Das Philosophische Wörterbuch  BAND 2

hrg. von Georg Klaus & Manfred Buhr

7-8/10

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Zufall - Ergänzung und eine Erscheinungsform der Notwendigkeit (ENGELS).
 

Der Zufall trägt objektiven Charakter, er ist unabhängig vom Willen und Bewußtsein der Menschen. Ein Ereignis heißt zufällig, wenn es nicht mit innerer Notwendigkeit aus einer gegebenen Gesamtheit von Bedingungen folgt, wenn es so, aber auch anders hätte verlaufen können. Dies bedeutet nicht, daß ein zufälliges Ereignis nicht kausal bedingt sei (->• Kausalität). Die universelle Gültigkeit des Kausalprinzips erstreckt sich vielmehr auch auf zufällige Ereignisse. Zufall und Notwendigkeit bilden einen dialektischen Widerspruch, dessen bestimmende Seite die Notwendigkeit darstellt. Zufall als Ergänzung der Notwendigkeit bedeutet, daß ein notwendiges Ereignis stets durch gewisse zufällige Seiten ergänzt wird. Zufall als Erscheinungsform der Notwendigkeit bedeutet, daß sich unter der Oberfläche scheinbar rein zufälliger Erscheinungen stets eine tiefere Notwendigkeit verbirgt, die es aus dem Chaos der Zufälligkeiten herauszulösen gilt.


 Das Auftreten von Zufällen als Erscheinungsform der Notwendigkeit ist gesetzmäßig und daher (wenn auch nicht in der Form von Einzelereignissen) voraussagbar. Das quantitative Maß der Zufälligkeit eines Ereignisses ist die Wahrscheinlichkeit. Erkenntnistheoretisch hat die Information über das Eintreten eines zufälligen Ereignisses einen um so höheren Wert, je geringer die Wahrscheinlichkeit dieses Ereignisses war. Die Bestimmung des Zufalls als Ergänzung und Erscheinungsform der Notwendigkeit bringt zum Ausdruck, daß 1. Zufall und Notwendigkeit untrennbar miteinander verbunden sind, 2. objektiv die Notwendigkeit primär gegenüber dem Zufall ist und 3. in erkenntnistheoretischer Sicht der Zufall als das die Oberfläche der Erscheinungen Beherrschende der Ausgangspunkt für die Erkenntnis der Notwendigkeit ist, die erst durch Analyse aller zufälligen Zusammenhänge, durch Herauslösung ihres Wesens erkannt wird. Die objektive Existenz von Zufällen spielt in der gesellschaftlichen Tätigkeit eine große Rolle.

MARX schreibt hierüber an KUGELMANN (17. 4. 1871): «Die Weltgeschichte wäre allerdings sehr
bequem zu machen, wenn der Kampf nur unter der Bedingung unfehlbar günstiger Chancen aufgenommen würde. Sie wäre andrerseits sehr mystischer Natur, wenn .Zufälligkeiten' keine Rolle spielten. Diese Zufälligkeiten fallen natürlich selbst in den allgemeinen Gang der Entwicklung und werden durch andre Zufälligkeiten wieder kompensiert. Aber Beschleunigung und Verzögerung sind sehr von solchen .Zufälligkeiten' abhängig - unter denen auch der .Zufall' des Charakters der Leute, die zuerst an der Spitze der Bewegung stehn, figuriert.»

Eine technisch und wissenschaftstheoretisch besonders interessante Gestalt hat die Beziehung zwischen Notwendigkeit und Zufall in kybernetischen Regelsystemen. Zufall fällt hier im wesentlichen mit dem zusammen, was man in der kybernetischen Systemtheorie als Störung bezeichnet. Dabei ist zwischen innerem und äußerem Zufall zu unterscheiden. Von innerem Zufall spricht man dann, wenn die Beziehungen zwischen den Teilsystemen ganz oder teilweise zufälligen Charakter haben bzw. die Teilsysteme oder Elemente nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit funktionieren. Prozesse bzw. Systeme, die sich durch zeitabhängige Zufallsvariablen beschreiben lassen, heißen auch stochastische Prozesse bzw. Systeme. Insbesondere hat bei stochastischen Systemen die Beziehung zwischen Input und Output des Systems Zufallscharakter. Aber auch äußere Störungen, die auf ein selbstregulierendes System einwirken, können den Charakter stochastischer Prozesse haben. Kybernetische Regelsysteme (mit negativer Rückkopplung) zeichnen sich dadurch aus, daß sie in der Lage sind, zufällige äußere Störungen so zu verarbeiten, daß das Gesamtsystem im Rahmen der ihm durch den Sollwert vorgegebenen notwendigen Grenzen verbleibt. Jedes derartige System ist deshalb eine dialektische Synthese von Notwendigkeit und Zufall. Viele Systeme im Bereich der organischen Natur und der Gesellschaft sind von dieser Art. Ihr Gesamtverhalten und ihre Funktion ist zwar durch ihre Struktur und Organisation notwendig determiniert und in diesem Sinne exakt voraussagbar, doch beziehen sich diese Voraussagen nicht auf alle Einzelheiten des Verhaltens der Teilsysteme oder Elemente; deren Verhalten kann durch Zufälligkeiten beeinflußt oder selbst zufällig sein, bewegt sich aber im Rahmen der durch die Grundstruktur des Gesamtsystems gegebenen Notwendigkeit.

Editorische Anmerkung

Der Text wurde entnommen aus:

Buhr, Manfred, Klaus, Georg
Philosophisches Wörterbuch Band 2, Berlin 1970, S. 1180
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