Bevölkerung. Zu keiner Zeit der Menschheitsgeschichte war sie so rapide wie im 19. Jahrhundert. Sie war die Folge der besseren Hygiene und der leichteren Lebensmöglichkeiten, hervorgerufen durch die Fortschritte der Naturwissenschaften (Mechanik, Wärme, Elektrizität, Chemie), der Verkehrstechnik, der Anwendung der Naturwissenschaft auf Industrie und Landwirtschaft. Die Bevölkerungszunahme kam hauptsächlich den Städten zugute. Die beispiellosen Menschenansammlungen in den Industrie- und Handelszentren erleichterten den Gedankenaustausch, und alle von dieser kapitalistisch-industriellen Entwicklung erfaßten, hin-und hergeschleuderten Menschen machten sich Gedanken über das neue, in unerhört schnellem Tempo sich bewegende Gesellschaftsleben, das manche gesellschaftliche Schichten in die Höhe hob, andere in den Abgrund stürzte. Fortschritt, Entwicklung, Bewegung und Umwälzung wurden zu Schlagworten der Massen. Hegel, Darwin, Marx wurden zu Standarten großer geistiger und sozialer Bewegungen. Das menschliche Denken, das im Mittelalter religiös, in der Neuzeit mathematisch-mechanisch war, wandte sich in der neuesten Zeit immer stärker biologischen und sozialen Problemen zu. Religion, Mechanismus, Organismus, oder Gott, Natur, menschliches und gesellschaftliches Leben sind die Überschriften der Hauptkapitel in den Annalen der europäischen Menschheit seit dem vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung.

Editorische Anmerkungen

Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, mit Ergänzungen von Dr. Hermann Duncker, S.554 - 562

Der Text ist ein OCR-Scan by red. trend vom Erlanger REPRINT (1971) des 1931 erschienenen Buches in der UNIVERSUM-BÜCHEREI FÜR ALLE, Berlin.

Von Hermann Duncker gibt es eine Rezension dieses Buches im Internet bei:
http://www.marxistische-bibliothek.de/duncker43.html