Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

NICOLAS SARKOZY IN ALGIER
„Ich lieb’ Dich nicht, Du liebst mich nicht, dadada; lass uns übers Geschäftliche reden?“
 
7-8/07

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Der Freundschaftsvertrag zwischen uns ist tot, es lebe unsere unverbrüchliche Freundschaft: Ungefähr so lässt sich die Botschaft treffend zusammenfassen, die der neue französische Präsident Sarkozy im Juli in Algier verbreitete. „Auf Besuch in Algier beerdigt Nicolas Sarkozy den Freundschaftsvertrag zwischen Frankreich und Algerien“: So titelte die liberale Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’ am 12. Juli dieses Jahres.  

Er sei „weder gekommen um zu verletzen, noch um sich zu entschuldigen, sondern als Freund“, zitierte die Zeitung ferner Sarkozy. Man möge sich nicht so sehr mit der Vergangenheit aufhalten, sondern „entschlossen sich der Zukunft zuwenden“, fügte er hinzu. Mit diesen Worten versuchte Nicolas Sarkozy, die Polemik der beiden vergangenen Jahren zur französischen Kolonialvergangenheit vom Tisch zu wischen. Diese war hauptsächlich durch die Verabschiedung des „Gesetzes vom 23. Februar 2005“ durch die französische Nationalversammlung ausgelöst worden.  

Pro-koloniale Geschichtsschreibung, staatlich angeordnet 

Dessen Gegenstand ist eine veritable Rehabilitierung der Kolonialgeschichte des Landes. Seine Verabschiedung entsprach einem tiefen Bedürfnis in Teilen der französischen regierenden Rechten, endlich ihre ideologische Revanche zu nehmen. Nachdem sie in der Periode der Entkolonialisierung in die Defensive gedrängt worden waren, konnten sie sich nun lautstark zurückmelden.  

In der Präambel des Gesetzes heibt es: „Die Nation spricht den Männern und Frauen, die am von Frankreich verrichteten Werk in den ehemaligen französischen Départements in Algerien, in Marokko, in Tunesien und in Indochina (...) teilgenommen haben, ihre Anerkennung aus.“ Inzwischen ist die öffentliche Polemik über die Verabschiedung dieses Textes abgeflaut. Ausgelöst hatte diese vor allem der Wortlaut des Artikels 4 des Gesetzeswerks. Darin sollten die Lehrer, Hochschullehrer und Wissenschaftler dazu verpflichtet werden, in Unterricht und Forschung „den positiven Beitrag der französischen Kolonisierung in Übersee und insbesondere in Nordafrika“ hervorzuheben.  

Das sorgte für Streit, sowohl aufgrund der offenen Apologetik des Kolonialismus - als auch, weil es nicht Sache des Gesetzgebers ist, Lehrern und Forschern ihre Programme vorzuschreiben. Dafür ist nämlich eine wissenschaftliche Kommission beim Bildungsministerium zuständig. Aus letzterem Grunde konnte der damalige Präsident Jacques Chirac auch zu Anfang des Jahres 2006 die Wogen glätten: Aus formalen Gründen erklärte er den besonders umstrittenen Artikel 4 für ungültig. Da er die Kompetenzen des Gesetzgebers verkenne, sei dieser Artikel nicht mit der Verfassung vereinbar. Deswegen kassierte der Präsident ihn im Januar vergangenen Jahres.  

Daraufhin klang der Streit ab. Übersehen wird dabei aber oft, dass der gesamte Rest des Gesetzeswerks, das 13 Artikel zählt, weiterhin in Kraft ist. Und auch die übrigen Bestimmungen haben es in sich. So sieht der letzte Artikel beispielsweise vor, dass künftig auch die früheren Mitglieder der ultrarechten Terrororganisation OAS (Organisation de l’armée secrète, „Organisation geheime Armee“) Entschädigungen für ihre Jahre der Haft oder des Exils erhalten sollen. Beschlüsse über Entschädigungsanträge fassen soll eine sechsköpfige Kommission, in der unter anderem der ehemalige Chef der OAS im Raum Oran (im heutigen Westalgerien) sitzt. Die OAS war eine pro-kolonialistische Organisation, die ab 1961gegen den absehbaren Rückzug Frankreichs aus Algerien kämpfte. Sie legte Bomben und mordete zahllose nordafrikanische Zivilisten, aber auch europäischstämmige Bewohner Algeriens, die bereit waren, die Entkolonialisierung mitzutragen. Heute gibt es keinen Streit mehr über das Gesetz vom vorletzten Jahr, aber dieser Artikel ist weiterhin anwendbar.  

Spannungen und ihre Ursachen 

Aufgrund des damals aufflammenden Disputs war es 2005 vorübergehend zu Verstimmungen zwischen Paris und Algier, aber auch auf den „französischen Antillen“ gekommen. Der damalige Innenminister musste, infolge heftiger Proteste deswegen, einen geplanten Besuch auf den zu Frankreich gehörenden Karibikinseln im Dezember jenes Jahres verschieben. Algeriens Präsident Abdelaziz Bouteflika seinerseits befleibigte sich im selben Jahr zeitweise einer militanten Rhetorik. Er warf Frankreich unter anderem vor, aufgrund der Massaker, die es im Mai 1945 sowie während des späteren Unabhängigkeitskriegs (1954 bis 62) in Algerien anrichtete, dem Holocaust ähnliche Verbrechen begangen zu haben. Zudem habe es einen „kulturellen Genozid“ in der ehemaligen Kolonie verübt.  

Diese Vorwürfe waren zum Teil überzogen, trotz sehr realer Verbrechen – dem französischen Kolonialkrieg in Algerien fielen  rund eine Million Menschen zum Opfer. Sie dienten freilich vorwiegend innenpolitischen Zwecken, da sie Bouteflika erlaubten, seine Autorität nach innen hin zu festigen. Im darauffolgenden Jahr 2006 suchte er eine Wiederannäherung an Frankreich. Nun kam das Vorhaben eines umfassenden bilateralen Vertrags allerdings wiederum nicht voran, weil Bouteflika zeitweise schwer krank war. Monatelang blieb er aus der Öffentlichkeit verschwunden. Auch heute ist Bouteflika körperlich schwer angeschlagen, auch wenn unbekannt ist, worunter er leidet: Anlässlich von Sarkozys jüngstem Besuch durften die Journalisten nur dem französischen Präsidenten Fragen stellen, nicht aber seinem algerischen Amtskollegen. Dessen gesundheitlicher Zustand sollte unbemerkt bleiben.

Rückblick auf Algier 2003: Chiracs Triumphzug 

Die Gesundheitsprobleme Bouteflikas und der Amtswechsel in Paris, von Chirac zu Sarkozy, trugen dann zur „Beerdigung“ des Freundschaftsvertrags bei. Das Projekt eines solchen Vertrags, der politische und diplomatische ebenso wie wirtschaftliche und eventuell militärische Aspekte umfassen sollte, war der grobe Plan von Sarkozys Amtsvorgänger gewesen. Aufgetaucht war das Vorhaben zum ersten Mal, als sich das damalige französische Staatsoberhaupt Jacques Chirac am 2., 3. und 4. März 2003 in Algier aufhielt. (Vgl. dazu: http://www.trend.infopartisan.net/trd0303/t510303.html

Dieser Besuch hatte auch strategische Bedeutung: Die französische Regierung und die US-Administration lagen damals, im Vorfeld des Angriffs auf den Irak, im Konflikt miteinander. Beide Seiten suchten nach Verbündeten. Chirac konnte mit seiner Position auf der Südseite des Mittelmeers Applaus ernten. Sprechchöre während seines „Bads in der Menge“ in Algier skandierten: „Chirac, Irak!“, unterbrochen freilich vom immer wieder auftauchenden Ruf: „Visa, wir wollen Visa für Frankreich!“ Generell gehorchte das Vorhaben eines neuen Freundschaftsvertrags, neben historischen Beweggründen – der Aussöhnung nach den Verletzungen des Unabhängigkeitskriegs – stets auch geopolitische Motiven. Die US-amerikanische und chinesische Konkurrenz hat Frankreich, in Nordafrika wie im subsaharischen Afrika, auf vielen Gebieten den Rang abzulaufen begonnen. Die Nordamerikaner sind in Algeriens Erdöl- und Erdgasindustrie inzwischen stärker vertreten als die Franzosen. Und im Rahmen der Strategie einer Ausweitung des „Anti-Terror-Krieges“ auf die Sahara und die Sahelzone – wo es Washington zufolge darum geht, eine Einnistung von Al-Qaïda in einer kontrollfreien Zone zu verhindern – sind die USA seit zwei Jahren um die Einrichtung einer Militärbasis in Südalgerien bemüht. Im Moment ist das Vorhaben jedoch blockiert, da die USA eine ständige Basis fordern, Algier ihnen aber nun eine vorübergehende gewähren möchte.   

„Freundschaft braucht keinen Freundschaftsvertrag“ 

Diese Erwägungen bleiben in der französischen Politik weiterhin präsent. Dennoch ist unter der Präsidentschaft Nicolas Sarkozys ein neuer Ton eingekehrt. Dem Projekt eines umfassenden Freundschaftsvertrags kehrt er heute den Rücken zu. Dies hat mehrere Beweggründe. 

Zum Einen möchte Sarkozy sicherlich nicht zu merklich in die Fußstapfen seines Vorgängers Chiracs treten, sondern markieren, dass mit seiner Wahl eine neue Ära begonnen hat. Andererseits ist Nicolas Sarkozy unterschiedlichen Erwartungen seitens seiner Wählerschaft ausgesetzt. Einen Teil seiner Wählerschaft bei den französischen Präsidentschaftswahlen im April und Mai, sowie den Parlamentswahlen im Juni dieses Jahres hat er der extremen Rechten abgeworben. Insbesondere in Südostfrankreich, wo Nicolas Sarkozy rund zehn Prozent der Stimmen aus der früheren Wählerschaft des Front National (FN) von Jean-Marie Le Pen gewonnen hat – letzterer stürzte von 25 auf 13 Prozent der Stimmen ab -, sind zahlreiche frühere Algerienfranzosen unter diesen Wählern. Die ‚Pieds Noirs’ genanten ehemaligen Algeriensiedler wurden nach der Unabhängigkeit 1962 vor allem in Südwest- und Südostfrankreich angesiedelt. 

In seiner Programmrede am 7. Februar dieses Jahres in Toulon, einer der Hochburgen der rechtslastigen „Vertriebenenlobby“ des Pieds Noirs-Milieus, hatte Nicolas Sarkozy ausgiebig gegen „Reueverlangen“ bezüglich der Kolonialgeschichte Stellung genommen. Unter anderem führte er aus: „Hören wir auf, die Vergangenheit schwarz in schwarz zu malen. Das Abendland hat lange durch seine Arroganz gefehlt. Viele Verbrechen und Ungerechtigkeiten wurden begangen. Aber die meisten derer, die in Richtung Süden gegangen sind, waren weder Monster noch Ausbeuter. Viele verwendeten ihre Energien darauf, Straßen, Brücken, Schulen, Krankenhäuser zu bauen. Viele erschöpften sich, indem sie ein undankbares Stück Land bepflanzten, das niemand vor ihnen bepflanzt hatte. Viele zogen nur aus, um Kranke zu behandeln, um zu unterrichten. Man kann von heute aus, mit den heutigen Werten die Kolonisierung verurteilen. Aber man muss diese Männer und Frauen guten Willens respektieren, die mit gutem Willen geglaubt hatten, dass sie ein nützliches Werk für das Zivilisationsideal, an das sie glaubten, verrichteten. (…) Ich möchte all diesen Anhängern des Büßertums, die die Geschichte umschreiben und die die Männer von gestern verurteilen, ohne sich um die Bedingungen ihrer Zeit zu kümmern, etwas sagen. Ich möchte ihnen sagen: Mit welchem Recht verurteilt Ihr? Ich möchte ihnen sagen: Mit welchem Recht fordert Ihr von den Söhnen, Buße für die imaginären Verfehlungen ihrer Väter zu tun ?“ Die Verbrechen und Massenmorde, die die Kolonialeroberung insbesondere von Algerien von Anfang an begleiteten, und das dort bestehende Apartheidsystem kommen in dieser Darstellung nicht vor. 

In einer anderen Passage derselben Rede führte Sarkozy damals aus: „…die Zukunft Europas liegt im Süden. Der europäische Traum benötigt den Mittelmeer-Traum. Der europäische Traum hat an Kraft verloren, als jener Traum platzte, der einst die Ritter ganz Europas gen Orient ziehen ließ, jener Traum, der so viele Kaiser des Römisch-Germanischen Reichs und so viele Könige Frankreichs nach Süden lockte, der Traum, den Bonaparte in Ägypten träumte, Napoléon III. in Algerien, (der Marschall, Anm. d. A.) de Lyautey in Marokko. Dieser Traum war nicht so sehr ein Eroberungs-, sondern ein Zivilisationstraum.“ Mit diesen Ausführungen bezog Nicolas Sarkozy sich vor allem auf militärische und koloniale Eroberungsfeldzüge. 

Am 16. April dieses Jahres, wenige Tage vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahl, versprach der Kandidat Sarkozy vor einem Verein früherer Algerienfranzosen: „Ich bin gegen einen Freundschaftsvertrag mit Algerien.“ Damit kam er in diesen Kreisen gehegten Ressentiments gegen das unabhängig gewordene Land sichtbar entgegen. Aber im Widerspruch dazu äußerte Nicolas Sarkozy am 21. April gegenüber der algerischen Zeitung Djazaïr News: „Ich werde den Freundschaftsvertrag unterzeichnen. (…) Ich verurteile vorbehaltlos das Kolonialsystem. Zwischen Frankreich und Algerien besteht eine Liebesgeschichte.“ 

Zwischen den unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Erwartungen, die Sarkozy so geweckt hat, versucht er sich nun hindurch zu manövrieren. So erklärte er am 10. Juli in Algier: „Man kann eine Freundschaft praktizieren, ohne einen Freundschaftsvertrag abzuschließen.“ Und er fügte hinzu: „Ich habe nicht am Algerienkrieg teilgenommen. Auf meiner Generation lastet nicht das Gewicht der Geschichte. (…) Freundschaft erwächst mehr aus Projekten, aus Handlungen, denn aus Verträgen, Reden oder Versprechen.“ Auf diese Weise versucht Sarkozy, scheinbar Unvereinbares miteinander zu vereinbaren. Wirtschaftsbeziehungen und Signale an die alte Koloniallobby, bilaterale Freundschaft und Bedienen von Ressentiments in einem bestimmten Teil der Wählerschafts: Nichts soll das andere ausschlieben. Sarkozy  versucht sich an der Aussöhnung der Gegensätze. Ob ihm dies gelingen wird, bleibt abzuwarten: Sarkozys Besuch in der zweiten Juliwoche, der nur einige Stunden dauerte, behielt bisher überwiegend symbolische Bedeutung. Über harte politische Fakten, darunter auch Fragen der Energiepolitik und der geplanten Zusammenarbeit der algerischen Erdöl- und Erdgasgesellschaft Sonatrach mit dem französischen Konzern Gaz de France (GDF), wird erst beim angekündigten offiziellen Staatsbesuch Sarkozys in Algerien gesprochen werden. Also im Dezember dieses Jahres.

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir von Autor am 25.7.07 zur Veröffentlichung.

Das Frankreich der Reaktion. Neofaschismus und modernisierter Konservatismus von Bernhard Schmid wird bei Pahl-Rugenstein demnächst als Taschenbuch erscheinen und in jeden gut sortierten linken Buchhandlung zu haben sein.