Parallelgesellschaften: Was genau bedeutet das?

von
Hans Müller
7-8/07

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onlinezeitung

Seit Jahren propagieren die bürgerlichen IdeologInnen das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft und ihre Unvereinbarkeit mit der deutschen Nationalidentität. Die Mehrheitsgesellschaft wirft der Migration vor, dass sie sich in Parallelgesellschaften abschottet und deshalb die Verantwortung für ihr Schicksal trägt.

Wir wollen hier nicht den rassistischen Hintergrund dieser Argumentation analysieren, obwohl sicher auch diese Auseinandersetzung sehr wichtig ist. Vielmehr interessiert uns die Frage, ob es wirklich Parallelgesellschaften der Migration gibt, die zu einer tiefen Spaltung dieser Gesellschaft führen? Allerdings ist unsere Argumentation politisch orientiert, die vielfältigen sozialen und rechtlichen Fragen, die für das alltägliche Leben der MigrantInnen äußerst wichtig sind, werden ausgeklammert, obwohl wir ihre sozialpolitische Relevanz nicht verkennen.

Die Pseudofrage der Integrationsbereitschaft

Die so genannte Integrationsunwilligkeit der MigrantInnen wurde immer wieder als das angeblich zentrale Problem des Zusammenlebens mit den Deutschen verkauft. Die in regelmäßigen Abständen stattfindende Verschärfung des Ausländergesetzes ging immer Hand in Hand mit einer Verleumdungskampagne über die angeblich fehlende Integrationsbereitschaft der ausländischen Bevölkerung einher. Doch eine seriöse Betrachtung der gesamten Problematik zeigt ein ganz anderes Bild. Die Gastarbeiterbewegung Ende der 50er Jahre war ausschließlich eine Anwerbung von Arbeitskräften. Das Projekt sollte eine kurze Lebensdauer haben, eine Integration der Gastarbeiter in die bundesrepublikanische Gesellschaft war nicht beabsichtigt. Es wurde absichtlich auf jede Form einer rechtlichen Absicherung verzichtet. Das deutsche Kapital wollte nur das brachliegende Arbeitskräftepotential der unterentwickelten Länder (vor allem im mediterranen Raum) ausnutzen und die industrielle Reserve-Armee in Deutschland entsprechend ausfüllen.

Auch die MigrantInnen hatten sich damals auf einen kurzen Aufenthalt eingestellt. Aber es kam anders. Die Gastarbeitermigration, die sich hauptsächlich aus dem Lande rekrutierte, machte innerhalb kürzester Zeit einen Klassenaufstieg durch und entwickelte ein besonderes Gespür für Klassensolidarität mit den deutschen KollegInnen. Spätestens mit dem Anwerbestopp wurde den MigrantInnen 1. und 2. Generation klar, dass ihr Aufenthalt in der BRD kein kurzfristiges Lebensprojekt war. Erst jetzt wurde ihnen bewusst, dass Menschen nicht immer wieder auswandern können. Selbst eine Rückkehr in die Heimat wäre im Prinzip nichts anderes als eine neue Auswanderung gewesen.

Zu diesem Zeitpunkt ist die Ausländerfeindlichkeit nicht mehr nur emotional geprägt, sondern sie fängt an, politisch motiviert zu sein. Bei der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes 1972 werden die ausländischen KollegInnen formal gleichgestellt. Der Gewerkschaftsbürokratie war inzwischen klar geworden, dass sie diese Menschen nicht mehr links liegen lassen konnte, wollte sie in der Zukunft eine Spaltung der Belegschaften in den Betrieben vermeiden. Die Reform der Betriebsverfassung hatte außerdem für das Schicksal der MigrantInnen eine Signalwirkung. Diese formale Gleichstellung änderte auf jeden Fall die Sichtweise für die Existenz der hier lebenden Migration und läutete eine neue Ära ein. Die sozial und politisch engagierten ArbeitsmigrantInnen nahmen den Kampf gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus auf und erarbeiteten eine Reihe von qualifizierten Forderungen, die alle auf die politische, rechtliche und soziale Gleichbehandlung unabhängig von ihrer kulturellen und nationalen Identität abzielten.

Gewerkschaftliche Organisierung und Solidarität

In den meisten soziologischen Studien über die Gastarbeitergeneration wird die gewerkschaftliche Organisierung und die faktische Solidarität mit der hiesigen ArbeiterInnenbewegung kaum erwähnt. Dabei hat diese Frage nicht nur eine spezifisch organisatorische Relevanz, sondern auch eine gesellschaftliche Tragweite von zentraler Bedeutung. Für die MigrantInnen war der Arbeitsplatz der Ort, wo sie zwangsläufig mit den Einheimischen zusammen kamen. Die anderen Lebensräume waren durch eine unsichtbare Trennwand abgeschottet. Am Arbeitsplatz jedoch konnten sie zwischenmenschliche Kontakte mit den deutschen KollegInnen knüpfen, gemeinsame Erfahrungen austauschen, sie um Rat und Unterstützung bitten. Die klassenpolitische Solidarität ergab sich nicht zuletzt aus diesen praktischen Erfahrungen. Die ausländischen KollegInnen erkannten aber auch, dass die Gewerkschaften im Prinzip der genuine Bündnispartner im Kampf gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus ist. Innerhalb dieser Bewegung war es möglich, für ihre Sache die deutschen KollegInnen gewinnen. Im Gegenzug beteiligten sie sich aktiv und engagiert an den gewerkschaftlichen Kämpfen. Die hier lebende Migration hat weder eine gewerkschaftliche noch eine politische Streikbrecherfunktion übernommen. Die Bedeutung dieser Tatsache kann nicht oft genug betont werden, denn es geht nicht um eine gewerkschaftsinterne Angelegenheit, sondern um die Tatsache, dass diese soziale Gruppe niemals spalterisch eingesetzt werden konnte. Eigentlich kann es keinen besseren Beweis für ihre Integrationswilligkeit und -fähigkeit geben.

Gelungenes Ablenkungsmanöver

Die gesamte Debatte über die Integration ist ein gelungenes Ablenkungsmanöver. Die exzessive Betonung der kulturellen und ethnischen Unterschiede und die vermeintliche Dominanz einer Leitkultur sollen falsche Identitätsmuster schaffen und rassistische Ressentiments schüren. Doch die gesellschaftliche Realität beweist, dass die Arbeitsmigration längst in die hiesige Gesellschaft integriert ist. Die Generation der ausländischen Jugendlichen bietet ein charakteristisches Beispiel dafür. Die meisten von ihnen wachsen zweisprachig auf und beherrschen sehr wohl die deutsche Sprache, wobei es wirklich uninteressant ist, ob sie sie akzentfrei und stilistisch sicher sprechen. Sie sind in diesem Land heimisch und haben keine Probleme, den sozialen und kulturellen Alltag zu bewältigen. Die vorhandenen Defizite in Bildung und Beruf gehen auf das Konto einer schulischen und beruflichen Benachteiligung, die absichtlich betrieben wird. Die Unzulänglichkeiten haben nichts mit der Integrationswilligkeit der ausländischen Jugendlichen zu tun, die unweigerlich ein fester Bestandteil dieser Gesellschaft sind. Trotzdem bekommen sie die volle Wucht der Diskriminierung und Unterprivilegierung zu spüren. Da aber der Begriff der Integration ziemlich diffus ist, setzen die bürgerlichen Vordenker bei der Erlernung der deutschen Sprache an, die sie entsprechend scharf sanktioniert sehen wollen. Wer nicht pariert, soll draußen bleiben. Weder der soziale Hintergrund noch das Bildungsniveau der Menschen spielen dabei eine Rolle. Die Problematik der Zweisprachigkeit und der sich daraus ergebenden Schwierigkeiten wird bewusst ausgeblendet – leider können wir hier nicht näher auf diesen Punkt eingehen. Wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Erwachsenenbildung und aus Alphabetisierungsprojekten, die eine humane und der Lebenssituation adäquate Sprachkompetenz ermöglichen, bleiben unberücksichtigt. Unsinnige, bürokratische, rücksichtslose Sprachtests sollen über menschliche Schicksale entscheiden. Doch das Ganze ist kein Missgriff, sondern Teil der Systemlogik. Der primäre Zweck liegt nicht in der Spracherlernung. Das Ganze ist einer der vielen Selektionsmechanismen mit Alibifunktion.

Vorleistungen längst erbracht

Wir behaupten, dass die ausländischen KollegInnen schon seit langem substantielle Integrationsvorleistungen erbracht haben, die von dieser Gesellschaft prinzipiell nicht honoriert werden. Weder die Sprachprobleme noch die kulturelle Andersartigkeit sind die entscheidenden Ursachen ihrer Gettoisierung, sondern die aggressive Diskriminierung, der sie in all diesen Jahren ausgesetzt sind. Leider hat die so genannte Mehrheitsgesellschaft ihren latenten Rassismus, ihre Wagenburgmentalität und ihre irrealen Ängste vor Überfremdung nicht überwunden. Tatsachen wie Diskriminierung, Benachteiligung, soziale Isolierung und tätliche Übergriffe verschwinden aus dem Blickwinkel. Es ist nicht von ungefähr, dass alle bürgerlichen Parteien „Integrationskonzepte“ formulieren, die nur strikte Pflichten für MigrantInnen vorsehen. Von einer Gleichstellung oder gar von greifenden Maßnahmen gegen ihre permanente Benachteiligung ist nirgendwo die Rede. Die Migration ist eine gesellschaftliche Gruppe ohne politische Mitwirkungsrechte. Doch genau dieses Ziel verfolgt die bürgerliche Politik und ihre chauvinistischen IdeologInnen.

Der wichtigste Aspekt in dieser Diskussion ist die Tatsache, dass die Bevölkerungsgruppe der MigrantInnen seit langem versucht, aktiv an dem politischen und sozialen Leben teilzunehmen. Die bewussten Teile der Migration führen seit langem einen qualifizierten Kampf um Anerkennung und Gleichberechtigung. Ihr Engagement gegen Rassismus und Diskriminierung ist ein wesentlicher Teil der gesamtgesellschaftlichen Emanzipationskämpfe in diesem Land. Dieses Engagement dürfte eigentlich die Frage nach der Integrationsbereitschaft hinreichend beantworten.

Bündnisorientierter, übergreifender Kampf

Das prägende Merkmal der Gastarbeitergeneration war die herrschende Rechtsunsicherheit. Das Ausländergesetz verurteilte AusländerInnen (und verurteilt immer noch vor allem diejenigen, die nicht aus der EU kommen) zu Menschen ohne Rechte und Aufenthaltssicherheit. Dieser Umstand machte jede mittelfristige Lebensplanung unmöglich. Auf der einen Seite hatten sie mit der sozialen Isolation und der alltäglichen Diskriminierung zu kämpfen, auf der anderen Seite waren sie mit der aufenthaltsrechtlichen Situation ständig konfrontiert. Die Aufnahmegesellschaft war eine unüberwindliche Festung, die ihnen keinen Eintritt erlaubte. Sie sahen ihre einzige Chance in der Schaffung von sozialen und politischen Netzwerken innerhalb der eigenen Community. Menschen aus demselben Land und Kulturkreis konnten gemeinsam viel leichter die alltäglichen Schwierigkeiten in der Fremde bewältigen. Dennoch hat die Arbeitsmigration in den ersten Jahrzehnten einen bündnisorientierten und ethnisch übergreifenden Kampf gegen die Ausländerfeindlichkeit geführt. Es gab eine rudimentäre Identifikation mit dem Schicksal der ArbeitsmigrantInnen und es herrschte eine entsprechende solidarische Haltung unter den verschiedenen ethnischen Gruppen.

Zusammenführung statt Rückkehr

Ohne eine gesicherte Lebensperspektive blieb für diese Menschen die Rückkehroption eine reelle Auswahlmöglichkeit und beeinflusste entsprechend ihre Entscheidungen. Es dauerte ziemlich lange, bis ihnen klar wurde, dass eine Rückwanderung extrem schwierig war. Inzwischen hatten sich auch die Rahmenbedingungen einigermaßen geändert. Das Ausländergesetz wurde zwar immer wieder verschärft und mit dem Anwerbestopp waren die Grenzen undurchlässig geworden. Jedoch war ihre Situation nach all den Jahren sicherer geworden. Nach 2 oder 3 Jahrzehnten stand nicht mehr die Rückkehr als Alternative im Mittelpunkt ihrer Lebensperspektive, sondern die Familienzusammenführung. Neben der aufenthaltsrechtlichen Fragen galt es auch, das praktische Leben in Deutschland zu organisieren. Ein gewisser Pragmatismus Hand in Hand mit einer Entradikalisierung hatte eingesetzt. Die soziale Ausgrenzung versperrte ihnen und vor allem ihren Kindern die Wahrnehmung von Aufstiegschancen. Dagegen half ihnen die soziale Vernetzung bei der Lebensplanung innerhalb der eigenen ethnischen Gruppe weiter. Unter dem Druck der Diskriminierung fanden sie Schutz und teilweise auch Problemlösungsmöglichkeiten in der eigenen Community. Wir möchten beispielsweise die Hilfestellung bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, bei rechtlichen Fragen, bei der Kindererziehung, beim Familiennachzug, usw. erwähnen.

Der Prozess der Ethnisierung

Das ganze Phänomen wird durch eine weitere Entwicklung verstärkt. Mitte der 80er Jahre beginnt eine dritte Phase der Migrationsbewegung. Menschen aus der Dritten Welt müssen aus bloßen Überlebensgründen in die hochindustrialisierten, reichen Länder flüchten. Die Menschen ohne Papiere heizen das populistische Klima weiter an. Parallel dazu kommt es zu einer weiteren Segmentierung innerhalb der bereits hier lebenden Arbeitsmigration. Die Menschen aus den Ländern der EU erhalten einen besseren Aufenthaltsstatus, was ihre Situation spürbar entschärft und den Solidaritätsgeist untereinander schwächt. Notgedrungen schreitet der Prozess der Ethnisierung fort. Jede nationale Gruppe trachtet danach, ihre eigene Situation zu verbessern, denn das scheint leichter zu bewerkstelligen als der ideologische Kampf nach Gleichberechtigung für alle MigrantInnen in diesem Land. Übrigens ist das keine neue Erscheinung. Diesen Ethnisierungskurs haben auch die verschiedenen ethnischen Minderheiten in den klassischen Einwanderungsländern durchgemacht.

Quellen des Ethnisierungskurses

Der Ethnisierungskurs wird aus verschiedenen Quellen gespeist. Der erste wichtige Bestimmungsgrund ist die rassistisch motivierte Diskriminierung und soziale Ausgrenzung dieser Menschen. Die feindliche Umwelt und soziale Isolation zwingt die MigrantInnen regelrecht auf ihre kulturelle Identität zurückzugreifen – und dies oft auf eine übertriebene Art und Weise. Zumal kein Mensch seine ethnische und kulturelle Identität verleugnen kann. Genau das aber verlangt die rassistische Assimilationspolitik der bürgerlichen Parteien. Sie will diese Menschen dazu bringen, ihre eigene Muttersprache und ihre eigene Identität aufzugeben zugunsten einer fadenscheinigen Integration im Sinne einer Einschmelzung in die einheimische Mehrheitsgesellschaft – daher auch der Ruf nach einer für alle verbindlichen „Leitkultur“. Wegen seiner tiefen Intoleranz empfindet der normale Durchschnittsbürger die „Andersartigkeit“ der ausländischen Bürger und Bürgerinnen als eine bedrohliche „Parallelgesellschaft“, die ihm seine Kultur und Identität streitig macht. Wir haben es hier mit einer Entsolidarisierungslogik des bürgerlichen Systems zu tun. Diese Aversion der Mehrheitsgesellschaft verstärkt wiederum den Rückgriff auf ein überzogenes Identitätsbedürfnis der verschiedenen Communities. Ein weiterer Grund für diese Ethnisierungserscheinungen ist die Tatsache, dass dieses Konzept der Bildung und Aufrechterhaltung einer ethnischen Gemeinde als Überlebenschance zumindest vorläufig aufgeht. Trotz aller negativen Erscheinungen (konservatives Bild, Betonung der nationalen Eigenschaften, Überbewertung der kulturellen Rituale und Gepflogenheiten, partielle Entsolidarisierung mit der restlichen Migration) bietet dieses Umfeld einen Schutzraum gegen die massive Xenophobie der angeblichen Aufnahmegesellschaft. All das, was ihnen die deutsche Gesellschaft vorenthält (berufliche Chancen, Bildung, Karriere, soziales Leben und Selbstverwirklichung), können sie jetzt in ihren eigenen Reihen finden. Das Funktionieren dieses Konzeptes verfestigt die Dynamik dieser „Rückbesinnung“ und reproduziert kontinuierlich eine Selbstrechtfertigung. Die Forderung nach einer homogenen Gesellschaft mit nur einer gültigen „Leitkultur“ bewirkt genau das Gegenteil: die Bildung einer Ethnizität als Identitätsmuster, die das Überleben der Ausgegrenzten erlaubt.

Partei ergreifen

Inzwischen leben in Deutschland ca. 3,2 Millionen Muslime. Das ist ein gefundenes Fressen für die Populisten und Scharfmacher, die auf einmal die Unvereinbarkeit der islamischen Religion mit den europäischen Werten verkünden. Die Debatte wird verschärft. Die bürgerliche Ideologie stellt diese Gruppe als eine abgeschottete Subkultur dar. Die Mehrheitsgesellschaft verlangt von diesen Menschen die Aufgabe ihrer Religion aus einer tief rassistischen Motivation. Mehr denn je lehnen sie in dieser Frage jede Form eines kulturellen und religiösen Pluralismus ab. Dieser Umstand zwingt uns regelrecht, für die muslimische Migration und ihr Recht auf Ausübung ihrer eigenen Religion eindeutig und aktiv Partei zu ergreifen. Zwar treten wir für die kompromisslose Trennung zwischen Staat und Kirche ein und vertreten einen offensiv atheistischen Standpunkt, trotzdem sind wir der Meinung, dass keine Gesellschaft das Recht haben kann, andere Menschen insbesondere Minderheiten dazu zu zwingen, ihre eigenen religiösen Überzeugen zu verleugnen.

Natürlich wird die Problematik um so schwieriger, wenn die Rechte und die Lage der Migrantinnen ins Spiel kommt. Unsere Positionierung für die bedingungslose und sofortige Gleichberechtigung der Musliminnen hat eine strategische Qualität, wir können von diesem Standpunkt auch nicht zeitweise abrücken. Das macht deutlich, dass wir einen zweigleisigen Kampf führen müssen, auf der einen Seite verteidigen wir das Recht der Muslime und Musliminnen auf eine unbehinderte Ausübung ihrer Religion, auf der anderen Seite kämpfen wir ohne irgendwelche Zugeständnisse für die Gleichberechtigung der Migrantinnen. Aber wir lassen uns auf keine Aktionseinheit mit konservativen Kräften ein, die scheinheilig gegen das frauenfeindliche Bild des Islams wettern, aber in Wirklichkeit die Entrechtung und Diskriminierung der Migration betreiben.

Zeitliche Dimension

Doch diese idealisierte Rückbesinnung auf die eigenen kulturellen und ethnischen Werte hat eine zeitliche Dimension. Mit der kommenden Generation könnte ein allmählicher Prozess der Abnabelung einsetzen, denn die nächste Generation wird sich sukzessiv von ihrer nationalen Herkunft in dem Sinne entfernen, dass sie wieder nachdrücklicher soziale Aufstiegschancen und eine gleichberechtigte Behandlung von der hiesigen Gesellschaft einfordert. Doch dieses Generationsproblem verstärkt wiederum den Ethnisierungskurs. Weil das Konzept im Augenblick erfolgreich zu sein scheint, fürchtet die Community den Verlust ihrer Identität und versucht dagegen zu steuern.

Volle rechtliche, soziale und politische Gleichstellung!

Doch trotz alledem ist die zentrale Forderung der Migration immer noch die soziale und politische Teilhabe am Leben dieser Gesellschaft. Der Ethnisierungskurs ist hauptsächlich eine Antwort auf die Gettoisierung und rassistisch motivierte Diskriminierung. Die MigrantInnen sind weder abgeschottete Subkulturen noch Parallelwelten. Es ist vielmehr die Mehrheitsgesellschaft, die sich abschottet und diese Menschen mit einer national-völkischen Argumentation ausgrenzt. Die kulturellen und ethnischen Unterschiede dürfen niemals ihre soziale und politische Entrechtung rechtfertigen. Daher kann die zentrale Ausrichtung eines emanzipatorischen Kampfes nur lauten: rechtliche, soziale und politische Gleichbehandlung der Migrantinnen bei Wahrung ihrer kulturellen und ethnischen Identität. Der Begriff „rechtlich“ bedeutet die Abschaffung des Ausländergesetzes und auf Antrag die Erteilung der deutschen Staatsangehörigkeit ohne weitere Vorbedingungen (vor allem ohne Verlust der ursprünglichen Staatsbürgerschaft). Unter sozialer Gleichberechtigung verstehen wir den Kampf gegen jede Form der Diskriminierung und der rassistischen Terrorisierung. Der dritte Begriff steht für die Einräumung der vollen politischen Bürgerrechte unabhängig davon, ob diese Menschen im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit sind. Es bleibt den MigrantInnen überlassen, ob und wie weit sie sich mit dem eigenen kulturellen Hintergrund identifizieren.
 

Editorische Anmerkungen
Wir spiegelten den Artikel aus der Zeitschrift AVANTI von
http://www.rsb4.de/index.php?option=com_content&task=view&id=2489&Itemid=131