Evangelischer
Kirchenkreis Steglitz, CDU Steglitz-Zehlendorf, SPD
Steglitz-Zehlendorf, Bündnis 90 / Die Grünen
Steglitz-Zehlendorf, FDP
Steglitz-Zehlendorf, Die Linke Steglitz-Zehlendorf, Initiative
KZ-Außenlager Lichterfelde e. V.,
Initiative Haus Wolfenstein, Evangelische Jugend
Steglitz, Junge Union Steglitz-Zehlendorf, Jusos
Südwest, Grüne Jugend
Steglitz-Zehlendorf
Sehr verehrte Damen und
Herren,
für die Durchführung der
Demonstration vom 19. Juli 2008 unter dem Motto
„Kein Platz für Nazis in Steglitz-Zehlendorf" möchten wir
Ihnen unseren Dank aussprechen, fühlen
wir, eine Überlebende des Holocaust und ein Angehöriger,
uns doch durch diese und ähnliche Aktionen zur
Verteidigung der Demokratie
außerordentlich geschützt.
Nicht geschützt fühlt sich
meine Mutter Frau Dora Dick, Überlebende des
Holocaust, durch Sozialamt und Sozialpsychiatrischen
Dienst des Berliner Stadtbezirks
Steglitz-Zehlendorf. Seit 2005 führen Mitarbeiter der genannten
staatlichen Institutionen, namentlich der letzteren, eine
gegen meine Mutter gerichtete
Auseinandersetzung, als Teil einer konzertierten Aktion
mit der GAGFAH, die im Januar 2005 meiner Mutter die
Wohnung fristlos kündigte. Sie wurde
bedrängt. Meine Mutter steht im hohen Alter von
siebenundneunzig Jahren und ist schwerstpflegebedürftig,
vor allem auf Grund der
Gesundheitsschäden, die ihr während der Zeit des
Nationalsozialismus zugefügt wurden.
Pflegekasse und Sozialamt fungieren als Leistungsträger
der ihr zustehenden ambulanten Pflege. Bereits 2005 und
2007 waren verfassungsgestützte
Petitionen an den Sozialstadtrat von
Steglitz-Zehlendorf notwendig, um beim Sozialamt massive
Blockadehaltungen aufzulösen und den Weg
für die Gewährung medizinisch indizierter
Pflegehilfsleistungen freizumachen.
Seit März 2008 ist meine
Mutter erneut schutzlos der Verweigerung von
zusätzlicher Pflegehilfsleistung seitens der genannten
Behörden ausgeliefert – trotz eines
gesetzeskonformen Antrages, trotz Befürwortung
durch die zuständige Ärztin, trotz des Vorliegens von
drei fachärztlichen Gutachten.
Behördlicherseits stellt man sich bezüglich der jetzt
erforderlich gewordenen Pflegeerweiterung taub, man nimmt
nicht einmal den Namen dieser konkreten
Pflegeleistung in den Mund, man riskiert objektiv
eine Situation mit unabsehbaren Folgen für Leib und Leben
einer Überlebenden des Holocaust.
Im Juni 2008 erging daher
eine dritte Petition an den Sozialstadtrat. Bisher
ohne Erfolg, was nach Einschätzung von zuständiger Ärztin
und Pflegestation unverantwortlich ist.
Was haben die
Antragsbearbeiter beim Bezirksamt von Steglitz-Zehlendorf
meiner Mutter vorzuwerfen? Dass sie den Holocaust
überlebt hat? Dass sie sich seit ihrer
frühen Jugend als kämpfende Antifaschistin versteht? Dass
auch ihr hohes Alter sie nicht davon abbringen kann, sich
aktiv in die Verteidigung unserer
Demokratie einzubringen, wie jüngst bei den
Auseinandersetzungen um die Umbenennung der Steglitzer
Treitschkestraße, als sie von ihrem Recht
Gebrauch machte, sich mit einem offenen Brief an die
Abgeordneten der Bezirksverordnetenversammlung ihres
Bezirkes zu wenden?
Dass sie die Stirn hat zu
leben? Man sollte den Vorwurf doch
behördlicherseits offen benennen, statt permanent eine
versteckte Diskriminierungskampagne gegen
meine Mutter zu führen, denn dann könnte man
in einen offenen Dialog treten, der möglicherweise auch
dem im Stadtbezirk Steglitz-Zehlendorf
geführten Diskurs über Erinnerung und Verpflichtung
neue Impulse verleihen würde.
Meine Mutter ist Jüdin, und
sie ist als solche von den Nazis grausam
verfolgt worden. Die gesamte Familie ist verschollen,
vernichtet. Aber sie stand auch im
antifaschistischen Widerstand. Sie kämpfte gemeinsam mit
jüdischen und nichtjüdischen Deutschen gegen die Nazis,
und dies bereits vor 1933. Als politisch
engagierte Jüdin emigrierte sie unter lebensgefährlichen
Umständen aus Nazideutschland, floh im Jahre 1933 nach
Prag, arbeitete dort politisch, tauchte
nach dem Einmarsch Hitlers unter, floh abermals unter
lebensgefährlichen Umständen aus der Tschechoslowakei,
rettete sich über Warschau und Malmö nach
England, wo sie zusammen mit Oskar Kokoschka, Stefan
Zweig, Alfred Kerr, John Heartfield, Jürgen Kuczynski,
Annemarie Haase, Dorothea Wüsten und
vielen anderen engagierten Verfolgten des Naziregimes
Mitbegründerin des Freien Deutschen Kulturbundes in
Großbritannien wurde, einer
antifaschistischen Vereinigung, die originäre Beiträge von
unschätzbarem Wert für die politische und kulturelle
Befreiung Deutschlands erarbeitete.
Meine Mutter ist Trägerin der
„Medaille der Kämpfer gegen den Faschismus
1933-1945". Sie hat nach 1945 in der Gewerkschaftsarbeit
ihren unverwechselbaren Beitrag zur
demokratischen Erneuerung der
gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik
Deutschland geleistet.
Meine Mutter Frau Dora Dick
hat ihr Leben für den Kampf gegen die
Hitlerdiktatur und für den Sieg der Menschenrechte auf deutschem
Boden nicht deshalb selbstlos eingesetzt,
damit ihr dann im hohen Alter die
Menschenrechte streitig gemacht werden. Entsprechend der
Generallinie der Regierung der
Bundesrepublik Deutschland stehen meiner Mutter alle Rechte
einer anerkannten Verfolgten des Naziregimes zu. Die
Regierung der Bundesrepublik Deutschland
erklärte im Jahre 2005 anlässlich des
Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus feierlich:
„Den Nachfahren der Opfer und den
Überlebenden eine gewisse Genugtuung zu
verschaffen, ist möglich. Zu dieser Verantwortung steht die
Bundesrepublik seit geraumer Zeit mit
ihrer Politik und ihrer Justiz – getragen vom
Rechtsbewusstsein ihrer Bürger."
Eigentlich müsste es den
Staatsbediensteten des Stadtbezirks
Steglitz-Zehlendorf von Berlin eine Ehre sein, alles in ihren
Kräften Stehende tun zu dürfen, damit
eine in ihrem Stadtbezirk wohnende Überlebende
des Naziterrors eine optimale gesundheitliche Versorgung
erhält. Es herrscht jedoch über weite
Strecken Gleichgültigkeit bis Ablehnung.
Angesichts dieses politischen
Desasters ersuchen wir Sie, sich für meine
Mutter im Bezirk stark zu machen, um ihr Überleben zu
sichern – mit demselben Engagement, mit
dem Sie diese Manifestation einer wehrhaften
Demokratie vom 19. Juli vorbereitet und erfolgreich
durchgeführt haben. Wir ersuchen Sie vor
allem, den ganz offensichtlich notwendigen politischen
Klärungsprozess im Bezirksamt so voranzutreiben, damit
meiner Mutter zukünftig keiner Bedrängnis
mehr ausgesetzt wird. Wir erwarten von allen für
meine Mutter zuständigen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern des Bezirksamtes eine
Arbeitshaltung der tätigen Solidarität. „Demokratie braucht
Schutz vor denen, die sie abschaffen
wollen", heißt es in Ihrem Aufruf gegen den
Vormarsch der NPD in Steglitz-Zehlendorf. Wir erlauben
uns hinzuzufügen: Verfolgte des
Naziregimes brauchen Schutz vor denen, die ihre
Anerkennung mit Füßen treten.
Berlin, 20. Juli 2008
Dr. Antonín Dick