Stichwort RAF
"Anwendung unmittelbaren Zwangs"
 gegen Gefangene aus der RAF

Strafanzeige wegen
versuchten Mordes
von
Klaus Croissant und Jörg Lang

7-8/07

trend
onlinezeitung

7 Stuttgart, den 27. März 1972

Dr. Klaus Croissant
Jörg Lang
Rechtsanwälte

An die
Staatsanwaltschaft beim Landgericht
z. Hd. von Herrn Oberstaatsanwalt Beck
8900 Augsburg

Sehr geehrter Herr Oberstaatsanwalt,

als Verteidiger der Studentin
Carmen Roll, geb. 9. 9. 1947,
z. Zt. in Untersuchungshaft in
der Justizvollzugsanstalt Aichach
geben wir Ihnen Kenntnis von nachstehendem Sachverhalt:

l.
Unsere Mandantin hat uns durch Schreiben vom 20.3. 1972 sowie anläßlich des Besuches in Aichach am 25. 3. 1972 mitgeteilt, daß sie vom Amtsgericht Aichach drei Beschlüsse vom 8.3., 14.3. und 15.3.1972 erhalten habe. Durch den ersten Beschluß wurde die Beschlagnahme sämtlicher Ober- und Unterkleidung unserer Mandantin zur kriminalistischen Untersuchung angeordnet. Durch den zweiten Beschluß wurde die körperliche Untersuchung unserer Mandantin dahin angeordnet, daß ihr eine Speichelprobe sowie Körper- und Haupthaare zu entnehmen sind. Durch den dritten Beschluß wurde die Abnahme von Fingerabdrücken angeordnet mit dem Hinweis »bei Weigerung unter Anwendung unmittelbaren Zwangs«. Wir müssen zunächst rügen, daß uns keiner der genannten Beschlüsse zugestellt wurde, obwohl wir uns als Verteidiger und Zustellungsbevollmächtigte für unsere Mandantin längst legitimiert haben. Bitte veranlassen Sie, daß die Zustellung dieser Beschlüsse an uns sofort nachgeholt wird.

II.
Unsere Mandantin hat uns mitgeteilt, daß der richterliche Beschluß vom 15. 3.1972 in folgender Weise vollzogen wurde:

1. Unsere Mandantin wurde am 16. 3.1972 von einer Aufseherin um 6 Uhr geweckt. Sie erhielt - wie üblich - die Weisung, sich anzuziehen. Kurze Zeit danach wurde unsere Mandantin von der Aufseherin und einer männlichen Begleitperson in eine leere Zelle geführt. Auf Frage, was dies zu bedeuten habe, wurde unserer Mandantin erklärt, sie solle nüchtern bleiben. In der Zelle wartete unsere Mandantin sodann bis 8 oder 9 Uhr. Danach wurde sie in die Krankenabteilung der Justizvollzugsanstalt geführt, und zwar in das Zimmer des Anstaltsarztes. In diesem Zimmer befanden sich neben dem Arzt und einer Krankenschwester (möglicherweise auch zwei Krankenschwestern) fünf bis sechs Kriminalbeamte.

Zwei Kriminalbeamte werden von unserer Mandantin auf Grund ihrer auffallend großen und korpulent-kräftigen Statur als Schränke beschrieben. Unsere Mandantin wurde nach Betreten des Arztzimmers von den Beamten, dem Arzt und einer Krankenschwester aufgefordert, sich freiwillig Fingerabdrücke abnehmen zu lassen. Auf diese Aufforderung reagierte unsere Mandantin nicht, sondern sah sich die Gesichter der Umstehenden an.

Darauf stürzten sich die beiden Personen, die zuvor als Schränke bezeichnet wurden, auf unsere Mandantin, packten sie an den Armen und am Körper und verfrachteten sie in eine Art von gynäkologischen Stuhl. Nachdem unsere Mandantin, die sich trotz der Übermacht heftig sträubte und zu wehren versuchte, in den Stuhl manövriert war, wurde aus dessen unterem Teil eine Platte herausgezogen, sodaß der Stuhl zur Liege wurde. Nunmehr wurde unsere Mandantin mit Ledergurten, die sich teilweise bereits an dem Stuhl befanden, an Armen und Beinen auf dem zur Liege gewordenen Stuhl gefesselt.

Unsere Mandantin hatte sich gegen diese Fesselung mit Händen und Füßen gewehrt. Sie war auch nach der Fesselung äußerst erregt. Da sie noch versuchte, ihren Kopf zu bewegen, um das Geschehen zu verfolgen, wurde ihr der Kopf von einer Krankenschwester in Liegestellung zurückgedrückt. In diesem Moment näherte sich eine andere Person, die unsere Mandantin in ihrer hilflosen und vollständigen Liegestellung nicht mehr erkennen konnte, mit einer stark nach Äther riechenden Narkosemaske. Diese Maske wurde unserer Mandantin über das Gesicht gestülpt. Sie bemerkte noch, wie Äther auf die Gazemaske geträufelt wurde, hörte das Glucksen und verspürte die sich ausbreitenden Dämpfe. Unsere Mandantin, die infolge ihres zum äußersten getriebenen Erregungszustandes stark atmete, inhalierte die ausströmenden Dämpfe voll. Ihr letzter Gedanke vor dem Übergang in den Zustand völliger Bewußtlosigkeit war der, überhaupt nicht mehr aufzuwachen.

2. Was unserer Mandantin nach Eintritt in den bewußtlosen Zustand widerfahren ist, ist uns nicht bekannt. Wir haben jedoch Grund zu der Annahme, daß unserer Mandantin nunmehr die Fingerabdrücke abgenommen wurden.

3. Unsere Mandantin wachte in der Krankenabteilung der Justizvollzugsanstalt nach ihrer Erinnerung nachmittags aus der Narkose auf und erhielt auf ihren Wunsch einen Obstsaft, wonach sie sich sofort erbrach. Sie verfiel danach wieder in Schlaf.

Gegen 18 Uhr bemerkte unsere Mandantin erstmals, daß sie Schmerzen und Schwierigkeiten beim Bewegen des Unterkiefers und beim Öffnen des Mundes hatte. Sie stellte fest, daß die untere Kieferpartie geschwollen war und sich an ihrer rechten Halsseite Kratz- und Würgespuren befanden.

Auf die Frage unserer Mandantin, woher diese Spuren stammten, erhielt sie von der Krankenschwester keine Auskunft.

III.

Aufgrund der unserer Mandantin widerfahrenen Zwangsbetäubung erstatten wir gegen die Personen, die an der zuvor beschriebenen Ausführung des richterlichen Beschlusses vom 15. 3.1972 mitgewirkt haben,

Strafanzeige

wegen des Verdachts

- des versuchten Mordes im Sinne des § 211 StGB, wobei wir die Tatbestandsmerkmale der heimtückischen und grausamen Begehungsweise bejahen,

- der Körperverletzung im Amt im Sinne des § 340 StGB,

- der Freiheitsberaubung im Sinne des § 239 StGB.

1. Die Zwangsbetäubung eines Menschen ist schlechthin rechtswidrig. Die Anwendung unmittelbaren Zwangs, die durch den richterlichen Beschluß vom 15.3.1972 für zulässig erklärt wurde, schließt niemals das Recht ein, einen Menschen durch gewaltsame Betäubung zu einem absolut willenlosen Werkzeug zu machen. Eine gesetzliche oder rechtliche Vorschrift, die zu einer Zwangsbetäubung ermächtigt, besteht nicht.
Das Vorgehen gegenüber unserer Mandantin ist nichts als nackte Brutalität. Es kennzeichnet eine ungeheuerliche Mißachtung der Menschenwürde, der immer noch geltenden elementaren Verfassungsgrundsätze der Bundesrepublik Deutschland und der in diesem Staat als Gesetz geltenden Konvention zum Schütze der Menschenrechte.
Die Zwangsbetäubung unserer Mandantin kann somit unter keinen Umständen mit der richterlich angeordneten Abnahme von Fingerabdrücken gerechtfertigt werden.

2. Aus ärztlicher Sicht war die Äthernarkose, die unserer Mandantin gegen ihren Willen »unter Anwendung unmittelbaren Zwangs« verpaßt wurde, nicht zu verantworten. Die mit einer Äthernarkose für unsere Mandantin verbundene Lebensgefahr war so groß, daß der verantwortliche Arzt mit einem tödlichen Ausgang der Narkose rechnen mußte, selbst wenn er darauf vertraut haben mag, unsere Mandantin werde die Zwangsbetäubung überstehen.
Die Grenze zwischen bedingtem Tötungsvorsatz und der sogenannten »bewußten Fahrlässigkeit« wurde in diesem Fall überschritten.

Eine Äthernarkose wird von der medizinischen Wissenschaft durchweg abgelehnt und heute praktisch nicht mehr angewendet. Gegen einen Menschen, der sich in einem Erregungszustand befindet und sich psychisch und physisch gegen die Betäubung sträubt, darf eine Äthernarkose wegen der Unmöglichkeit, das Narkotikum auch nur einigermaßen hinreichend zu dosieren, überhaupt nicht angewendet werden.

Die Zwangsbetäubung unserer Mandantin wurde unter Umständen durchgeführt, die mit einer erheblichen Lebensgefahr für unsere Mandantin verbunden waren. Im vorliegenden Fall bestand insbesondere die Gefahr, daß die Zunge unserer Mandantin in den Hals rutscht und Tod durch Ersticken eintritt. Darauf deuten auch die von unserer Mandantin geschilderten Verletzungen am Hals und Unterkiefer hin.

Diese Verletzungen zeigen mit Sicherheit, daß die Zwangsbetäubung keineswegs komplikationslos verlaufen ist.

IV.

Wir müssen Sie bitten, die Ermittlungen unverzüglich und ohne Ansehung der für die Zwangsbetäubung verantwortlichen Personen einzuleiten und durchzuführen. Wir bitten um Mitteilung, gegen welche Personen und wegen des Verdachtes welcher Straftaten das Ermittlungsverfahren geführt wird.

Bei dem Innenminister des Landes Bayern haben wir gleichzeitig die abschriftlich beigefügte Dienstaufsichtsbeschwerde eingereicht.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Rechtsanwalt
(Dr. Croissant)
 

Editorische Anmerkungen

Der Text stammt aus dem KURSBUCH 32, Folter in der BRD, Westberlin 1973, S. 82ff

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