Bernard Schmid berichtet aus Frankreich
Skandalumwittertes Urteil im französischen Lille
BRAUT HATTE GELOGEN, EHE KAPUTT

7/8-08

trend
onlinezeitung

Ein französisches Gericht annullierte einen Eheschluss, bei dem die Braut entgegen gegenteiliger Versicherung nicht „jungfräulich“ war. Dies sorgte für helle Empörung in der Öffentlichkeit. Zu Recht? Oder sagt das Urteil doch nicht aus, was in ihm vermutet wurde? Wären die Reaktionen auf es anders ausgefallen, hätte es sich nicht um eine Ehe unter Moslems gehandelt? Ungeachtet dessen hat das Urteil eine erhebliche potenzielle Tragweite.

Das Urteil fiel am 1. April dieses Jahres aber es handelte sich nicht um einen Aprilscherz. Aber erst Anfang Juni 2008 wurde es breiteren Kreisen der französischen Öffentlichkeit bekannt. Gestützt auf eine Veröffentlichung in einer juristischen Fachzeitschrift berichtete die Pariser Tageszeitung Libération am 29. des Vormonats, ein Gericht im nordfranzösischen Lille habe eine Eheschließung annulliert - also rückgängig gemacht -, weil die Braut keine „Jungfrau“ mehr gewesen sei.

Sofort entbrannte ein Entrüstungssturm gegen das „Skandalurteil“, wie es in breiten Kreisen genannt wurde. Als Erste reagierte die Philosophin Elisabeth Badinter - bekannt auch als die Gattin des früheren Justizministers Robert Badinter, der die Todesstrafe in Frankreich abschaffte, beide sind bekannte republikanische Universalisten jüdischer Herkunft. Madame Badinter rief öffentlich aus, sie „schäme“ sich für die französische Justiz. Und sie fügte hinzu: „Die Sexualität der Frauen in Frankreich ist eine Privatangelegenheit und absolut frei.“ Die Wochenzeitung der linksradikalen LCR, Rouge, übertitelte einen Leitartikel mit „sexistische Justiz“. Ihrerseits sah die konservative Staatssekretärin Valérie Létard, die für die Frauenrechte zuständig ist, eine „Regression des Status der Frau“ drohen. 73 Prozent der befragten Französinnen und Franzosen erklärten sich in einer Umfrage empört über das Urteil.

Worum ging es denn überhaupt?

Was war passiert? Im Juli 2006 ehelichte ein 30jähriger Ingenieur in Nordfrankreich eine damals 23jährige Krankenpflegeschülerin. Sie stammt aus einer moslemischen Familie. Er hingegen war erst als Erwachsener zum Islam konvertiert - wie man freilich erst bei sorgsamer Recherche in Erfahrung bringt. Konvertiten sind bekanntlich oftmals die schlimmsten Fanatiker. In jedem Falle legte „er“ größten Wert darauf, dass seine Angetraute „unberührt“ und „jungfräulich“ in die Ehe gehe. Sie war ihm, unter Freunden, als junge Frau von „guter Moralität“ empfohlen worden.

Allem Anschein nach hatte er seinem Wunsch, wie die Braut zu sein habe, auch gegenüber der Auserwählten selbst Ausdruck verliehen. Diese versicherte ihm jedoch, sie erfülle die Bedingung - und sie ging anscheinend selbst davon aus, dass diese Voraussetzung für den Verlobten wichtig genug sei, um das Zustandekommen der Ehe im gegenteiligen Falle zu verhindern. Nur hatte sie die Unwahrheit gesagt, da sie zuvor bereits mit einem anderen Mann sexuelle Beziehungen unterhalten hatte.

Es kam, wie es (in solchen Fällen) beinahe kommen musste: In der Hochzeitsnacht fühlte der Bräutigam sich angeschmiert und „betrogen“. Anstatt sich auf das plausible Argument zu verlegen, dass die von „ihm“ ersehnte Blutung auch bei manchen Frauen ohne sexuelles Vorleben aus diversen Gründen ausbleiben kann, gab „sie“ zu, wie sich die Dinge tatsächlich verhielten. Woraufhin der Bräutigam - ohne rot markiertes Bettlaken - wieder auf der Hochzeitsfeier auftauchte, wo die letzten Gäste an ihrem Pfefferminztee nippten. Und noch in der Nacht, andere Quelle sprechen vom folgenden Tag, die Braut zu ihren Eltern zurück begleiten ließ.

Einige Tage später forderte er vor einem Gericht die Annullierung der Ehe. Ein ungewöhnliches und eher seltenes Verfahren, denn üblicherweise verlangen mit ihrem Partner unzufriedene Eheleute eher die Scheidung. Aber der Code Civil, das aus der Napoléon-Ära stammende Bürgerliche Gesetzbuch Frankreichs, enthält dennoch einen Paragraphen (Artikel 180), der die Rückgängigmachung einer Ehe erlaubt. Die Existenz dieses Artikels hat historische Gründe: Vor 1975 war es schwer - je nach Periode unterschiedlich, aber vor allem seit dem frühen 20. Jahrhundert außerordentlich schwer -, eine Ehe scheiden zu lassen. Deshalb erlaubte der historische Code Civil es zumindest, sich aus der Bindung durch eine bestehende Ehe zu lösen, wenn schwerwiegende Gründe dafür sprachen, ihr die Gültigkeit zu verweigern.

Aufhebung der Ehe statt Scheidungsprozess

Normalerweise kennt das Gesetzbuch drei Gründe für die Nichtigkeit eines Vertrags: Erstens die Gewaltausübung, also das Zustandekommen eines Vertrags durch Druck - bei der Ehe auch im Falle von Druckausübung durch die Familie. Zum Zweiten die Täuschung des Vertragspartners - aber diesen Rechtsgrund ließen die Verfasser des Code Civil ausscheiden, denn nach ihrer Auffassung gehört zum Prozedere der Verführung immer ein Stück Täuschung hinzu. Ferner fürchteten sie sonst eine Flut von unzähligen Anfechtungen ihrer Ehe durch „enttäuschte“ Partner. Blieb noch der dritte Rechtsgrund: der Irrtum. Im Falle der Ehe wird er dann als Anfechtungsgrund akzeptiert, wenn es „Irrtum über eine grundlegende Wesenseigenschaft“ der angetrauten Person vorliegt. Als solche wurden in der Vergangenheit akzeptiert: die Fälle, in denen ein Ehepartner eine Vergangenheit als Prostituierte oder Strafgefangener verheimlicht hatte. Die Fälle verschwiegener Impotenz. Oder auch einen Fall während des Krieges, in dem ein Deutscher eine Französin geehelicht und ihr seine Nationalität verschwiegen hatte, indem er sich als Elsässer ausgab.

Die „Jungfräulichkeit“ gehört nicht dazu, ebenso wenig wie Charaktereigenschaften des oder der Auserwählten. Ein Urteil des Obersten Gerichtshofs hatte sie 1965 sogar explizit von den Anfechtungsgründen ausgeschlossen.

Heute wird üblicherweise von unzufriedenen Ehepartnern die Scheidung verlangt. Aber die Anfechtungsprozedur ist ungleich radikaler, denn sie sorgt dafür, dass im Falle des Gelingens die Ehe als „nie geschlossen“ gilt und beide Partner so behandelt wären, als seien sie nie verheiratet gewesen. Zudem gilt dieses Verfahren als schneller - was in der Praxis aber nicht zuzutreffen scheint, denn im jetzt in Lille beurteilten Fall vergingen auch immerhin zwei Jahre. Beim Vorliegen von gegenseitigem Einverständnis beider Betroffener hätte eine Scheidung auch nicht länger gedauert.

Die verstoßene Braut willigte aufgrund des Arguments, so ginge die Sache schneller aus als bei einem Scheidungsprozess, nach anfänglichem Widerspruch in die Prozedur ein. Und, nachdem die Anwälte sich untereinander geeinigt hatten, forderte ihrerseits - genau wie ihr bisheriger Ehemann - vom Gericht die Rückgängigmachung des Eheschlusses. Die Staatsanwaltschaft ihrerseits, die bei solchen Verfahren zu Rat gezogen wird, blieb neutral und erklärte, „auf die Weisheit des Gerichts zu vertrauen“.

Die Beweggründe des Gerichts

Aus diesem Grunde stimmte die Vorsitzende Richterin ohne Bedenken der rückwirkenden Auflösung der Ehe zu: Da ihre Aufgabe als Zivilrichterin darin besteht, einen Interessenausgleich zwischen widerstreitenden Parteien zu finden, in diesem Falle aber sämtliche Parteien für die Rückgängigmachung der Ehe plädierten, erblickte sie keinen Grund, gegen den gemeinsamen Willen der Parteien anzusteuern.

Insofern liegen dem Urteil des Gerichts selbst nicht die Beweggründe zugrunde, die ihm oft fälschlich attestiert o. unterstellt werden: Die Richterin - die laut Angaben des Justizministeriums inzwischen zahlreiche Drohbriefe erhalten hat - machte sich nicht die Auffassung zu eigen, die Ehe sei ungültig, weil die Braut nicht jungfräulich gewesen sei. Sie stützte sich vielmehr lediglich darauf, dass diese Auflösung der gemeinsame Wille aller Parteien sei, und dass ihrer Auffassung nach auch der Frau nicht der Fortbestand der Ehe gegen den Willen beider Beteiligten zugemutet werden könne. Die betroffene Ehefrau hat sich inzwischen auch in diesem Sinne zu Wort gemeldet: Da die Staatsanwaltschaft inzwischen Berufung gegen das Urteil eingelegt hat, ließ sie über ihren Anwalt erklärten, sie sei erschöpft und wolle, dass das Verfahren endlich beendet werde.

Aber aufgrund der möglichen Präzendenzwirkung des Urteils ist es längst zu einer Grundsatzfrage geworden, die nicht mehr nur die beiden Eheleute, sondern auch zahlreiche andere potenzielle Betroffene in späteren Prozessen angeht.

Die Richterin in Lille begründete die Ungültigkeit der Ehe mit der Lüge seitens der Braut vor der Hochzeit, aufgrund derer die Heirat nicht auf ein Vertrauensverhältnis begründet werden konnte. Genau betrachtet, war also nicht die fehlende Jungfräulichkeit der Grund für die Annullierung der Ehe, sondern die ausgesprochene Unwahrheit über diese fehlende Jungfräulichkeit.

Freilich lässt das Urteil beide Interpretationen offen. Und, vor allem, es droht zum Präzendenzfall für eine Flut weiterer Verfahren zu werden, in denen unzufriedene Männer aufgrund des Flunkerns über frühere Beziehungen vor dem Eheschluss eine Annullierung desselben fordern könnten. Aus diesem Grunde gingen auch die Wogen der Empörung hoch. Denn einerseits wird die Erfordernis der „Jungfräulichkeit“ in breitesten Kreisen als grundsätzliche Diskriminierung der Frauen gegenüber Männern betrachten: Nach Auffassung religiöser Kreise haben zwar die Männer ebenso wie die Frauen keinen Sex außerhalb oder gar vor der Ehe zu haben. Nur lässt sich das bei ihnen, aus anatomischen Gründen, bekanntlich nicht feststellen.

Auf der anderen Seite nimmt der Druck - nicht nur, aber vorwiegend aus Kreisen eines Teils der muslimischen Bevölkerung - auf die Frauen in dieser Frage in den letzten Jahren konstant zu. Er führt dazu, dass ein Florieren der „Industrie der Jungfräulichkeitsoperationen“ festgestellt wird: Betroffene Frauen können etwa für 1.250 Euro eine Reise nach Tunesien, wo es darauf spezialisierte Kliniken gibt, antreten. Ähnlich wie es früher einen „Abtreibungstourismus“ in die Niederlande gab. In Frankreich selbst werden ähnliche Operationen angeboten, nur teurer.

Kein tauglicher Anlass zu Anti-Moslem-Hetze – schon gar nicht pauschaler Art

Dabei ist die Obsession von der „Jungfräulichkeit“ des weiblichen Geschlechts ursprünglich gar keine speziell islamische Angelegenheit. Im Gegenteil beharrte historisch das Christentum weitaus eher auf dieser Anforderung: Hat man doch in dieser Religion aus der „Jungfrauengeburt Marias“ ein Dogma erschaffen, zu dem es im Islam nichts Vergleichbares gibt. Auch erkennt die muslimische Religion das Recht auf Scheidung - allerdings weitaus eher und leichter dasjenige des Mannes als der Frau - und, für beide Geschlechter, auf Wiederverheiratung von Geschiedenen an.

Nur hat das katholische Christentum heute die Bindungswirkung als sozialer Kitt, die es in Teilen Frankreichs noch vor wenigen Jahrzehnten hatte, fast vollständig eingebüßt - anders als der Islam für bedeutende Teile der aus mehrheitlich muslimisch geprägten Ländern, wofür es soziale, politische und historische Gründe gibt. Deshalb schaffen es reaktionäre Kreise aus dem Christentum auch nicht, ihre Wünsche der übrigen Gesellschaft als „moralisch verbindlich“ vorzuschreiben. Aus diesen Milieus wird allerdings die Prozedur der Rückgängigmachung - statt Scheidung - einer Ehe ebenfalls eifrig genutzt. So ließ die frühere italienische Parlamentspräsident Irene Pivetti (Lega Nord, 1994 im Amt) ihre Ehe eigens durch eine Sonderentscheidung vom Vatikan annullieren. Und die ebenfalls katholisch-fundamentalistisch orientierte französische Wohnungsbauministerin, Christine Boutin, gehört zu den lautstarksten Befürworterinnen des Urteils von Lille.

Insofern drohte das Urteil ein gefährliches Einfallstor für zukünftige Neuinterpretation der, allgemein formulierten, Bestimmung des Code Civil zu liefern. Ansonsten hatte es, von Christinen Boutin abgesehen, nur wenige Befürworterinnen. Zu ihnen gehört freilich die amtierende Justizministerin Rachida Dati. Und dies wohl aus mindestens zwei Gründen: Auf der einen Seite versucht sie die gerichtliche Institution in Schutz zu nehmen, da ihr ebenfalls bekannt ist, dass das Urteil von Lille in Wirklichkeit nicht aus religiösen Motiven resultiert. Andererseits hat Dati aber auch selbst in der Vergangenheit eine unglücklich geschlossene Ehe in ihrem eigenen Namen auflösen - statt nachträglich scheiden - lassen. Insofern reagiert sie in gewisser Weise wie ein gebranntes Kind. Nachdem sie auf breiter Front aufgrund ihrer Haltung in der jüngsten Affäre angegriffen worden ist, hat Präsident Nicolas Sarkozy Anfang/Mitte Juni schließlich schützend vor seine Justizministerin gestellt und ihre lauteren Motive verteidigt.

Interessant ist nicht zuletzt, dass fast alle muslimischen Verbänden und Websites ihrerseits nicht mit dem Urteil von Lille in Verbindung gebracht werden möchten. Auf der Website Oumma.com ging sogar eine sehr offene Diskussion um Fragen der Sexualität und „Jungfräulichkeit“ los, wobei eine Eheberaterin zu Wort kam, die letztere Frage als „Privatangelegenheit“ einstufte. Auf der Webseite afrik.com äußerten sich westafrikanische - etwa senegalesische - Muslime konsterniert über das Urteil und den Jungfräulichkeitsfimmel und wiesen darauf hin, dass „auch der Prophet Mohammed Nicht-Jungfrauen geheiratet“ habe. Und ein Gelehrter der Al Azhar-Universität in Kairo riet sogar in einem Gutachten den muslismischen Frauen, sie sollten ruhig in der Frage ihrer „Jungfräulichkeit“ lügen - und die Sache mit sich und „Gott“ ausmachen.

Insofern passt das Bild, das nun besonders von Rechtsradikalen gezeichnet wird - stets darum bemüht, eine drohende „Invasion“ und Überfremdung Frankreichs zu beschwören - infolge derer aufgrund des „Drucks der Muslime und der Einwanderung“ bald die Sharia im Lande eingeführt werde, überhaupt nicht. Unabhängig von diesen rassistischen Wahnvorstellungen droht aber tatsächlich ein weiterer Druck auf junge Frauen und Mädchen aus muslimischen Familien ausgeübt zu werden, falls das Urteil von Lille Schule macht - auch gegen die Absicht der Richterin, die es abgab.

Französische Frauenrechtlerinnen fordern deswegen nun eine Gesetzesänderung, die den Artikel 180 des Code Civil in einer Weise klarstellt, dass er keinerlei Interpretationsspielraum bezüglich „fehlender Jungfräulichkeit“ mehr zulässt. Sofern schon rein positiv-rechtlich das Tor zu einer solchen Interpretation verschlossen wird, dürfte das Problem tatsächlich (s)eine Lösung gefunden haben.
 

Editorische Anmerkungen

Der Text  wurde uns vom Autor für diese Ausgabe zur Verfügung gestellt.