Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Verfassungsgericht lässt „Reformpakete“ fast geschlossen passieren. Es kassiert aber ein Steuergeschenk für Haus- und Wohnungseigentümer
7-8/07

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Eine Karikatur der liberalen Pariser Abendzeitung Le Monde vom 18. August bringt es auf den Punkt. Prägnant wird darin das Wesen der Politik Nicolas Sarkozys, und die Ursache ihrer momentan noch anhaltenden Popularität (rund 60 % positive Meinungsäuberungen laut Umfrageinstituten) resümiert. Man erblickt dort Nicolas Sarkozy als Chauffeur einer aufgedonnerten Rolls Royce-Limousine, auf deren Hinterbank eine augenscheinlich schwerreiche Familie – Vater, Mutter mit schwerer Perlenkette, Söhnchen im Knabenalter mit Krawatte – Platz genommen hat. Sarkozy wendet sich an seine Passagiere mit den Worten: „Seied unternehmerisch! Seied (/Werdet) Eigentümer! Seid (/Werdet) reich!“ Eine Remineszenz auf den berühmten Slogan Enrichissez-vous! (Bereichert Euch!), der einstmals in den 1830er Jahren Furore machte und damals an die aufstrebende Bourgeoisie gerichtet war. Am Strabenrand steht, um in der Karikatur zu bleiben, eine anscheinend weniger gut bemittelte Familie: Vater, Mutter und Söhnchen, in Klamotten, die durch ihre Flickaufnäher verraten, dass das Haushaltseinkommen nicht so hoch ausfallen dürfte. „Hast Du gehört?“ fragt die ärmere Frau ihren Ehemann, sichtlich begeistert. Jener entgegnet allerdings, mit einem gewissen Realitätsvermögen ausgestattet: „Er (Sarkozy) sprach zu jemand anderem!“

Bis auf die zuletzt zitierte Replik, die bislang in der Öffentlichkeit noch weitgehend ausbleibt, beschreibt diese Karikatur treffend den Klassencharakter der Mabnahmen des seit nunmehr 100 Tagen amtierenden französischen Präsidenten einerseits – und deren Wahrnehmung durch einen Gutteil der „öffentlichen Meinung“ andererseits. Sarkozy sagt, für die Leistungsträger werde bei seiner Politik am Ende mehr abfallen? In Wirklichkeit sind die Besser- und Bestverdienenden gemeint, aber so manche ärmeren Lohnabhängigen glauben sich durch dieses Lob der Leitungsträger vermeintlich selbst angesprochen. Sarkozy erklärt, zukünftig gelte die Devise „Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen“, und meint damit eine starke Anhebung der Zahl jährlich abgeleisteter Überstunden (ohne Aufbesserung der Grundlöhne)? Zahlreiche Franzosen hören im Augenblick nur die zweite Hälfte des Satzes: „mehr verdienen“.

Höchstgerichtliches Urteil zu Streikrecht und Steuergeschenken 

Die o.g. Karikatur ziert einen längeren Artikel zum Urteil des französischen Verfassungsgerichts (Conseil constitutionnel) vom Donnerstag, 16. August. Die ‚hohen’ Richter hatten dabei über die Bestimmungen des Gesetzespaketes „TEPA“ (Abkürzung für „Arbeit, Beschäftigung und Kaufkraft“) sowie über das Gesetz zum ‚Service minimum’ zu urteilen. Das Verfassungsgericht war von Abgeordneten der ‚sozialistischen’ und ‚kommunistischen’ Parlamentsopposition eingeschaltet worden, deren Verfassungsklage zum Streikrecht bzw. ‚Service minimum’ durch die CGT unterstützt und juristisch begleitet wurde. (Eine wichtige Anmerkung dazu: In Frankreich kann das Verfassungsgericht nicht durch die Bürger angerufen werden, sondern nur durch eine bestimmte Anzahl von Abgeordneten oder durch andere Angehörige von Verfassungsorganen, und ausschlieblich VOR der Veröffentlichung eines Gesetzestextes – mit der Unterschrift des Präsidenten – im Amtsblatt ‚Journal Officiel’. Nach dem Inkraftttreten eines Gesetzes findet keine verfassungsrichterliche Kontrolle mehr statt, sondern die Französinnen und Franzosen sind angehalten, im Streitfalle durch sozialen und politischen Druck eine Änderung oder Abschaffung des fraglichen Gesetzestextes im Parlament zu erzielen. Historischer Hintergrund für diese Spielregeln ist die Ablehnung eines ‚gouvernement des juges’, also einer regierungsähnlichen entscheidenden Rolle der Richter, unter der Französischen Revolution: Man wollte vermeiden, dass der politische Elan der bürgerlichen Revolution durch die Richterschaft – als nicht gewähltem Expertenkorps, das keine demokratische Legitimation aufwies und oft eher konservativ war – ausgebremst werden konnte. Die Politik sollte das letzte Wort haben, nicht die Experten, nicht die jurisischen und anderen Spezialisten. Heute freilich ist diese Politik keineswegs bürgerlich-revolutionär und der Umwälzung der alten Verhältnisse verpflichtet, sondern neoliberal und reaktionär...) 

Das Streikrecht betreffend, lieb das Verfassungsgericht das Gesetz vom 2. August zur Einführung eines ‚Service minimum’ passieren. Die Abgeordneten der (parlamentarischen) Opposition hatten mehrere Bestimmungen moniert: die Einführung einer Periode obligatorischer Verhandlungen und Vermittlungen vor Ausbruch eines Arbeitskampfs, der die Auslösung eines Streiks in Personentransportbetrieben um bis zu 16 Tage verzögern kann; die Pflicht für die Lohnabhängigen, 48 Stunden vor Streikbeginn individuell (gegenüber dem Arbeitgeber) zu erklären, ob sie streiken oder nicht streiken werden... All diese neuen Regeln gelten derzeit nur für die Verkehrsbetriebe – über eine Ausdehnung auf andere Sektoren wird mutmablich in der zweiten Jahreshälfte 2008 diskutiert werden. Laut dem Urteil vom vergangenen Donnerstag stellen sie keine Einschränkung des verfassungsrechtlich garantierten Streikrechts dar. Die einzige Auflage: Über die konkreten Modalitäten der Umsetzung dieser neuen Spielregeln soll auf dem Verhandlungswege zwischen den so genannten Sozialpartnern entschieden werden. 

Manche deutschsprachigen Medien sind dabei übrigens offenkundig auf einem veralteten Informationsstand, bzw. hinken Speedy Sarkozy hinterher. So behauptet die Wochenzeitung ‚Freitag’ in ihrer jüngsten Ausgabe vom 17. August, im Hinblick auf das Gesetz über den Service minimum: „(...die Regierenden) dürfen sich ... auf einen heißen Herbst freuen, falls auch die Nationalversammlung dieser Knebelung der Gewerkschaften zustimmen sollte.“ (Vgl. http://www.freitag.de/2007/33/07330701.php) Totaler Unfug: Die Nationalversammlung HAT diesem Gesetz längst zugestimmt, am Nachmittag des 2. August, nachdem der Senat als zweite Kammer des Parlaments den Entwurf zuerst angenommen hatte. Nun hat das Gesetz auch noch das Verfassungsgericht erfolgreich passiert. Ob es hingegen einen „heiben Herbst“ geben wird, bleibt abzuwarten und ist noch nicht sicher, auch wenn die Demonstrationen vom 31. Juli (an denen in Paris 2.000 Leute teilnehmern, im Hochsommerloch durchaus ein Erfolg) gegen die Einschränkung des Streikrechts ein bisschen Hoffnung erweckten. - Pennt weiter, liebe Journalisten! 

Auch das Gesetzespaket „TEPA“, das seinerseits am 1. August in dritter und letzter Lesung angenommen worden war, hat nun gröbtenteils das Verfassungsgericht passiert. Es enthält insbesondere die Bestimmungen zur Befreiung der Überstunden von Steuern (für die abhängig Beschäftigten) und Sozialabgaben (für die ‚Arbeitgeber’), sowie Steuergeschenke für die Besser- und Bestverdienenden. Zu letzteren gehört insbesondere die Einführung eines ‚bouclier fiscal’ oder „steuerlichen Schutzschilds“, d.h. einer Obergrenze der Besteuerbarkeit für Personen, die bereits Grobvermögen besitzen und neue Einkünfte beziehen. Auch diese Bestimmung wurde vom Verfassungsgericht für gültig erklärt. 

Eine Passage des Gesetzespakets konnte hingegen die verfassungsrichterliche Kontrolle nicht passieren, sondern wurde kassiert. Es handelt sich um die Bestimmungen zur Steuerbefreiung für die Erwerber von Haus- oder Wohnungseigentum, die einen Kredit zur Finanzierung ihres Eigenheimerwerbs aufgenommen haben. 

„Füllhorn“ für Immobilienkäufer 

Ursprünglich hatte Nicolas Sarkozy als Kandidat im Präsidentschaftswahlkampf versprochen, einen steuerlichen Nachlass für die Erwerber von Haus- oder Wohnungseigentum zu gewähren, egal ob sie nun VOR oder NACH dem Wahltermin Eigentümer geworden waren. Der Steuerkredit sollte also auch rückwirkend gelten. Hingegen setzte sein neuer Haushaltsminister Eric Woerth, wie auch die für Wohnungsbau zuständige Ministerin Christine Boutin, nach der Wahl Nicolas Sarkozys andere Signale. Wohl, weil sie ihrerseits die finanzpolitischen „Stabilitätsimperative“ einer ständig mit Sparnotwendigkeiten argumentierenden bürgerlichen Regierung im Hinterkopf hatten. Ihnen zufolge sollte der Steuernachlass für diejenigen Haushalte gelten, die erst nach der Wahl Nicolas Sarkozys zum Präsidenten ihre Eigentumswohnung oder ihr Haus (für den Erstwohnsitz) erworben hatten. Daraufhin floss viel Tinte, da die sozialdemokratische Parlamentsopposition die Gelegenheit nutzte, um Sarkozy „Verrat an seinen vorherigen Versprechen“ und Lügen im Wahlkampf vorzuwerfen. Es ist durchaus nachzuvollziehen, dass die ziemlich gefledderte Sozipartei es sich nicht verkneifen konnte, diesen Widerspruch zwischen Anspruch und Taten auszunutzen – auch wenn ihr Vorgehen ansonsten höchst fragwürdig blieb, da sie ein Versprechen des Präsidenten einforderte, das seinerseits ausgesprochen kritikwürdig war.   

Nicolas Sarkozy lieb daraufhin jedoch diesen Vorwurf nicht auf sich sitzen, sondern reagierte umgehend. In einer Rede vom 29. Mai kofferte er sogar seine beiden Minister an, und warf ihnen vor, die ‚Pensée unique’ (also das „vorgeschriebene Einheitsdenken“, sprich: die falsche ‚Political Correctness’) vertreten zu haben. Seitdem ist der rechtskatholische Flügel des regierenden Bürgerblocks ein wenig vergrätzt, denn sowohl Eric Woerth als auch Christine Boutin gehören der rechtskatholischen Strömung im konservativ-liberalen Lager an. 

Die Regel, die dann letztendlich im ‚TEPA’-Gesetzespaket festgeschrieben wurde, sah daraufhin so aus: Alle Haushalte, die Haus- und Wohnungseigentum erwerben oder schon erworben hatten, sollten für einen Zeitraum von fünf Jahren von Steuernachlässen profitieren. Diese betragen 750 Euro jährlich pro Einzelperson, oder 1.500 Euro für ein Paar pro Jahr. Insgesamt sollten also Kredite für den Wohnungskauf bis zu einer Obergrenze von 3.750 Euro pro Einzelperson von der Steuer abgesetzt werden können. Dies sollte für alle Wohnungs- und Hauskäufe gelten, die seit dem Jahr 2002 getätigt worden waren (aufgrund der fünfjährigen Laufzeit). Angeblich soll dies dem derzeit, aufgrund der ins Irrsinnige gestiegenenen Preise, erstmals seit längerem stagnierenden Wohnungsmarkt neue Belebung bringen, und dadurch den Konsum ankurbeln. De facto wird es aber nur eventuell die Preise weiter klettern lassen. Und, vor allem, einen Mitnahmeeffekt (französisch ‚effet d’aubaine’, also wörtlich „Füllhorneffekt“) auslösen, dergestalt, dass frischgebackene Hauseigentümer dieses Geschenk zwar gerne mitnehmen – aber nicht etwa deswegen ihre Wohnung käuflich erwerben. Die liberale Abendzeitung ‚Le Monde’ rechnete korrekt vor, dass das oben erwähnte Steuergeschenk bei einem Bankkredit über 200.000 Euro (der mindestens erforderlich ist, um in Paris eine Zwei-Zimmer-Wohnung kaufen zu können, bei Immobilienpreisen ab 5.000 Euro pro Quadratmetern inzwischen auch in ärmeren Stadtbezirken) nur 0,4 Prozent der Gesamtsumme ausmache. Aus diesem Grunde wird also wohl niemand zum Käufer von Immobilien werden. Aber Geschenke nimmt der erfreute Mittelständler oder Bourgeois natürlich dennoch gerne an...  

Diese Bestimmung hat das Verfassungsgericht nun kassiert: Erstens stelle sie einen unzulässigen Bruch mit der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz dar. Denn der Hauseigentümer, der 2001 kaufte, würde dadurch anders behandelt als jener, der sein Eigentum 2002 erwarb. Dies werde aber durch das Ziel, den Wohnungsmarkt zu beleben, nicht gerechtfertigt (da alle beiden Erwerber zur Zeit ihres Kaufes nicht riechen konnten, dass es späterhin diesen Steuernachlass geben würde). Gerechtfertigt werde durch das Vorhaben, den Immobilienmarkt anzufachen, allein der für die Zukunft gewährte Steuerkredit. Zum Zweiten, fügte das Verfassungsgericht hinzu, bilde die geplante Mabnahme mit geschätzten jährlichen Kosten von 7,7 Milliarden Euro eine unzulässig hohe Belastung für den Staatshaushalt, die (mangels Auswirkungen der rückwirkend gewährten Steuergeschenke auf den heutigen Immobilienmarkt) durch ihre Zielsetzung nicht gerechtfertigt werde.    

Konsequenzen 

Nun wird der Steuerkredit also nurmehr für zukünftig getätigte Immobilienkäufe gelten. Zugleich kündigte die Regierung an, sie werde das Urteil insofern umgehen, als zumindest für die seit dem 06. Mai 2007 (also seit dem Tag der Wahl Nicolas Sarkozys zum Präsidenten) getätigten Immobilienkäufe das Steuergeschenk doch noch – auch nachträglich – gewährt werde. Für die Neuerwerber von Immobilieneigentum seit dem 06. Mai wird der Steuernachlass nun sogat global verdoppelt, und sie sollen bis zu 20 Prozent ihres zu diesem Zweck aufgenommenen Bankkredits von ihrer Steuersumme absetzen können. 

Die regierungskritische Presse nutzt unterdessen natürlich die Gelegenheit, um zu schreiben, der omnipräsente „OmniPräsident“ (nach einer Forumulierung des ‚Canard enchaîné’) habe seine ersten Niederlage erlitten, und die „populärste Mabnahme“ seiner bisherigen Gesetzespakete – was auf die Sichtweise der Mittelschichten zweifellos zutrifft – sei kassiert worden. 

Fazit 

 Das französische Verfassungsgericht ist, auch mit seinen gegenüber dem deutschen Pendant eingeschränkten Vollmachten, selbstverständlich ein hochgradig politisches Organ. Seine neun Mitglieder werden zu je einem Drittel vom Staatspräsidenten, vom Präsidenten der Nationalversammlung und dem Präsidenten des Senats (also der zweiten Kammer des Parlamants) ernannt. Aktueller Vorsitzender des ‚Conseil Constitutionnel’ ist der frühere Innenminister Jean-Louis Debré, einer der letzten Getreuen von Altpräsident Jacques Chirac, der nicht anlässlich der Ablösung Chiracs durch Nicolas Sarkozy auf die Seite des Letztgenannten übergeschwenkt ist. Zwischen Debré und Sarkozy bleibt die alte Rivalität, die vor dem Ausgang der Wahlen vom Frühjahr 2007 (bei denen der konservative Bürgerblock in Gestalt der UMP, entgegen mancher vorherigen Anzeichen, eine Spaltung letzendlich doch vermeiden konnte) zwischen ‚chiraquiens’ und ‚sarkoystes’  bestanden hatte, noch spürbar. Gleichzeitig zählt Jean-Louis Debré, der (geistig eher dumpfe) eines früheren Premierministers unter Präsident de Gaulle, ein unumstöblicher Verteidiger der Interessen des Bürgerblocks. Insofern hat das jetzige Urteil auch beide politischen Imperative miteinander vereinbart: Nicolas Sarkozy an einem konkreten Punkt zu ärgern, und dennoch nicht wichtige Interessen bei den neoliberalen „Reformen“ zu opfern. 

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir von Autor am 26.08.07 zur Veröffentlichung.

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