Ein
französisches Gericht annullierte einen Eheschluss, bei dem die
Braut entgegen gegenteiliger Versicherung nicht „jungfräulich“
war. Dies sorgte für helle Empörung in der Öffentlichkeit. Zu
Recht? Oder sagt das Urteil doch nicht aus, was in ihm vermutet
wurde? Wären die Reaktionen auf es anders ausgefallen, hätte es
sich nicht um eine Ehe unter Moslems gehandelt? Ungeachtet
dessen hat das Urteil eine erhebliche potenzielle Tragweite.
Das Urteil fiel am 1. April
dieses Jahres aber es handelte sich nicht um einen Aprilscherz.
Aber erst Anfang Juni 2008 wurde es breiteren Kreisen der
französischen Öffentlichkeit bekannt. Gestützt auf eine
Veröffentlichung in einer juristischen Fachzeitschrift
berichtete die Pariser Tageszeitung Libération am 29. des
Vormonats, ein Gericht im nordfranzösischen Lille habe eine
Eheschließung annulliert - also rückgängig gemacht -, weil die
Braut keine „Jungfrau“ mehr gewesen sei.
Sofort entbrannte ein Entrüstungssturm gegen das
„Skandalurteil“, wie es in breiten Kreisen genannt wurde. Als
Erste reagierte die Philosophin Elisabeth Badinter - bekannt
auch als die Gattin des früheren Justizministers Robert Badinter,
der die Todesstrafe in Frankreich abschaffte, beide sind
bekannte republikanische Universalisten jüdischer Herkunft.
Madame Badinter rief öffentlich aus, sie „schäme“ sich für die
französische Justiz. Und sie fügte hinzu: „Die Sexualität der
Frauen in Frankreich ist eine Privatangelegenheit und absolut
frei.“ Die Wochenzeitung der linksradikalen LCR, Rouge,
übertitelte einen Leitartikel mit „sexistische Justiz“.
Ihrerseits sah die konservative Staatssekretärin Valérie Létard,
die für die Frauenrechte zuständig ist, eine „Regression des
Status der Frau“ drohen. 73 Prozent der befragten Französinnen
und Franzosen erklärten sich in einer Umfrage empört über das
Urteil.
Worum ging es denn überhaupt?
Was war passiert? Im Juli 2006 ehelichte ein 30jähriger
Ingenieur in Nordfrankreich eine damals 23jährige
Krankenpflegeschülerin. Sie stammt aus einer moslemischen
Familie. Er hingegen war erst als Erwachsener zum Islam
konvertiert - wie man freilich erst bei sorgsamer Recherche in
Erfahrung bringt. Konvertiten sind bekanntlich oftmals die
schlimmsten Fanatiker. In jedem Falle legte „er“ größten Wert
darauf, dass seine Angetraute „unberührt“ und „jungfräulich“ in
die Ehe gehe. Sie war ihm, unter Freunden, als junge Frau von
„guter Moralität“ empfohlen worden.
Allem Anschein nach hatte er seinem Wunsch, wie die Braut zu
sein habe, auch gegenüber der Auserwählten selbst Ausdruck
verliehen. Diese versicherte ihm jedoch, sie erfülle die
Bedingung - und sie ging anscheinend selbst davon aus, dass
diese Voraussetzung für den Verlobten wichtig genug sei, um das
Zustandekommen der Ehe im gegenteiligen Falle zu verhindern. Nur
hatte sie die Unwahrheit gesagt, da sie zuvor bereits mit einem
anderen Mann sexuelle Beziehungen unterhalten hatte.
Es kam, wie es (in solchen Fällen) beinahe kommen musste: In der
Hochzeitsnacht fühlte der Bräutigam sich angeschmiert und
„betrogen“. Anstatt sich auf das plausible Argument zu verlegen,
dass die von „ihm“ ersehnte Blutung auch bei manchen Frauen ohne
sexuelles Vorleben aus diversen Gründen ausbleiben kann, gab
„sie“ zu, wie sich die Dinge tatsächlich verhielten. Woraufhin
der Bräutigam - ohne rot markiertes Bettlaken - wieder auf der
Hochzeitsfeier auftauchte, wo die letzten Gäste an ihrem
Pfefferminztee nippten. Und noch in der Nacht, andere Quelle
sprechen vom folgenden Tag, die Braut zu ihren Eltern zurück
begleiten ließ.
Einige Tage später forderte er vor einem Gericht die
Annullierung der Ehe. Ein ungewöhnliches und eher seltenes
Verfahren, denn üblicherweise verlangen mit ihrem Partner
unzufriedene Eheleute eher die Scheidung. Aber der Code Civil,
das aus der Napoléon-Ära stammende Bürgerliche Gesetzbuch
Frankreichs, enthält dennoch einen Paragraphen (Artikel 180),
der die Rückgängigmachung einer Ehe erlaubt. Die Existenz dieses
Artikels hat historische Gründe: Vor 1975 war es schwer - je
nach Periode unterschiedlich, aber vor allem seit dem frühen 20.
Jahrhundert außerordentlich schwer -, eine Ehe scheiden zu
lassen. Deshalb erlaubte der historische Code Civil es
zumindest, sich aus der Bindung durch eine bestehende Ehe zu
lösen, wenn schwerwiegende Gründe dafür sprachen, ihr die
Gültigkeit zu verweigern.
Aufhebung der Ehe statt Scheidungsprozess
Normalerweise kennt das Gesetzbuch drei Gründe für die
Nichtigkeit eines Vertrags: Erstens die Gewaltausübung, also das
Zustandekommen eines Vertrags durch Druck - bei der Ehe auch im
Falle von Druckausübung durch die Familie. Zum Zweiten die
Täuschung des Vertragspartners - aber diesen Rechtsgrund ließen
die Verfasser des Code Civil ausscheiden, denn nach ihrer
Auffassung gehört zum Prozedere der Verführung immer ein Stück
Täuschung hinzu. Ferner fürchteten sie sonst eine Flut von
unzähligen Anfechtungen ihrer Ehe durch „enttäuschte“ Partner.
Blieb noch der dritte Rechtsgrund: der Irrtum. Im Falle der Ehe
wird er dann als Anfechtungsgrund akzeptiert, wenn es „Irrtum
über eine grundlegende Wesenseigenschaft“ der angetrauten Person
vorliegt. Als solche wurden in der Vergangenheit akzeptiert: die
Fälle, in denen ein Ehepartner eine Vergangenheit als
Prostituierte oder Strafgefangener verheimlicht hatte. Die Fälle
verschwiegener Impotenz. Oder auch einen Fall während des
Krieges, in dem ein Deutscher eine Französin geehelicht und ihr
seine Nationalität verschwiegen hatte, indem er sich als
Elsässer ausgab.
Die „Jungfräulichkeit“ gehört nicht dazu, ebenso wenig wie
Charaktereigenschaften des oder der Auserwählten. Ein Urteil des
Obersten Gerichtshofs hatte sie 1965 sogar explizit von den
Anfechtungsgründen ausgeschlossen.
Heute wird üblicherweise von unzufriedenen Ehepartnern die
Scheidung verlangt. Aber die Anfechtungsprozedur ist ungleich
radikaler, denn sie sorgt dafür, dass im Falle des Gelingens die
Ehe als „nie geschlossen“ gilt und beide Partner so behandelt
wären, als seien sie nie verheiratet gewesen. Zudem gilt dieses
Verfahren als schneller - was in der Praxis aber nicht
zuzutreffen scheint, denn im jetzt in Lille beurteilten Fall
vergingen auch immerhin zwei Jahre. Beim Vorliegen von
gegenseitigem Einverständnis beider Betroffener hätte eine
Scheidung auch nicht länger gedauert.
Die verstoßene Braut willigte aufgrund des Arguments, so ginge
die Sache schneller aus als bei einem Scheidungsprozess, nach
anfänglichem Widerspruch in die Prozedur ein. Und, nachdem die
Anwälte sich untereinander geeinigt hatten, forderte ihrerseits
- genau wie ihr bisheriger Ehemann - vom Gericht die
Rückgängigmachung des Eheschlusses. Die Staatsanwaltschaft
ihrerseits, die bei solchen Verfahren zu Rat gezogen wird, blieb
neutral und erklärte, „auf die Weisheit des Gerichts zu
vertrauen“.
Die Beweggründe des Gerichts
Aus diesem Grunde stimmte die Vorsitzende Richterin ohne
Bedenken der rückwirkenden Auflösung der Ehe zu: Da ihre Aufgabe
als Zivilrichterin darin besteht, einen Interessenausgleich
zwischen widerstreitenden Parteien zu finden, in diesem Falle
aber sämtliche Parteien für die Rückgängigmachung der Ehe
plädierten, erblickte sie keinen Grund, gegen den gemeinsamen
Willen der Parteien anzusteuern.
Insofern liegen dem Urteil des Gerichts selbst nicht die
Beweggründe zugrunde, die ihm oft fälschlich attestiert o.
unterstellt werden: Die Richterin - die laut Angaben des
Justizministeriums inzwischen zahlreiche Drohbriefe erhalten hat
- machte sich nicht die Auffassung zu eigen, die Ehe sei
ungültig, weil die Braut nicht jungfräulich gewesen sei. Sie
stützte sich vielmehr lediglich darauf, dass diese Auflösung der
gemeinsame Wille aller Parteien sei, und dass ihrer Auffassung
nach auch der Frau nicht der Fortbestand der Ehe gegen den
Willen beider Beteiligten zugemutet werden könne. Die betroffene
Ehefrau hat sich inzwischen auch in diesem Sinne zu Wort
gemeldet: Da die Staatsanwaltschaft inzwischen Berufung gegen
das Urteil eingelegt hat, ließ sie über ihren Anwalt erklärten,
sie sei erschöpft und wolle, dass das Verfahren endlich beendet
werde.
Aber aufgrund der möglichen Präzendenzwirkung des Urteils ist es
längst zu einer Grundsatzfrage geworden, die nicht mehr nur die
beiden Eheleute, sondern auch zahlreiche andere potenzielle
Betroffene in späteren Prozessen angeht.
Die Richterin in Lille begründete die Ungültigkeit der Ehe mit
der Lüge seitens der Braut vor der Hochzeit, aufgrund derer die
Heirat nicht auf ein Vertrauensverhältnis begründet werden
konnte. Genau betrachtet, war also nicht die fehlende
Jungfräulichkeit der Grund für die Annullierung der Ehe, sondern
die ausgesprochene Unwahrheit über diese fehlende
Jungfräulichkeit.
Freilich lässt das Urteil beide Interpretationen offen. Und, vor
allem, es droht zum Präzendenzfall für eine Flut weiterer
Verfahren zu werden, in denen unzufriedene Männer aufgrund des
Flunkerns über frühere Beziehungen vor dem Eheschluss eine
Annullierung desselben fordern könnten. Aus diesem Grunde gingen
auch die Wogen der Empörung hoch. Denn einerseits wird die
Erfordernis der „Jungfräulichkeit“ in breitesten Kreisen als
grundsätzliche Diskriminierung der Frauen gegenüber Männern
betrachten: Nach Auffassung religiöser Kreise haben zwar die
Männer ebenso wie die Frauen keinen Sex außerhalb oder gar vor
der Ehe zu haben. Nur lässt sich das bei ihnen, aus anatomischen
Gründen, bekanntlich nicht feststellen.
Auf der anderen Seite nimmt der Druck - nicht nur, aber
vorwiegend aus Kreisen eines Teils der muslimischen Bevölkerung
- auf die Frauen in dieser Frage in den letzten Jahren konstant
zu. Er führt dazu, dass ein Florieren der „Industrie der
Jungfräulichkeitsoperationen“ festgestellt wird: Betroffene
Frauen können etwa für 1.250 Euro eine Reise nach Tunesien, wo
es darauf spezialisierte Kliniken gibt, antreten. Ähnlich wie es
früher einen „Abtreibungstourismus“ in die Niederlande gab. In
Frankreich selbst werden ähnliche Operationen angeboten, nur
teurer.
Kein tauglicher Anlass zu Anti-Moslem-Hetze – schon gar nicht
pauschaler Art
Dabei ist die Obsession von der „Jungfräulichkeit“ des
weiblichen Geschlechts ursprünglich gar keine speziell
islamische Angelegenheit. Im Gegenteil beharrte historisch das
Christentum weitaus eher auf dieser Anforderung: Hat man doch in
dieser Religion aus der „Jungfrauengeburt Marias“ ein Dogma
erschaffen, zu dem es im Islam nichts Vergleichbares gibt. Auch
erkennt die muslimische Religion das Recht auf Scheidung -
allerdings weitaus eher und leichter dasjenige des Mannes als
der Frau - und, für beide Geschlechter, auf Wiederverheiratung
von Geschiedenen an.
Nur hat das katholische Christentum heute die Bindungswirkung
als sozialer Kitt, die es in Teilen Frankreichs noch vor wenigen
Jahrzehnten hatte, fast vollständig eingebüßt - anders als der
Islam für bedeutende Teile der aus mehrheitlich muslimisch
geprägten Ländern, wofür es soziale, politische und historische
Gründe gibt. Deshalb schaffen es reaktionäre Kreise aus dem
Christentum auch nicht, ihre Wünsche der übrigen Gesellschaft
als „moralisch verbindlich“ vorzuschreiben. Aus diesen Milieus
wird allerdings die Prozedur der Rückgängigmachung - statt
Scheidung - einer Ehe ebenfalls eifrig genutzt. So ließ die
frühere italienische Parlamentspräsident Irene Pivetti (Lega
Nord, 1994 im Amt) ihre Ehe eigens durch eine Sonderentscheidung
vom Vatikan annullieren. Und die ebenfalls
katholisch-fundamentalistisch orientierte französische
Wohnungsbauministerin, Christine Boutin, gehört zu den
lautstarksten Befürworterinnen des Urteils von Lille.
Insofern drohte das Urteil ein gefährliches Einfallstor für
zukünftige Neuinterpretation der, allgemein formulierten,
Bestimmung des Code Civil zu liefern. Ansonsten hatte es, von
Christinen Boutin abgesehen, nur wenige Befürworterinnen. Zu
ihnen gehört freilich die amtierende Justizministerin Rachida
Dati. Und dies wohl aus mindestens zwei Gründen: Auf der einen
Seite versucht sie die gerichtliche Institution in Schutz zu
nehmen, da ihr ebenfalls bekannt ist, dass das Urteil von Lille
in Wirklichkeit nicht aus religiösen Motiven resultiert.
Andererseits hat Dati aber auch selbst in der Vergangenheit eine
unglücklich geschlossene Ehe in ihrem eigenen Namen auflösen -
statt nachträglich scheiden - lassen. Insofern reagiert sie in
gewisser Weise wie ein gebranntes Kind. Nachdem sie auf breiter
Front aufgrund ihrer Haltung in der jüngsten Affäre angegriffen
worden ist, hat Präsident Nicolas Sarkozy Anfang/Mitte Juni
schließlich schützend vor seine Justizministerin gestellt und
ihre lauteren Motive verteidigt.
Interessant ist nicht zuletzt, dass fast alle muslimischen
Verbänden und Websites ihrerseits nicht mit dem Urteil von Lille
in Verbindung gebracht werden möchten. Auf der Website Oumma.com
ging sogar eine sehr offene Diskussion um Fragen der Sexualität
und „Jungfräulichkeit“ los, wobei eine Eheberaterin zu Wort kam,
die letztere Frage als „Privatangelegenheit“ einstufte. Auf der
Webseite afrik.com äußerten sich westafrikanische - etwa
senegalesische - Muslime konsterniert über das Urteil und den
Jungfräulichkeitsfimmel und wiesen darauf hin, dass „auch der
Prophet Mohammed Nicht-Jungfrauen geheiratet“ habe. Und ein
Gelehrter der Al Azhar-Universität in Kairo riet sogar in einem
Gutachten den muslismischen Frauen, sie sollten ruhig in der
Frage ihrer „Jungfräulichkeit“ lügen - und die Sache mit sich
und „Gott“ ausmachen.
Insofern passt das Bild, das nun besonders von Rechtsradikalen
gezeichnet wird - stets darum bemüht, eine drohende „Invasion“
und Überfremdung Frankreichs zu beschwören - infolge derer
aufgrund des „Drucks der Muslime und der Einwanderung“ bald die
Sharia im Lande eingeführt werde, überhaupt nicht. Unabhängig
von diesen rassistischen Wahnvorstellungen droht aber
tatsächlich ein weiterer Druck auf junge Frauen und Mädchen aus
muslimischen Familien ausgeübt zu werden, falls das Urteil von
Lille Schule macht - auch gegen die Absicht der Richterin, die
es abgab.
Französische Frauenrechtlerinnen fordern deswegen nun eine
Gesetzesänderung, die den Artikel 180 des Code Civil in einer
Weise klarstellt, dass er keinerlei Interpretationsspielraum
bezüglich „fehlender Jungfräulichkeit“ mehr zulässt. Sofern
schon rein positiv-rechtlich das Tor zu einer solchen
Interpretation verschlossen wird, dürfte das Problem tatsächlich
(s)eine Lösung gefunden haben.
Editorische Anmerkungen
Der Text
wurde uns vom Autor für diese Ausgabe zur Verfügung gestellt.
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