Offener Brief
an die Träger der Anti-NPD-Demonstration vom 19. Juli 2008 in Steglitz-Zehlendorf

Von
Antonin Dick

7/8-08

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onlinezeitung

Evangelischer Kirchenkreis Steglitz, CDU Steglitz-Zehlendorf, SPD Steglitz-Zehlendorf, Bündnis 90 / Die Grünen Steglitz-Zehlendorf, FDP Steglitz-Zehlendorf, Die Linke Steglitz-Zehlendorf, Initiative KZ-Außenlager Lichterfelde e. V., Initiative Haus Wolfenstein, Evangelische Jugend Steglitz, Junge Union Steglitz-Zehlendorf, Jusos Südwest, Grüne Jugend Steglitz-Zehlendorf

Sehr verehrte Damen und Herren,

für die Durchführung der Demonstration vom 19. Juli 2008 unter dem Motto „Kein Platz für Nazis in Steglitz-Zehlendorf" möchten wir Ihnen unseren Dank aussprechen, fühlen wir, eine Überlebende des Holocaust und ein Angehöriger, uns doch durch diese und ähnliche Aktionen zur Verteidigung der Demokratie außerordentlich geschützt.

Nicht geschützt fühlt sich meine Mutter Frau Dora Dick, Überlebende des Holocaust, durch Sozialamt und Sozialpsychiatrischen Dienst des Berliner Stadtbezirks Steglitz-Zehlendorf. Seit 2005 führen Mitarbeiter der genannten staatlichen Institutionen, namentlich der letzteren, eine gegen meine Mutter gerichtete Auseinandersetzung, als Teil einer konzertierten Aktion mit der GAGFAH, die im Januar 2005 meiner Mutter die Wohnung fristlos kündigte. Sie wurde bedrängt. Meine Mutter steht im hohen Alter von siebenundneunzig Jahren und ist schwerstpflegebedürftig, vor allem auf Grund der Gesundheitsschäden, die ihr während der Zeit des Nationalsozialismus zugefügt wurden. Pflegekasse und Sozialamt fungieren als Leistungsträger der ihr zustehenden ambulanten Pflege. Bereits 2005 und 2007 waren verfassungsgestützte Petitionen an den Sozialstadtrat von Steglitz-Zehlendorf notwendig, um beim Sozialamt massive Blockadehaltungen aufzulösen und den Weg für die Gewährung medizinisch indizierter Pflegehilfsleistungen freizumachen.

Seit März 2008 ist meine Mutter erneut schutzlos der Verweigerung von zusätzlicher Pflegehilfsleistung seitens der genannten Behörden ausgeliefert – trotz eines gesetzeskonformen Antrages, trotz Befürwortung durch die zuständige Ärztin, trotz des Vorliegens von drei fachärztlichen Gutachten. Behördlicherseits stellt man sich bezüglich der jetzt erforderlich gewordenen Pflegeerweiterung taub, man nimmt nicht einmal den Namen dieser konkreten Pflegeleistung in den Mund, man riskiert objektiv eine Situation mit unabsehbaren Folgen für Leib und Leben einer Überlebenden des Holocaust.

Im Juni 2008 erging daher eine dritte Petition an den Sozialstadtrat. Bisher ohne Erfolg, was nach Einschätzung von zuständiger Ärztin und Pflegestation unverantwortlich ist.

Was haben die Antragsbearbeiter beim Bezirksamt von Steglitz-Zehlendorf meiner Mutter vorzuwerfen? Dass sie den Holocaust überlebt hat? Dass sie sich seit ihrer frühen Jugend als kämpfende Antifaschistin versteht? Dass auch ihr hohes Alter sie nicht davon abbringen kann, sich aktiv in die Verteidigung unserer Demokratie einzubringen, wie jüngst bei den Auseinandersetzungen um die Umbenennung der Steglitzer Treitschkestraße, als sie von ihrem Recht Gebrauch machte, sich mit einem offenen Brief an die Abgeordneten der Bezirksverordnetenversammlung ihres Bezirkes zu wenden?

Dass sie die Stirn hat zu leben? Man sollte den Vorwurf doch behördlicherseits offen benennen, statt permanent eine versteckte Diskriminierungskampagne gegen meine Mutter zu führen, denn dann könnte man in einen offenen Dialog treten, der möglicherweise auch dem im Stadtbezirk Steglitz-Zehlendorf geführten Diskurs über Erinnerung und Verpflichtung neue Impulse verleihen würde.

Meine Mutter ist Jüdin, und sie ist als solche von den Nazis grausam verfolgt worden. Die gesamte Familie ist verschollen, vernichtet. Aber sie stand auch im antifaschistischen Widerstand. Sie kämpfte gemeinsam mit jüdischen und nichtjüdischen Deutschen gegen die Nazis, und dies bereits vor 1933. Als politisch engagierte Jüdin emigrierte sie unter lebensgefährlichen Umständen aus Nazideutschland, floh im Jahre 1933 nach Prag, arbeitete dort politisch, tauchte nach dem Einmarsch Hitlers unter, floh abermals unter lebensgefährlichen Umständen aus der Tschechoslowakei, rettete sich über Warschau und Malmö nach England, wo sie zusammen mit Oskar Kokoschka, Stefan Zweig, Alfred Kerr, John Heartfield, Jürgen Kuczynski, Annemarie Haase, Dorothea Wüsten und vielen anderen engagierten Verfolgten des Naziregimes Mitbegründerin des Freien Deutschen Kulturbundes in Großbritannien wurde, einer antifaschistischen Vereinigung, die originäre Beiträge von unschätzbarem Wert für die politische und kulturelle Befreiung Deutschlands erarbeitete.

Meine Mutter ist Trägerin der „Medaille der Kämpfer gegen den Faschismus 1933-1945". Sie hat nach 1945 in der Gewerkschaftsarbeit ihren unverwechselbaren Beitrag zur demokratischen Erneuerung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland geleistet.

Meine Mutter Frau Dora Dick hat ihr Leben für den Kampf gegen die Hitlerdiktatur und für den Sieg der Menschenrechte auf deutschem Boden nicht deshalb selbstlos eingesetzt, damit ihr dann im hohen Alter die Menschenrechte streitig gemacht werden. Entsprechend der Generallinie der Regierung der Bundesrepublik Deutschland stehen meiner Mutter alle Rechte einer anerkannten Verfolgten des Naziregimes zu. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland erklärte im Jahre 2005 anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus feierlich: „Den Nachfahren der Opfer und den Überlebenden eine gewisse Genugtuung zu verschaffen, ist möglich. Zu dieser Verantwortung steht die Bundesrepublik seit geraumer Zeit mit ihrer Politik und ihrer Justiz – getragen vom Rechtsbewusstsein ihrer Bürger."

Eigentlich müsste es den Staatsbediensteten des Stadtbezirks Steglitz-Zehlendorf von Berlin eine Ehre sein, alles in ihren Kräften Stehende tun zu dürfen, damit eine in ihrem Stadtbezirk wohnende Überlebende des Naziterrors eine optimale gesundheitliche Versorgung erhält. Es herrscht jedoch über weite Strecken Gleichgültigkeit bis Ablehnung.

Angesichts dieses politischen Desasters ersuchen wir Sie, sich für meine Mutter im Bezirk stark zu machen, um ihr Überleben zu sichern – mit demselben Engagement, mit dem Sie diese Manifestation einer wehrhaften Demokratie vom 19. Juli vorbereitet und erfolgreich durchgeführt haben. Wir ersuchen Sie vor allem, den ganz offensichtlich notwendigen politischen Klärungsprozess im Bezirksamt so voranzutreiben, damit meiner Mutter zukünftig keiner Bedrängnis mehr ausgesetzt wird. Wir erwarten von allen für meine Mutter zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bezirksamtes eine Arbeitshaltung der tätigen Solidarität. „Demokratie braucht Schutz vor denen, die sie abschaffen wollen", heißt es in Ihrem Aufruf gegen den Vormarsch der NPD in Steglitz-Zehlendorf. Wir erlauben uns hinzuzufügen: Verfolgte des Naziregimes brauchen Schutz vor denen, die ihre Anerkennung mit Füßen treten.

Berlin, 20. Juli 2008

Dr. Antonín Dick

 

Editorische Anmerkungen

Den Text erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.