Marxistische Überlegungen zum Tourismus

von Eric Wegner (RSO Wien Antirassismus-Gruppe)

7/8-09

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2008 wurden 924 Millionen Auslandsreisen gezählt. Der Tourismus ist weltweit, nach der Auto- und Mineralölindustrie, der umsatzstärkste Wirtschaftssektor. Wir beschäftigen uns hier mit der Entwicklung und ökonomischen Bedeutung des Tourismus, seinen sozialen, kulturellen und ökologischen Folgen sowie seinen Perspektiven angesichts der Krise. Dazu kommen einige grundlegende Überlegungen zu Alternativtourismus und zur Zukunft von Tourismus in einer sozialistischen Gesellschaft

Massenhafter Auslandstourismus ist weitgehend ein Phänomen der letzten 50 Jahre. Davor waren Reisen in andere Länder – wenn man/frau von großen Kriegen absieht – auf eine kleine Minderheit  beziehungsweise religiöse Unternehmungen beschränkt.

Frühe Formen des „Tourismus“

Im antiken Ägypten gab es Wallfahrten zu den Tempeln von Gottheiten, im antiken Griechenland Reisen zu den Olympischen Spielen. Im römischen Imperium besuchten die reichen SklavInnenhalterInnen von Zeit zu Zeit ihre Landgüter in der Provinz.

Im europäischen Mittelalter entwickelte sich eine rege Wallfahrtsreisetätigkeit. Die christlichen PilgerInnen waren dabei meist auf Kost und Logis in christlichen Herbergen angewiesen. Entlang der Wallfahrtsrouten entfalteten sich mit der Zeit Handelszentren. Im moslemischen Raum entstand die Hadsch, die PilgerInnenreise nach Mekka, in Indien die Reisen von hinduistischen Gläubigen zum rituellen Bad im Ganges.

Ab dem 12. Jahrhundert entwickelte sich in Europa die Tradition von wandernden Theologiestudenten, wobei die Grenze zum Bettlertum fließend war. Mit dem Humanismus verbreitete sich im 15. Jahrhundert unter Gelehrten das Phänomen der Studienreise nach Italien. Ab dem 16. Jahrhundert schickten europäische Adelige ihre Söhne zu so genannten „Kavaliersreisen“ ins Ausland (vor allem nach Italien), wo sie Führungskompetenz und höfische Lebensformen kennen lernen sollten. Während die Brut der feudalen AusbeuterInnen in der Realität das Geld oft in Weinkellern und Bordellen verprasste, entstanden entlang der Reiserouten Herbergen und Gasthöfe. Parallel dazu war ab dem 14. Jahrhundert der Brauch entstanden, dass Handwerksgesellen in andere Länder wanderten, um verschiedenste Techniken zu erlernen.

In derselben Phase nahmen Forschungs- und Entdeckungsreisen zu, die in engem Zusammenhang mit den Interessen des europäischen Kolonialismus standen. Mit der Zeit der Aufklärung begannen im 18. Jahrhundert die „Bildungsreisen“ des Bürgertums, besonders zu historischen Städten in Griechenland und Italien.

In der Übergangsphase zum 19. Jahrhundert entstand dann der so genannte „Alpinismus“, bei dem Motive wie Naturerfahrung, körperliche Herausforderung und geistige Erholung im Vordergrund standen. Es wurden Alpenvereine gegründet, und in der Schweiz und in Österreich entwickelte sich ein bescheidener Fremdenverkehr, wobei die lokale Bevölkerung dem „sinnlosen Herumgehen“ der Herrschaften aus der Oberschicht oft verständnislos gegenüber stand. Auch mediterrane Küstengebiete wurden von europäischen Adeligen und GroßbürgerInnen nun als Reiseziele entdeckt.

Von der „Sommerfrische“ zum Massentourismus

Mit der Entwicklung der Dampfschifffahrt und der Eisenbahn konnte sich im 19. Jahrhundert auch ein Teil des Kleinbürgertums am Reisen beteiligen. Damit entstand zunehmend ein Geschäftszweig. 1827 gründete Karl Baedeker den ersten deutschen Verlag für Reisehandbücher. 1841 organisierte Thomas Cook aus Leicester für 570 Personen die vermutlich erste touristische Gruppenreise im modernen Sinn. 1863 wurde in Breslau das erste Reisebüro Deutschlands eröffnet. Aus Jugendreisen im 19. Jahrhundert entstand in Deutschland um 1900 schließlich die „Wandervogel“-Bewegung, durch die einerseits erstmals „Mädchenreisen“ gesellschaftsfähig wurden, die aber andererseits stark durch bürgerlich-romantische Reformkonzepte und reaktionäre Hierarchien geprägt war.

Jedenfalls war bis zum Ersten Weltkrieg das Reisen ein Privileg der Oberschicht, also des Adels, der Bourgeoisie und der gehobenen Teile des Kleinbürgertums. HandwerkerInnen, BäuerInnen und Lohnabhängige waren davon weitgehend ausgeschlossen. Während die herrschende Klasse oftmals die Sommermonate in ihren Villen am Meer oder in den Alpen verbrachte, blieben für die ArbeiterInnen gerade mal sonntägliche Ausflüge ins Umland der Städte oder Industriezentren.

Aus Angst vor einer sozialistischen Revolution machte die Bourgeoisie nach dem Ersten Weltkrieg einige Zugeständnisse an die Lohnabhängigen; in vielen Ländern wurde die Arbeitszeit verkürzt, ein Urlaub gesetzlich garantiert. In dieser neu gewonnenen, frei verfügbaren Zeit konnte sich die Ausflugstätigkeit der ProletarierInnen ausweiten. Entsprechende Freizeitorganisationen, die mit der ArbeiterInnenbewewegung verbunden waren (etwa die Naturfreunde) erlebten einen Aufschwung.

Auslandsreisen waren für die ArbeiterInnen weiterhin die absolute Ausnahme, mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 verschlechterten sich auch diesbezüglich die Möglichkeiten erneut. Das „Kraft-durch-Freude“-Reiseprogramm der Nazis, das der Einbindung von Teilen der ArbeiterInnenschaft in das Regime diente, fand mit Kriegsbeginn 1939 ein jähes Ende; von nun an traten junge deutsche Männer jahrelang in halb Europa als verhasste Besatzer auf.

Ein wirklicher Aufschwung des Massentourismus, an dem tatsächlich in den imperialistischen Zentren ein Großteil der Bevölkerung teilhaben konnte, fand ab 1950 statt – getragen vom langen Boom der kapitalistischen Weltwirtschaft, unterstützt vom sich immer mehr ausbreitenden Individualverkehr mit dem PKW. Hatten im Jahr 1950 21% der deutschen Bevölkerung eine Reise unternommen, waren es 1972 bereits 49%. 1950 gab es weltweit 25 Millionen Auslandsreisen, 2005 waren es schließlich 806 Millionen. Immer mehr Weltregionen wurden vom Tourismus erfasst: 1950 fanden 95% aller Auslandsreisen in Europa oder Amerika statt, im Jahr 2000 waren es nur noch 76%.

Wirtschaftsmacht Tourismus

Die Welttourismusorganisation der Vereinten Nationen (UNWTO) definiert: „Touristen sind Personen, die zu Orten außerhalb ihres gewöhnlichen Umfeldes reisen und sich dort nicht mehr als ein Jahr aufhalten aus Freizeit- oder geschäftlichen Motiven, die nicht mit der Ausübung einer bezahlten Aktivität am besuchten Ort verbunden sind.“ Geschäftsreisende bzw. ManagerInnen sind in dieser Definition und in die tatsächlichen Tourismusstatistiken inkludiert, SaisonarbeiterInnen (die keine Hotels oder feine Restaurants frequentieren) hingegen ausgeschlossen, PendlerInnen sowieso. Studierende, die ein Auslandssemester in einem anderen Land machen, werden in der Regel ebenfalls nicht mitgezählt.

Der internationale Tourismus hat – nach Angaben der UNWTO – im Jahr 2007 insgesamt 625 Mrd. Euro erwirtschaftet; das sind 30% der Exporte von Dienstleistungen und 6% aller Exporte. Bereits 2004 waren weltweit über 100 Mio. Menschen im Tourismus beschäftigt, seitdem ist die Zahl sicherlich weiter gestiegen. Die Mehrheit der im Tourismus Beschäftigten sind Frauen, in Österreich beispielsweise über 60%. Von den 924 Millionen Auslandsreisen im Jahr 2008 gingen etwa 50% nach Europa, etwa 15% in die Amerikas und etwa 15-20% nach Asien bzw. in den pazifischen Raum.

Innerhalb Europas gibt es wiederum klare touristische Schwerpunktgebiete: Nach den Zahlen von 2004 kamen nach Frankreich 75 Mio. AuslandstouristInnen, nach Spanien 52 Mio., nach Italien 37 Mio., nach Großbritannien 27 Mio., nach Deutschland und Russland jeweils 20 Mio., nach Österreich 19 Mio. und nach Griechenland 14 Mio.

Das Mittelmeer ist überhaupt die Haupttourismusregion der Welt. Im Jahr 2003 wurden die Anrainerstaaten von rund 200 Mio. Menschen besucht; das entsprach in etwa 30% des Welttourismus. Nach Schätzungen, die allerdings noch von vor der aktuellen Wirtschaftskrise stammen, würde die Zahl der TouristInnen im Mittelmeerraum bis 2020 auf 350 Mio. Menschen anwachsen. Der Tourismus macht in Ländern wie Spanien und noch mehr in Griechenland einen großen Teil der Deviseneinkünfte aus. Dabei fließt die Hälfte bis zwei Drittel des Einkommens durch die internationalen TouristInnen im Mittelmeerraum an Reisegroßveranstalter in Nordeuropa.

Auch wenn die Tourismus-Industrie zu einer Branche mit vielen Millionen KundInnen geworden ist und sich auch erhebliche Teile der ArbeiterInnenklasse aus den reichen kapitalistischen Ländern am Reisen beteiligen können, so darf nicht übersehen werden, dass die deutliche Mehrheit der internationalen ArbeiterInnenklasse, nämlich die große Mehrheit der Lohnabhängigen in den halbkolonialen Ländern und die ärmeren Schichten der Klasse in den imperialistischen Zentren, weiterhin von Auslandsreisen ausgeschlossen sind.

Viele Lohnabhängige wollen sich in ihrem Urlaub, oft eine möglichst günstige Pauschalreise irgendwo am Meer, einfach nur entmüden, entspannen, sich erholen und neue Kraft sammeln. Angesichts der körperlichen und psychischen Belastungen der Arbeit und des alltäglichen Überlebenskampfes unter kapitalistischen Verhältnissen ist das nur zu verständlich (und außerdem ist die Regeneration der Arbeitskraft, so sie qualifiziert und nachgefragt ist, natürlich auch im Interesse des Systems). Dass sich auch unter nicht wenigen Lohnabhängigen, wenn sie auf Urlaub sind, eine Haltung nach dem Motto „jetzt lass´ ich mich mal bedienen“ entwickelt und auch sie (wie sie es vom (Klein-) Bürgertum gelernt haben) die Beschäftigten in Hotels und Restaurants schikanieren, ist nachvollziehbar, aber deshalb nicht weniger widerlich. Das gilt besonders dann, wenn sich diese „als-Kunde-bin-ich-König“-Mentalität mit einem tendenziell kolonialistisch-rassistischen Benehmen gegenüber der einheimischen Bevölkerung verbindet.

Folgen des Tourismus

Eine andere abstoßende Art touristischen Verhaltens ist das kollektive „die-Sau-rauslassen“ in touristischen Hotspots a la Ballermann. Die monatelange Unterdrückung in Betrieb und Schule, die von Disziplinierung, Funktionieren nach von oben vorgegebenen Regeln und von Kuschen geprägt ist, schlägt dann in ein zweiwöchiges „Abreagieren“ um. „Die Sau“ wird oft tatsächlich in dem Sinne „rausgelassen“, dass verschiedenste reaktionäre Verhaltensweisen, die zum politischen Herrschaftssystem des Kapitalismus gehören, auf skurrile Art reproduziert werden, insbesondere Sexismus und Konkurrenz. Kombiniert ist dieses immer mehr kulturindustriell/medial standardisierte, dümmlich-kreischende „Party-Machen“ in der Regel mit grölendem Alkoholismus.

Zweifellos schafft der Tourismus Arbeitsplätze, teilweise auch in von Abwanderung betroffenen Gebieten (beispielsweise in den Alpen oder auf den griechischen Inseln). Er bringt auch eine Verbesserung der Infrastruktur (Straßennetz etc.), die auch Einheimischen zugute kommt. In der Realität profitieren aber oft nur wenige, nämlich Hoteliers, Tourismus-Unternehmen und diejenigen, die sich touristische Investitionen leisten können. In der Regel werden dadurch die in den Tourismus-Regionen bestehenden Klassenstrukturen reproduziert, adaptiert und oft auch verstärkt.

In den Tourismus-Gebieten entsteht ein soziales Gefälle zwischen denjenigen, die Zugang zu den touristischen Einkünften haben, und den anderen. Das gilt besonders für wirtschaftlich rückständigere Länder, wo der Zugang zu den Dollars, den Euro- oder Pfundnoten entscheidend ist. Die mit dem Tourismus steigenden Preise und die besseren Verdienstmöglichkeiten in dieser Branche führen oft auch dazu, dass die Landwirtschaft in einer Region aufgegeben oder zur Folklore minimiert wird (was teilweise auch negative Folgen für die Landschaft hat). In Prag beispielsweise haben die Hotels, Restaurants, Cafes und Bars, die für die rasante touristische Entwicklung der Innenstadt nötig waren, zu einer Verdrängung der früheren BewohnerInnen geführt; Mietshäuser wurden aufgekauft und umgebaut, das Wohnen im Zentrum nicht mehr leistbar.

Gleichzeitig sind die – stark von Frauen ausgeführten – touristischen Jobs oft durch miserable Arbeitsbedingungen gekennzeichnet: schlechte Bezahlung, ungeregelte oder unkontrollierte Arbeitszeiten, extremer Arbeitsstress in der Tourismus-Saison und Arbeitslosigkeit außerhalb der Saison. Touristische Saisonarbeit bedeutet oft eine Zerstörung von sozialen Strukturen und persönlichen Beziehungen: Die griechische Kellnerin auf einer Tourismus-Insel, die von April an monatelang einen 12-16-Stunden-Arbeitstag erdulden muss und darauf wartet, bis sie Ende Oktober endlich wieder zurück nach Athen zu Familie und Freunden kann, ist keine Seltenheit.

Wenn bei so mancher Tourismus-Kritik der Verlust von „ursprünglicher Kultur und Tradition“ beklagt wird, so ist das aus marxistischer Sicht eine zweischneidige Sache. Die traditionellen Strukturen, die durch den Tourismus (partiell!) aufgebrochen werden, sind oft weitgehend reaktionär und sexistisch; ihnen muss kaum eine Träne nachgeweint werden. Allerdings werden sie durch den Tourismus in der Regel von einer Kommerz-Kultur ersetzt, wo die Gier nach dem Geld der TouristInnen, die schleimige Anpassung an ihre Wünsche und das möglichst geschickte Ausnutzen „der Gäste“ ganze Ortschaften prägen. In vielen Fällen kommt es letztlich zu einer ungustiösen Vermischungen einer adaptierten Form der patriarchalen Traditionen mit dem Geschäftemacher-Geist der Tourismus-Industrie.

Die touristische Erschließung von Regionen führt in der Regel auch zu ökologischen Zerstörungen durch Straßen, Verbauung, Versiegelung der Böden, Verschmutzung von Landschaften, Flüssen und Meer. Durch den Tourismus entstehen überproportional große Müllmengen, die in vielen Gebieten nicht entsprechend entsorgt werden (können). Durch den Tourismus kommt es auch zu einer Zunahme des Automobil- und Flugverkehrs und damit der Luftverschmutzung. Ein einziger Flug von Europa an die US-Ostküste produziert eine Tonne CO2, pro Passagier wohlgemerkt. Angesichts dessen, dass ein großer Teil des Tourismus über den Flugverkehr läuft, trägt er zum Klimawandel bei.

In vielen Küstengebieten, in denen ohnehin schon Wasserknappheit herrschte und die für „sonnenhungrige“ TouristInnen erschlossen wurden, haben sich die Probleme potenziert: Die Wasserreserven werden für die Duschen und Pools der touristischen Unterkünfte verwendet (im extremeren Fall auch noch für die Bewässerung von Golfplätzen und Rasenflächen von Hotels), während etwa in manchen Regionen Spaniens oder der Türkei der lokalen Bevölkerung und der Landwirtschaft das Wasser ausgeht. Dazu kommt, dass durch die Übernutzung der Grundwasservorräte der Grundwasserspiegel teilweise absinkt und Brunnen austrocknen, wodurch die ganze Wassermisere weiter verschärft wird.

Alternativtourismus?

Von den durchkommerizialisierten Tourismuszonen haben immer mehr Leute, besonders kritischere, jüngere, studentische Milieus, genug. Sie wollen auch reisen, es aber anders machen. Sie wollen nicht in TouristInnen-Ghettos bleiben, sondern suchen den Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung und wollen deren „echte Kultur“ (jenseits von kitschigen Volkstanzgruppen in großen Hotels) kennen lernen. Sie sehen sich stolz als „Travellers“ und wollen mit den verachteten MassentouristInnen nichts zu tun haben. Aber auch ein erheblicher Teil der herkömmlichen TouristInnen macht sich, ausgehend vom Urlaubsappartment, auf die Suche nach der einsamen Bucht, wo sonst „keine TouristInnen“ sind, oder nach der kleinen Trattoria, in der vermeintlich „nur Einheimische“ essen.

Diese Haltung hat positive und sympathische Elemente: nicht auf lebende Einkommensquellen der Tourismus-Industrie reduziert werden wollen oder das Interesse, Menschen anderer Länder und Nationen kennen zu lernen. Allerdings ist die Lust der IndividualtouristInnen auf das ganz „Authentische“ in der jeweiligen „exotischen“ Kultur oft auch mit einer verklärenden und/oder karikaturhaften Sicht verbunden, die in Wahrheit eine kaschierte Form des Rassismus darstellt (und die in der Geschichtswissenschaft seit dem gleichnamigen Buch von Edward Said als „Orientalismus“ bezeichnet wird).

Dazu kommt oftmals eine bornierte Arroganz der meist studentischen oder kleinbürgerlichen „Travellers“ gegenüber den „dummen“ proletarischen TouristInnen in den Massenunterkünften. Sie sehen nicht, dass Leute mit wenig frei verfügbarer Zeit, mit Kindern, erschöpft von stupider Arbeit und mit wenig Geld, oft kaum andere Möglichkeiten haben als günstige Pauschalangebote. Sie haben kein Verständnis dafür, dass Leute, die das ganze Jahr in der Fabrik gestanden oder an der Supermarktkassa gesessen sind, einfach nur mal eine oder zwei Wochen nichts tun wollen und keine Energie für irgendwelche kulturellen Expeditionen aufbringen – ganz zu schweigen von der Zeit, sich individuell in abgelegene, touristisch unerschlossene Gebiete durchzuschlagen. So sehr der Massentourismus unter kapitalistischen Vorzeichen ausgesprochen degenerierte soziale und kulturelle Formen hervorbringt, so sehr haben erhebliche Teile der Kritik daran Elemente einer elitären Klassenkritik.

Der Individualtourismus ist aber auch weniger das Gegenmodell zum „Massentourismus“, sondern vielmehr dessen Wegbereiter. Neue, bisher vom Tourismus nicht erfasste Gebiete werden in der Regel erstmal von alternativen „Travellers“ besucht, der „Geheimtipp“ zieht dann allmählich immer mehr AlternativtouristInnen an, es entstehen die ersten Ansätze einer rudimentären touristischen Infrastruktur, in alternativen Reiseführern wird über die idyllischen Plätze und einsamen Buchten berichtet. Mit der Zeit werden die neuen touristischen Pfade immer mehr ausgetreten, und es folgt die touristische Erschließung durch Reiseveranstalter.

Kuba, das in den 1990er Jahren ökonomisch mit dem Rücken zur Wand stand, die Tourismus-Devisen dringend brauchte und wo der Tourismus ein wichtiges Element der kapitalistischen Penetration der (bürokratischen) Planwirtschaft war, versuchte eine Zeit lang, den Tourismus weitgehend auf einige separierte Zonen (ein paar Strände und die dazugehörigen Hotelanlagen) zu beschränken. Dahinter stand auch die Überlegung, die touristisch-kapitalistische Durchdringung des Landes, die man/frau mit den umherreisenden und mit ihren Dollars winkenden IndividualtouristInnen verband, unter Kontrolle zu halten. Diese Überlegung hatte durchaus etwas für sich, allerdings war diese Politik angesichts der Wünsche der TouristInnen und der lokalen Bevölkerungen, des Bedarfes an Devisen und der gegenüber der kapitalistischen Restauration widersprüchlichen kubanischen Bürokratie nicht durchzuhalten.

Krise und „Qualitäts“tourismus

Seit Jahrzehnten wird der Umstieg auf Tourismus als tolle Alternative verkauft. So genannte „ExpertInnen“ von Regierungen und Wirtschaftsverbänden haben das österreichischen BergbäuerInnen ebenso empfohlen wie KüstenbewohnerInnen in Bali. Die touristischen Kapazitäten sind in den letzten Jahrzehnten weltweit dementsprechend massiv angewachsen. Gleichzeitig wurden seit den 1980er Jahren de facto in allen ökonomisch entwickelten Staaten, wo breitere Teile der Lohnabhängigen in den Genuss von sozialen Errungenschaften kamen und mit entsprechenden Lohnhöhen touristisch aktiv werden konnten, Angriffe auf den Lebensstandard der ArbeiterInnenklasse gefahren. Daraus entwickelte sich seit etwa 20 Jahren tendenziell eine Schere zwischen wachsenden touristischen Kapazitäten und den sinkenden touristischen Möglichkeiten der Masse der Lohnabhängigen.

Dieser Grundtendenz konnte in den letzten Jahrzehnten durch andere Entwicklungen entgegengewirkt werden: Erstens wurden billigere touristische Destinationen ausgebaut, die sich die Lohnabhängigen in den imperialistischen Zentren noch eher leisten können; mitteleuropäische ArbeiterInnen fliegen dann nicht mehr nach Italien oder Spanien, sondern ins billigere Ägypten oder die Türkei. Zweitens gelangen der Tourismus-Industrie auch noch Ausweitungen bei den touristischen Aktivitäten der Mittelschichten, die von den Boomphasen des neoliberalen Kapitalismus profitierten. Drittens haben in den vergangenen Jahren auch Russland, China und Indien zu den Wachstumsraten des internationalen Tourismus beigetragen; auch wenn in diesen Ländern nur eine kleine privilegierte Schicht relevante touristische Aktivitäten entfalten kann, so ist das in absoluten Zahlen dennoch eine nennenswerte Anzahl. Viertens hat die steigende Lebenserwartung bei vergleichsweise noch niedrigem Rentenantrittsalter in einigen imperialistischen Ländern zu einem Segment an reiselustigen RentnerInnen geführt, die über genügend finanzielle Mittel und auch Zeit verfügen. Dementsprechend ist die Zahl der Auslandsreisen von 682 Mio. im Jahr 2000 auf die genannten 924 Mio. im Jahr 2008 gestiegen.

Die aktuelle Weltwirtschaftskrise, die schwerste seit 80 Jahren, wird diese entgegenwirkenden Faktoren unterhöhlen. Massenkündigungen, Kurzarbeit und Angriffe auf die Löhne werden die touristischen Möglichkeiten von erheblichen Teilen der ArbeiterInnenklasse deutlich einschränken oder verunmöglichen. Auch die Mittelschichten werden von der Krise getroffen (Aktienverluste, Verfall der Immobilienpreise, Geschäftspleiten, Arbeitsplatzverlust von leitenden Angestellten etc.), und die privilegierten Schichten in Russland, China und Indien ebenso. Sinkende Renten bei immer längerer Lebensarbeitszeit lassen den Kreis potenzieller RentnerInnen, die noch über genügende finanzielle Mittel und ausreichende Gesundheit für ausgedehntere Reisen verfügen, wieder schrumpfen. Mit der Krise wird die Grundtendenz, die genannte Schere zwischen den angewachsenen touristischen Kapazitäten und den sinkenden Möglichkeiten der potenziellen TouristInnen, durchgreifen.

Bereits in der zweiten Jahreshälfte 2008 ging der Tourismus in Europa und Asien um jeweils 3% zurück. Zwischen Januar und Februar 2009 sind die Auslandreisen weltweit um 8% gesunken. Im Januar 2009 hatte die UNWTO für das gesamte Jahr noch einen Rückgang von 1-2% prognostiziert, im April war dann bereits von 2-3% „Negativwachstum“ die Rede, wobei Europa und Amerika am Stärksten betroffen sein sollen. Dabei ist sicherlich Skepsis angebracht, ob nicht auch diese Prognose noch weiter nach unten revidiert werden muss.

Angesichts der Weltwirtschaftskrise erwartet die UNWTO folgende (wenig überraschende) Trends für den Tourismus: Billigere und nähere Destinationen (unter anderem im eigenen Land) würden verstärkt nachgefragt. Die Aufenthaltsdauer würde verkürzt und weniger Geld ausgegeben. Es würden, statt anderer Reisen, verstärkt Verwandte und Freunde besucht. Soweit die Erwartungen der Schlaumeier in der UN-Organisation für Tourismus. Und was sind ihre Vorschläge? Dazu die UNWTO im Mai 2009: „Nun ist es entscheidend, alle Hindernisse für den Tourismus zu beseitigen, speziell die Besteuerung und Überregulierung.“ Glauben die wirklich, dass sie mit diesen abgestandenen neoliberalen Maßnahmen aus dem Schlamassel rauskommen? Oder fällt nur ein paar abgestumpften UN-BürokratInnen nichts Besseres ein und sie schreiben´s halt hin, weil sie irgendwas in ihre Papiere schreiben müssen?

Was von ihrem Standpunkt aus zumindest teilweise irgendwie Sinn macht, ist die Orientierung auf so genannten „Qualitätstourismus“, der von etlichen Tourismus-„ExpertInnen“ empfohlen wird: Angeregt wird in der Realität, jenseits von schönen Sprüchen über „Nachhaltigkeit“ und einen „grünen Tourismus“ (von dem auch die UNWTO faselt), die Abwendung vom Massentourismus und dem ohnehin ungeliebten Pöbel und eine Ausrichtung auf die zahlungskräftigen TouristInnen; ausgebaut werden sollen Luxushotels, Golfplätze etc. Das ist für Tourismus-KapitalistInnen nur logisch, weil die Reichen auch trotz Krise immer noch genug Geld für Luxusreisen haben. Dennoch kann sich das nur für einige, nicht aber für die Tourismus-Branche insgesamt ausgehen, denn die Reichen sind zu wenige und können die Verluste durch ausfallende Reisende aus der ArbeiterInnenklasse oder den Mittelschichten nicht ausgleichen. Wenn sich die Krise weiter vertieft, wird auch die Tourismus-Industrie von erheblichen Einbrüchen betroffen sein – verbunden mit Arbeitsplatzverlusten für hunderttausende Lohnabhängige und massiven Problemen für ganze Regionen.

Tourismus und Sozialismus?

Grundsätzlich gehen MarxistInnen davon aus, dass es unter nachkapitalistischen Verhältnissen eine Tendenz zur Aufhebung der Trennung zwischen Arbeit und Freizeit kommen wird. In einer nachrevolutionären Übergangsgesellschaft, in der die Überwindung all der vom Kapitalismus geerbten ökonomischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Probleme sehr viel Aufwand bedürfen wird, würde diese Tendenz langsam anlaufen. Wenn sich die Entwicklung mit dem Absterben der Warenproduktion und des Staates immer mehr auf eine sozialistische Gesellschaft hinbewegt, würde nicht nur die Arbeitszeit massiv verkürzt werden, sondern die Arbeit selbst würde einen großen Teil ihres äußerlichen Zwangscharakters verlieren und zu einer selbstbestimmten Tätigkeit werden. Selbst die verbleibenden Reste unangenehmer Arbeiten werden eine ganz andere gesellschaftliche Form haben und anders erlebt werden. Freizeit und selbstbestimmte Arbeit im Rahmen sozialistischer Kollektive werden ineinander verschwimmen.

Das wird auch Auswirkungen auf den Tourismus haben. Das Bedürfnis, sich einige Wochen im Jahr von der physischen und psychischen Erschöpfung durch den Moloch der Arbeit unter kapitalistischen Verhältnissen zu erholen, würde letztlich verschwinden. Unter sozialistischen Verhältnissen wären die Menschen immer „erholt“. Für den gegenwärtigen „Erholungstourismus“ würde es wohl keinen Platz mehr geben. Sehr wohl aber werden die Menschen einer sozialistischen Gesellschaft, die generell viel mehr Zeit, Fähigkeit und Muße für Kreativität und Selbsttätigkeit haben würden, ein Bedürfnis haben, andere Länder und Kulturen kennen zu lernen (auch wenn es Elemente der Herausbildung einer internationalen sozialistischen Kultur geben wird, werden auch von Geographie, Klima und Traditionen bestimmte Elemente regionaler Kulturen aufrecht bleiben).

Dieses Bedürfnis wird allerdings mit dem heutigen Tourismus als eigenem Wirtschaftszweig immer weniger zu tun haben. Die Menschen werden nicht mehr in spezielle touristische Anlagen gepfercht werden und, je nachdem, von der Außenwelt abgeschottet, mit Bustouren zu ausgesuchten „Sehenswürdigkeiten“ gekarrt und/oder mit karikaturhaften Volkstanzgruppen unterhalten. Kurzaufenthalte in anderen Ländern, die vom dortigen gesellschaftlichen Leben losgelöst sind, sind auch unter sozialistischen Bedingungen nicht ausgeschlossen, vermutlich aber nicht die Regel. Ein bestimmtes Ausmaß an separierten Beherbergungsbetrieben würde wohl weiter bestehen bleiben, der Tourismus als Branche würde aber massiv reduziert. Die Jobs der touristischen DienstbotInnen würden selbstverständlich weitgehend verschwinden; allenfalls würden einige Menschen einen Teil ihrer (stark reduzierten) Arbeit in den sozialistischen Kollektiven der Betreuung von BesucherInnen widmen.

Unter sozialistischen Verhältnissen würden Menschen viel mehr zeitliche Ressourcen haben und, wenn sie Lust haben, immer wieder kürzer oder länger in anderen Ländern sein und dort mit den Einheimischen mitleben. Das würde einerseits bedeuten, mit ihnen zu wohnen (unter entsprechend geänderten Wohnmöglichkeiten und -formen) und zu feiern oder die Gegend gezeigt zu bekommen. Andererseits würde man/frau auch in die gesellschaftliche Organisation, Arbeit und Politik eingebunden sein. Die Folgen wären ein Austausch auf verschiedensten Ebenen und ein gelebter Internationalismus. Reisen stünde nicht unter dem massiven zeitlichen Druck, wie ihn Lohnabhängige mit ihrem sehr begrenzten Urlaub im Kapitalismus haben, und wäre nichts Separiertes, sondern in die jeweiligen gesellschaftlichen Prozesse integriert.

Ein gewisses Vorgefühl einer solchen Entwicklung kann es auch bereits in der heutigen Gesellschaft geben. Wenn wir Verwandte oder Freunde in anderen Regionen oder Ländern haben und diese besuchen, haben wir andere Chancen, Einblicke in das dortige reale Leben zu bekommen, als wenn wir in irgendeiner Bettenburg absteigen. Allerdings sind diese Chancen sehr oft dadurch konterkariert, dass wir wenig Urlaubszeit zur Verfügung haben, dass wir aufgrund des Arbeitsalltages oft das Bedürfnis nach „reiner Erholung“ haben, dass das Unterkommen bei Verwandten oder Freunden – unter den heutigen Wohnformen und der Größe der Wohnungen der meisten von uns –  mit dem Problem zu kämpfen hat, dass Freiraum und Intimsphäre sowohl der BesucherInnen als auch der Besuchten eingeschränkt sein können. Erschwerend kommt hinzu, dass es in der heutigen Gesellschaft – anders als in einer sozialistischen – eine starke Trennung von Stadt und Land sowie von Arbeits- und Erholungsräumen gibt.

Eine besondere Form der Vorahnung sozialistischer Reisekultur sind Urlaube im Rahmen der ArbeiterInnenbewegung und vor allem Besuche bei revolutionären GenossInnen anderer Länder. Das können revolutionäre Sommercamps, wie sie von etlichen Organisationen mit revolutionärem Anspruch durchgeführt werden (wie etwa das von der RSO Und Revolution organisierte Revocamp), sein oder einfach Aufenthalte in anderen Städten, wo sich Urlaub mit der Teilnahme an politischen Aktivitäten verbinden kann. Diese Formen leiden natürlich auch unter Zeit- und Ressourcenmangel. Sie sind aber gleichzeitig persönlich sehr bereichernd, schaffen Einblicke in die jeweilige Gesellschaft, die sich von den touristischen Verklärungen grundlegend unterscheidet, erweitern den politischen Horizont und machen den Internationalismus von einem abstrakten Prinzip zu einer konkreten Erfahrung.

Tourismus, wie wir ihn heute kennen, ist ein Produkt des Kapitalismus, und wird in einer künftigen klassenlosen Gesellschaft der Vergangenheit angehören müssen. Bleiben wird ein Interesse vieler Menschen am Unbekannten, Fremden, Neuen. Der heutige Fremdenverkehr und der Tourismus befriedigen diese Bedürfnisse auf eine verkrüppelte, auf wenige Tage oder Wochen im Jahr zusammengedrängte Weise. Sie reproduzieren damit die Trennung in eine Arbeitswelt, in der es für die Mehrheit nur darum geht, im Sinne des Kapitals zu funktionieren, und einen davon abgespaltenen Freizeit- und Erholungsbereich, auf den sich das Ensemble unserer Wünsche konzentriert. In einer sozialistischen Gesellschaft wird Reisen und Tourismus nicht mehr den Wunsch einer Flucht vor einer unerträglich und leer empfundenen Wirklichkeit widerspiegeln, sondern Ausdruck des bewussten Willens sein, sich das Erbe anderer Teile der neu entstehenden Weltkultur anzueignen und die Schönheiten anderer Gebiete und anderer Naturräume in sich aufzunehmen.

Editorische Anmerkungen

Der Artikel erschien zuerst 30.6.09 auf der RSO-Website. Wir spiegelten von dort.