Zufall - Ergänzung und eine
Erscheinungsform der Notwendigkeit (ENGELS).
Der
Zufall trägt objektiven Charakter, er ist unabhängig vom
Willen und Bewußtsein der Menschen. Ein Ereignis heißt
zufällig, wenn es nicht mit innerer Notwendigkeit aus einer
gegebenen Gesamtheit von Bedingungen folgt, wenn es so, aber
auch anders hätte verlaufen können. Dies bedeutet nicht, daß
ein zufälliges Ereignis nicht kausal bedingt sei (->•
Kausalität). Die universelle Gültigkeit des Kausalprinzips
erstreckt sich vielmehr auch auf zufällige Ereignisse. Zufall
und Notwendigkeit bilden einen dialektischen Widerspruch,
dessen bestimmende Seite die Notwendigkeit darstellt. Zufall
als Ergänzung der Notwendigkeit bedeutet, daß ein notwendiges
Ereignis stets durch gewisse zufällige Seiten ergänzt wird.
Zufall als Erscheinungsform der Notwendigkeit bedeutet, daß
sich unter der Oberfläche scheinbar rein zufälliger
Erscheinungen stets eine tiefere Notwendigkeit verbirgt, die
es aus dem Chaos der Zufälligkeiten herauszulösen gilt.
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Das
Auftreten von Zufällen als Erscheinungsform der Notwendigkeit
ist gesetzmäßig und daher (wenn auch nicht in der Form von
Einzelereignissen) voraussagbar. Das quantitative Maß der
Zufälligkeit eines Ereignisses ist die Wahrscheinlichkeit.
Erkenntnistheoretisch hat die Information über das Eintreten
eines zufälligen Ereignisses einen um so höheren Wert, je
geringer die Wahrscheinlichkeit dieses Ereignisses war. Die
Bestimmung des Zufalls als Ergänzung und Erscheinungsform der
Notwendigkeit bringt zum Ausdruck, daß 1.
Zufall und Notwendigkeit untrennbar miteinander verbunden sind,
2. objektiv die Notwendigkeit primär gegenüber dem Zufall ist
und 3. in erkenntnistheoretischer Sicht der Zufall als das die
Oberfläche der Erscheinungen Beherrschende der Ausgangspunkt für
die Erkenntnis der Notwendigkeit ist, die erst durch Analyse
aller zufälligen Zusammenhänge, durch Herauslösung ihres Wesens
erkannt wird. Die objektive Existenz von Zufällen spielt in der
gesellschaftlichen Tätigkeit eine große Rolle.
MARX
schreibt hierüber an KUGELMANN (17. 4. 1871): «Die
Weltgeschichte wäre allerdings sehr
bequem zu machen, wenn der Kampf nur unter der Bedingung
unfehlbar günstiger Chancen aufgenommen würde. Sie wäre
andrerseits sehr mystischer Natur, wenn .Zufälligkeiten' keine
Rolle spielten. Diese Zufälligkeiten fallen natürlich selbst in
den allgemeinen Gang der Entwicklung und werden durch andre
Zufälligkeiten wieder kompensiert. Aber Beschleunigung und
Verzögerung sind sehr von solchen .Zufälligkeiten' abhängig -
unter denen auch der .Zufall' des Charakters der Leute, die
zuerst an der Spitze der Bewegung stehn, figuriert.»
Eine
technisch und wissenschaftstheoretisch besonders interessante
Gestalt hat die Beziehung zwischen Notwendigkeit und Zufall in
kybernetischen Regelsystemen. Zufall fällt hier im wesentlichen
mit dem zusammen, was man in der kybernetischen Systemtheorie
als Störung bezeichnet. Dabei ist zwischen innerem und äußerem
Zufall zu unterscheiden. Von innerem Zufall spricht man dann,
wenn die Beziehungen zwischen den Teilsystemen ganz oder
teilweise zufälligen Charakter haben bzw. die Teilsysteme oder
Elemente nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit
funktionieren. Prozesse bzw. Systeme, die sich durch
zeitabhängige Zufallsvariablen beschreiben lassen, heißen auch
stochastische Prozesse bzw. Systeme. Insbesondere hat bei
stochastischen Systemen die Beziehung zwischen Input und Output
des Systems Zufallscharakter. Aber auch äußere Störungen, die
auf ein selbstregulierendes System einwirken, können den
Charakter stochastischer Prozesse haben. Kybernetische
Regelsysteme (mit negativer Rückkopplung) zeichnen sich dadurch
aus, daß sie in der Lage sind, zufällige äußere Störungen so zu
verarbeiten, daß das Gesamtsystem im Rahmen der ihm durch den
Sollwert vorgegebenen notwendigen Grenzen verbleibt. Jedes
derartige System ist deshalb eine dialektische Synthese von
Notwendigkeit und Zufall. Viele Systeme im Bereich der
organischen Natur und der Gesellschaft sind von dieser Art. Ihr
Gesamtverhalten und ihre Funktion ist zwar durch ihre Struktur
und Organisation notwendig determiniert und in diesem Sinne
exakt voraussagbar, doch beziehen sich diese Voraussagen nicht
auf alle Einzelheiten des Verhaltens der Teilsysteme oder
Elemente; deren Verhalten kann durch Zufälligkeiten beeinflußt
oder selbst zufällig sein, bewegt sich aber im Rahmen der durch
die Grundstruktur des Gesamtsystems gegebenen Notwendigkeit.
Editorische Anmerkung
Der Text wurde entnommen aus:
Buhr,
Manfred, Klaus, Georg
Philosophisches Wörterbuch Band 2, Berlin 1970, S. 1180
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