c/o PIPER
VERLAG GmbH
Georgenstraße 4
80799 München
Sehr geehrter
Herr Dr. Neubert,
Ihr fast 450
Seiten umfassendes Opus der Zeitgeschichte „Unsere Revolution.
Die Geschichte der Jahre 1989 / 90“, unlängst herausgegeben vom
Piper Verlag München, provoziert weniger durch seine reihende
Faktenfülle als durch seine geistig-politischen Voraussetzungen.
Dazu hat der Politikwissenschaftler und Historiker Stefan
Bollinger, ordentliches Mitglied der Leibniz-Sozietät der
Wissenschaften zu Berlin, in seiner Rezension „Aus der Utopie
in den Westen“, veröffentlicht im Feuilleton des „Neuen
Deutschland“, bereits das Notwendigste gesagt. Sie läuft auf den
zutreffenden Einwand hinaus, dass in Ihrer Darstellung „die
politischen, demokratischen Alternativen“ der Oppositionellen in
der DDR „fast komplett ausgeblendet“ oder, wie vielleicht noch
zu ergänzen wäre, als tote Geschichtsmasse unter die Bildung
eines neuerlichen Nationalstaates subsumiert werden. Und Sie
zementieren diese Ausblendung geradezu, indem Sie die neuerliche
Gesamtverstaatlichung der Deutschen symbolisch dadurch zu
überhöhen trachten, dass Sie Ihr Werk mit ein und demselben
Aufladungswort beginnen und enden lassen: „Deutschland“. Meinen
Sie nicht, dass eine solche auftrumpfende Symbolik bei den
Deutschland-Experten der Signatarstaaten des
Zwei-plus-Vier-Vertrages von 1990 nur Argwohn erzeugen kann? Und
vielleicht sogar Angst bei dem einen oder anderen Leser der
kleineren Nachbarländer dieses Kolosses im Herzen Europas?
Was in diesem
Zusammenhang vor allem erstaunt, ist Ihre Voraussetzung, das
Erbe der Repräsentanten der Anti-Hitler-Emigration bewusst nicht
aufzunehmen, obwohl es doch hier dringend gebraucht würde.
Während Sie mit den Ereignissen der Jahre 1989 / 90 „die Ideen
von Freiheit und Nation“ erfolgreich miteinander vermählt sehen,
spricht Thomas Mann, das Haupt der politischen Emigration in
den Nazijahren, in seinem Essay „Deutschland und die Deutschen“
vom „kerndeutschen Auseinanderfallen von n a t i o n a l e m
Impuls und dem Ideal politischer F r e i h e i t.“ Während Ihr
politischer Ansatz im Grunde nichts anderes als eine Neuauflage
des deutschen Nationalstaates von 1871 darstellt, widerspricht
Thomas Mann diesem Ansatz vehement, indem er nach dem
Zusammenbruch des Deutschen Reiches von 1945 feststellt: „Dies
eben war das Charakteristische und Bedrohliche: die Mischung von
robuster Zeitgemäßheit, leistungsfähiger Fortgeschrittenheit und
Vergangenheitstraum, der hochtechnisierte Romantizismus. Durch
Kriege entstanden, konnte das unheilige Deutsche Reich
preußischer Nation immer nur ein Kriegsreich sein. Als solches
hat es, ein Pfahl im Fleische der Welt, gelebt, und als solches
geht es zugrunde.“ Für Thomas Mann gibt es nach allem, was
geschehen ist, keine Neuauflage irgendeines deutschen
Nationalstaates mehr. Es befremdet den politisch interessierten
Leser Ihres Werkes, dass Sie diesen Essay, immerhin das
politische Vermächtnis eines Exilautors von Weltgeltung, bei
Ihrem Nachdenken über die Umwälzungen der Jahre 1989 / 1990 und
die Zukunft der Deutschen nicht rezipieren, obwohl er doch zum
Standardwissen fast aller Zeithistoriker gehört. So setzen Sie
sich Exilerfahrungen von unschätzbarem Wert durch bewusstloses
Schweigen zur Wehr, indem Sie, als wäre nichts gewesen, auf die
normative Kraft des Faktischen verweisen. Und die Fakten – o
verschlungene Pfade der Geschichte! – scheinen Ihrem Ansatz
dabei noch recht zu geben. Aber menschliche Geschichte besteht
nicht nur aus Fakten, sondern auch aus dem Widerspruch gegenüber
Fakten, aus Utopien, aus dem gesellschaftlichen Lebensprozess
der Antizipation des Kommenden.
Bei dem Begriff
„Utopie“ werden Sie vermutlich zusammenzucken, atmet doch Ihr
gesamtes Geschichtswerk den Geist des Anti-Utopischen bei
gleichzeitiger bedrohlicher Verzauberung durch das Nationale.
Aber die DDR-Oppositionsbewegung, die Sie vorgeben, streng
wissenschaftlich zu untersuchen, war in ihrem Bezug zur Utopie
eine Bewahrerin des Erbes der antifaschistischen Emanzipation
und nicht des Erbes des nationalen Impulses. Diese tausendfach
bewiesene Realität erscheint bei Ihnen, wie in der eingangs
erwähnten Rezension zu Ihrem Buch schlüssig nachgewiesen, in
einem völlig abgefälschten Licht. Und so ist es nur
folgerichtig, wenn ein Repräsentant des antifaschistischen
Befreiungskampfes – Prof. Dr. Jürgen Kuczynski – bei Ihnen als
lebensfremder Träumer und politischer Phantast abqualifiziert
werden darf. Es ist schon von grausiger Dimension, dass Sie sich
bei diesem Tabubruch ausgerechnet diesen Theoretiker und
Organisator der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung
aussuchen, einen jüdisch-kommunistischen Funktionär, einen
Internationalisten, der Anfang 1939 mit der Regierung des
Vereinigten Königreiches von Großbritannien und Nordirland
konspirierte, indem er den unmittelbar bevorstehenden Überfall
der Deutschen auf die Tschechoslowakische Republik mitteilte
und damit u. a. die Rettung von Hunderten von
Anti-Nazi-Flüchtlingen einleitete, einen selbstlosen Aktivisten,
über den der ebenfalls emigrierte Maler und Schriftsteller Oskar
Kokoschka, Präsident des Freien Deutschen Kulturbundes in
Großbritannien, in einem Schreiben an den Sekretär des
Kulturbundes Siegfried Zimmering vom 14. September 1944
ausführt: „Kuczynski ist ein klarer Denker und schreibt deutsch
als einer, der seinem Vaterland nicht entfremdet werden konnte.
Mit dessen guten Geistern zusammen er in täglicher Bereitschaft
blieb.“
Und dessen gute
Geister versuchen Sie nun in Ihrem wissenschaftlichen Großwerk
zu bannen, indem Sie diese als angebliche Geister der
politischen Phantasterei an den Pranger stellen. Auf Seite 29
Ihres Werkes zitieren Sie Jürgen Kuczynski, um ihn zu treffen,
mit folgenden Worten: „Der Zwiespalt zwischen Traum und
Wirklichkeit ist nicht schädlich, wenn nur der Träumende
ernstlich an den Traum glaubt, wenn er das Leben aufmerksam
beobachtet, seine Beobachtungen mit seinen Luftschlössern
vergleicht und überhaupt gewissenhaft an der Realisierung seines
Traumgebildes arbeitet.“ Aber wo liegt hier der Treffer? In
Ihrem Eifer zur Niedermachung alles Utopischen haben Sie sich
selbst getroffen, sehr geehrter Herr Dr. Neubert, denn Sie
zitieren falsch. Die Worte, die Sie Jürgen Kuczynski in den
Mund legen, stammen gar nicht von diesem, sondern sind
russischen Geblüts, stammen vom jungen Lenin, entnommen der
Streitschrift „Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung“. Und
auch dies ist noch nicht die ganze Wahrheit, denn Lenin umgab
sich wie Kuczynski ebenfalls mit guten Geistern, in diesem
Falle mit den Ideen von Dmitrij Iwanowitsch Pissarew, einem
russischen Schriftsteller und Oppositionellen aus der zweiten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, und exakt von diesem stammt
dieses Zitat, und so kommt es dazu, dass Sie, blind geworden in
der Niedermachung alles Utopischen, sogar einen herausragenden
Vertreter des demokratischen Denkens des Auslands niedermachen.
Das Lenin-Zitat, das den im Exil unermüdlich an der praktischen
Umsetzung antifaschistischer Ideen arbeitenden Jürgen Kuczynski
ohne Frage immer wieder entflammt haben dürfte, lautet nämlich
in seiner vollen Länge so: „ ‚Träumen müssen!’. Ich schrieb
diese Worte nieder und erschrak. Ich stellte mir vor, ich sitze
in der ‚Vereinigungskonferenz’, und mir gegenüber sitzen die
Redakteure und Mitarbeiter des ‚Rabotscheje Delo’. Und nun steht
Genosse Martynow auf und wendet sich drohend an mich: ‚Gestatten
Sie, dass ich Sie frage: Hat eine autonome Redaktion überhaupt
das Recht, ohne vorherige Befragung des Parteikomitees zu
träumen?’ Und nach ihm steht Genosse Kritschewski auf und fährt
(den Genossen Martynow philosophisch vertiefend, der schon vor
langem den Genossen Plechanow vertieft hat) noch drohender fort:
‚Ich gehe weiter: Ich frage, ob ein Marxist überhaupt das Recht
hat zu träumen, wenn er nicht vergisst, dass sich die Menschheit
nach Marx immer nur Aufgaben stellt, die sie lösen kann, und
dass die Taktik ein Prozess des Wachsens der Aufgaben ist, die
zusammen mit der Partei wachsen?’ Bei dem bloßen Gedanken an
diese drohenden Fragen überläuft es mich eiskalt, und ich
überlege nur, wo ich mich verstecken könnte. Ich will versuchen,
mich hinter Pissarew zu verstecken. ‚Ein Zwiespalt gleicht dem
anderen nicht’, schrieb Pissarew über den Zwiespalt zwischen
Traum und Wirklichkeit. ‚Meine Träume können dem natürlichen
Gang der Ereignisse vorauseilen, oder sie können auch ganz auf
Abwege geraten, auf Wege, die der natürliche Gang der Ereignisse
nie beschreiten kann. Im ersten Fall ist das Träumen ganz
unschädlich; es kann sogar die Tatkraft des arbeitenden Menschen
fördern und stärken … Solche Träume haben nichts an sich, was
die Schaffenskraft beeinträchtigt oder lähmt. Sogar ganz im
Gegenteil. Wäre der Mensch aller Fähigkeiten bar, in dieser
Weise zu träumen, könnte er nicht dann und wann vorauseilen, um
in seiner Phantasie als einheitliches und vollendetes Bild das
Werk zu erblicken, das eben erst unter seinen Händen zu
entstehen beginnt, dann kann ich mir absolut nicht vorstellen,
welcher Beweggrund den Menschen zwingen würde, große und
anstrengende Arbeiten auf dem Gebiet der Kunst, der Wissenschaft
und des praktischen Lebens in Angriff zu nehmen und zu Ende zu
führen … Der Zwiespalt zwischen Traum und Wirklichkeit ist nicht
schädlich, wenn nur der Träumende ernstlich an seinen Traum
glaubt, wenn er das Leben aufmerksam beobachtet, seine
Beobachtungen mit seinen Luftschlössern vergleich und überhaupt
gewissenhaft an der Realisierung seines Traumgebildes arbeitet.
Gibt es nur irgendeinen Berührungspunkt zwischen Traum und
Leben, dann ist alles in Ordnung.’ Träume solcher Art gibt es
leider in unserer Bewegung allzuwenig. Und schuld daran sind
hauptsächlich diejenigen, die sich damit brüsten, wie nüchtern
sie seien und wie ‚nahe’ sie dem ‚Konkreten’ stünden …“
„Fehlgriffe
eines unausgereiften Denkens“ lautet übrigens der Titel des
engagierten Essays von Pissarew, dem Lenin diese Passage
entnahm – dies sei Ihnen hiermit gern mitgeteilt, falls Sie
sich über internationales demokratisches Denken weiter kundig
machen wollen.
Aber es gibt
bezüglich Ihres zeitgeschichtlichen Werkes „Unsere Revolution.
Die Geschichte der Jahre 1989 / 90“ auch den umgekehrten
Vorgang, wenn man nämlich feststellen muss, dass Ihr Traum vom
harmonisierenden deutschen Nationalstaat – einerseits mythisch
überhöht, wenn Sie vom „Kairos der Nation“ und von „Wundern“,
andererseits in brutale LTI-Diktion fallend, wenn Sie affirmativ
vom „Anschluss der DDR an die Bundesrepublik“ sprechen – an den
heutigen Realitäten der Bundesrepublik mit ihren neuen
Klassengegensätzen von ökonomisch Mächtigen und ökonomisch
Ohnmächtigen, die Sie geflissentlich verschweigen, längst
zerschellt ist. Die Führung der deutschen Sozialdemokratie
fordert angesichts dieser Fakten die Wiedereinführung des
Respekts vor den sozialen Errungenschaften der DDR, die nicht
zuletzt Ergebnis der schöpferischen Aneignung des Erbes der
Anti-Hitler-Emigration waren. Der hastig herbeigeführte
Beitritt der DDR zur BRD, exekutiert im Jahre 1990 von der
Fraktionen der Nationalen in Deutschland Ost und Deutschland
West, ist zu korrigieren, fordert unmissverständlich der
SPD-Vorsitzende Franz Müntefering in seinen April-Thesen und
regt dazu eine gesamtgesellschaftliche Verfassungsdebatte zur
Ausarbeitung eines neuen Grundgesetzes an: „Es
hat nie wirklich eine Wiedervereinigung gegeben, die DDR ist
vielmehr der Bundesrepublik zugeschlagen worden.” Diese
nachgereichte Anerkennung von DDR-Wirklichkeit ist durchaus,
daran werden auch Sie sicherlich nicht zweifeln wollen, als ein
erster Erfolg der Kraft der Utopie gegenüber der normativen
Kraft des Faktischen zu werten.
Und der verunklarende und die deutsche
Expansionsgeschichte der letzten zweihundert Jahre ausklammernde
Begriff der “Wiedervereinigung”, den Sie in Ihrem Werk immer
wieder verwenden – im Grunde ist ja Ihre gesamte Darstellung,
mit Verlaub gesagt, nichts anderes als eine teleologische
Versuchsanordnung zur Apologie der deutschen Nationalstaatsidee
– , meinen Sie allen Ernstes, damit den dramatischen politischen
Geschehnissen, wie sie sich vor zwei Jahrzehnten zugetragen
haben, auch nur annähernd gerecht werden zu können? Dieser
Begriff ist schon in völkerrechtlicher Hinsicht eine reine
Abfälschung des tatsächlichen Sachverhaltes. Im
Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 sprechen die Alliiierten der
Anti-Hitler-Koalitation und ihre beiden deutschen Partner
bewusst nicht von “Wiedervereinigung”, wie Sie dies in Ihrer
Geschichtsvergessenheit tun, sondern stets von “Vereinigung”.
Bei Ihrem Begriff wird eine mythische Invariante des
Nationalstaatlichen vorausgesetzt, auf die die Deutschen
angeblich einen ewigen Anspruch hätten, bei dem völkerrechtlich
normierten der aktuelle Willen von sechs Staaten zu einer
praktischen Übereinkunft. Und auch bei der Analyse dieses von
Ihnen immer wieder in die zeithistorische Debatte geworfenen
Begriffes der “Wiedervereinigung” taucht die eingangs gestellte
bange Frage auf: Meinen Sie nicht, dass ein solch
auftrumpfendes Denken bei den Deutschland-Experten der
Signatarstaaten des Zwei-plus-Vier-Vertrages von 1990 nur
Argwohn erzeugen kann? Und vielleicht sogar Angst bei dem einen
oder anderen Leser der kleineren Nachbarländer dieses Kolosses
im Herzen Europas?
Ich grüße Sie freundlich
Dr. Antonín Dick
Berlin, den 17.
Juli
2009
Editorische
Anmerkungen
Den Brief und
das Foto auf der Titelseite erhielten wir vom Autor zur
Veröffentlichung
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