Rufer in der Wüste
Der u.a. aus Frankreich lancierte Aufruf ,JCall’ versteht sich als ein „Aufruf zur Vernunft“ im Nahen Osten, von prominenten jüdischen Bürgern in Europa

von Bernard Schmid

7-8/10

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„Aufruf zur Vernunft“ ist der Appell von prominenten jüdischen Europäern - als Erstunterzeichner -, der seit einigen Wochen besonders in Frankreich kursiert, überschrieben. Am 03. Mai dieses Jahres wurde der Aufruf, dessen ungefährer Inhalt in den Tagen zuvor in Frankreich und Belgien an die Öffentlichkeit gedrungen war, bei einer Veranstaltung im Europäischen Parlament in Brüssel vorgestellt. Anwesend dabei waren der grüne Europaparlamentarier Daniel Cohn-Bendit, der frühere israelische Botschafter in Paris und promovierte Historiker Eli Barnavi, der Repräsentant der - zur staatstragenden Linken Israels zählenden - Bewegung ,Peace Now’ in Frankreich, David Chemla, sowie der Intellektuelle Bernard-Henri Lévy. Alle genannten Personen zählen zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs, und die meisten von ihnen zählen zum politischen Mitte-Links-Spektrum.

Der Aufruf wurde auch unter dem Titel JCall, als Abkürzung für ,Jewish Call for reason’, über die Medien bekannt. Die liberale israelische Tageszeitung ‚Haaretz’ - die oft auch Beiträge außerhalb des politischen Mainstreams in ihrem Land publiziert - veröffentlichte am 03. Mai 2010 einen Leitartikel zu dem Aufruf unter dem Titel ‚A welcome jewish voice’, und publizierte dazu ein Interview mit David Chemla. Das Kürzel ‚JCall’ soll ferner auch an die US-amerikanische Vereinigung ,JStreet’ – von nordamerikanischen Juden, die Israels Staatspolitik kritisch gegenüber stehen – erinnern. Das Profil ist allerdings nicht dasselbe: ,JStreet’ versteht sich als expliziten Bestandteil einer politischen Kontroverse, als Ausdruck einer linken jüdischen Stimme gegenüber jener der jüdischen Rechten, die in den USA ebenfalls höchst aktiv sind. ,JStreet’ versteht sich auch als Gegenorganisation zum politischen Pro-Israel-Lobbyverband AIPAC. Hingegen ist der europäische Aufruf ,JCall’ sehr viel stärkend Konsens suchend angelegt.

Im Text des Aufrufs, der in sechs europäischen Sprachen erschien und nach wenigen Wochen gut 6.000 Unterschriften von Unterstützern - jenseits der prominenten Erstunterzeichner - trug, heißt es: „Wir stellen fest, dass die Existenz Israels erneut gefährdet ist. Die Gefährdung von außen ist nicht zu unterschätzen, doch ist diese nicht die einzige Gefahr. Eine Gefährdung liegt auch in der Besatzung und in dem Auf- und Ausbau der Siedlungen im Westjordanland und in den arabischen Vierteln Ost-Jerusalems, die ein moralischer Fehler und ein politischer Irrtum sind und die u. a. zu dem inakzeptablen Vorgang der Delegitimierung Israels als Staat führen.“

Als Lösungsansatz für den israelisch-palästinensischen Konflikt wird eine Zwei-Staaten-Lösung gewünscht. Sonst drohe Israel sich „bald (…) mit zwei katastrophalen Alternativen konfrontiert (zu) sehen: Entweder werden die Juden eine Minderheit in ihrem eigenen Land sein oder es wird im Lande ein Regime entstehen, das Israel beschämen und die Gefahr eines Bürgerkrieges heraufbeschwören wird.“ Als Hebel, um einer angestrebten Lösung näher zu kommen, wird dabei internationaler Druck seitens der westlichen Großmächte betrachtet: Es sei „von größter Wichtigkeit, dass die Europäische Union gemeinsam mit den Vereinigten Staaten von Amerika Druck auf beide Parteien ausübt und ihnen hilft, eine vernünftige und schnelle Regelung des israelisch-palästinensischen Konflikts zu erreichen.“ Die Rolle der außerhalb Israels lebenden Juden wird dabei als ein wichtiges Element in einem solchen Prozess betrachtet: „Die endgültige Entscheidung liegt zwar beim souveränen Volk Israels“ - so die Formulierung in der französischen Ausgangsfassung des Aufrufs, in der deutschsprachigen heißt es schlicht „bei den Israelis“ -, „doch sollte die Solidarität der Juden weltweit die Israelis dazu ermutigen, die richtige Entscheidung zu treffen.“

Reaktionen, Lob & Kritik

Der Aufruf rief zahlreiche Reaktionen hervor. Am 04. 05. äußerte sich dazu die „Generaldelegierte Palästinas“ bei der Europäischen Union - , die mangels eines anerkannten Staates und der Möglichkeit, Botschafter zu senden, ähnliche Aufgaben als Interessenvertreterin der Palästinensischen Autonomiebehörde wahrnimmt -, Leila Chahid. Die Quasi-Botschafterin, die zuvor in Paris residierte, eher der Linken nahe steht und bisweilen auch ziemlich eigenständige Positionen etwa zu Frauenrechten vertritt, meldete sich auf der Website des sozialliberalen französischen Wochenmagazins Le Nouvel Observateur zu Wort. Dort erklärte sie: „Durch JCall gibt es einen Gesprächspartner für die Palästinenser.“

Wesentlich kritischer äußerte sich Michel Warschawski vom ,Alternativ Information Center’ (AIC) in Jerusalem, der derereinst als – früher eher religiöser - jüdischer Einwanderer aus Strasbourg nach Israel kam und heute zur israelischen bzw. israelisch-palästinensischen radikalen Linken zählt. Er steht für ein politisches Profil, das für einen binationalen Staat aus beiden Bevölkerungen eintritt und insofern die staatliche Verfasstheit Israels in Frage stellt. Warschawski hob in seiner Stellungnahme hervor, dass die Urheber des Aufrufs eher linkszionistische Intentionen hätten, die auf eine bessere Bewahrung der Interessen und des Images des Staates Israel abzielten, während es stattdessen von den Interessen der palästinensischen Bevölkerung als Opfer der Besatzung auszugehen gelte. Allerdings fügte Warschawski in seiner Stellungnahme des AIC hinzu, die Veröffentlichung des Aufrufs ,JCall’ zeige „die wachsende Isolierung der ultrarechten israelischen Regierung“, die seit der Regierungsbeteiligung der rechtsextremen Partei Avigdor Liebermanns und der Ablehnung von Zugeständnissen bei der Siedlungspolitik zugenommen habe. Insofern widerspiegele der Appell eine wichtige Entwicklung.

Das französische Wochenmagazin ,Marianne’ publizierter ferner ein Interview mit dem israelischen Historiker Zeev Sternhell, der sich in der Vergangenheit vor allem als bahnbrechender Forscher zum europäischen Faschismus einen Namen machte. Vor gut einem Jahr war Sternhell, der historisch vom Marxismus kommt und heute zur zionistischen moderaten Linken zählt, zum Opfer eines Attentatsversuchs von Rechtsradikalen aus dem Umfeld der Siedlerbewegung geworden. Sternhell erklärt dort zu dem Aufruf, dieser rufe in seinem Land „eine noch maßvolle, aber sehr vielversprechende Aufmerksamkeit hervor. Ohne den israelischen Intellektuellen sofort wieder Frischluft zu geben, bestätigt ,JCall’ all jene, die wie ich zugunsten einer Kompromisslösung eintreten. In Israel ist das ,Friedenslager’ nicht verschwunden.“

Heikler Punkt : militärische Rolle der EU als Friedensstifter – ausdrücklich erwünscht

Sternhell äußert sich auch zu dem als heikel geltenden (und von der linken wie der rechten Kritik, aus unterschiedlichen Motiven, ins Visier genommenen) Punkt des Aufrufs, in welchem die Ausübung von Druck durch Europa und die USA auf den Staat Israel gefordert wird. Dieser Punkt wird allgemein sowohl von linker Seite - wo eher eine internationale Solidaritätsbewegung außerhalb der Regierung mit den Palästinensern und dem linken oder pazifistischen Teil Israels anvisiert wird - als auch von rechter, nationalistischer Seite in Israel her aus unterschiedlichen Gründen heftig kritisiert. Dazu erklärt Sternhell seinerseits: „Seit mehreren Jahren bin ich überzeugt, dass die Friedensverhandlungen sich bis ans Ende der Tage hinschleppen können, ohne äußeres Eingreifen, sagen wir amerikanisch-europäisches. ,JCall’ kann uns das dritte Element, das diesen äußeren Druck herstellen kann, liefern. Allein eine Einbeziehung der Amerikaner und der Europäer kann uns auf der einen wie auf der anderen Seite dazu bewegen, eine Lösung zu akzeptieren, die von ihrem Wesen her niemanden voll zufriedenstellen kann.“

Ähnlich - aber weiter gehend als Sternhell - befürwortet auch Avi Primor, der in den neunziger Jahren Botschafter Israels in Deutschland war und den Aufruf ,JCall’ ebenfalls unterzeichnet, eine aktive Rolle der USA und der EU. In der ,Frankfurter Rundschau’ führte er dazu aus, er befürworte „eine internationale Truppe, die von der palästinensischen Bevölkerung unterstützt wird und sowohl mit der israelischen als auch palästinensischen Regierung zusammenarbeitet. Ich plädiere für eine politische Verantwortung, mit der Truppen gefunden werden, um Sicherheit im Westjordanland zu gewährleisten, so dass es sich die Israelis leisten können, das Westjordanland zu räumen. Ich meine zunächst amerikanische Truppen, aber ich gehe davon aus, dass dies nicht machbar ist, weil die amerikanische Bevölkerung dem nicht zustimmen wird. Infolgedessen sage ich, dass die einzige Weltmacht, die dies übernehmen kann, Europa ist. Europa soll also eine politische Verantwortung übernehmen, Truppen finden, nicht die eignen, ich würde sogar muslimische Truppen befürworten, etwa türkische, weil die Türkei ein Interesse hat, in ihrem Hinterhof Frieden zu stiften. Die Frage ist, wer definiert die Mission einer solchen Truppe, wer gibt ihr den politischen Befehl? Wer stärkt der Truppe den Rücken?“ Kurz darauf fügte er in dem selben Interview hinzu: „Die gemäßigten und vernünftigen Israelis würden es bedauern, wenn Europa schwächer wird.“

Diese Äuerungen fielen zeitlich, bevor ein Elitekommando der israelischen Armee am 31. Mai 2010 in internationalen Gewässern, 150 Kilometer von den Küsten Israels und Palästinas entfernt, das türkische Schiff ,Mavi Marmara’ als Teil der Gaza-Solidaritätsflotte stürmte und dabei neun Menschen tötete. Seit jenem Tag ist das türkisch-israelische Verhältnis angespannt wie (seit langem) noch nie, und die Politik der Türkei rückt von ihrem traditionellen Waffenkumpanen im Nahen Osten teilweise ab. Zudem spekuliert Premierminister Recep Tayyip Erdogan auf durchsichtige Weise nicht nur auf steigende Unterstützung im Inland, sondern auch darauf, Sympathien in Ländern des Nahen Osten und anderswo zu gewinnen und strategische Bonuspunkte einzustreichen. (Die türkische Hilfsorganisation IHH, die auf dem angegriffenen Schiff massiv vertreten war, steht der national-religiösen Rechten in ihrem Lande nahe. Notwendige Kritik an ihren ideologischen Inhalten einerseits, die unumgängliche Verurteilung des Akts internationaler Piraterie durch Israels Elitetruppen auf der anderen Seite sind dabei zwei unterschiedliche Aspekte derselben Sache. Beide dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern begründen eine jeweils nötige Kritik.)

Gegen-Appell von Rechts

Aus einer anderen politischen Ecke als ,JCall’ wurde kurz darauf ein Gegenaufruf -in Französisch, Englisch, Deutsch und Hebräisch - veröffentlicht, dessen Erstunterzeichner tendenziell eher der Politik des regierenden Likud-Blocks in Israel nahe stehen und eine so genannte Politik der harten Hand befürworten. In ihren Augen müssen die israelischen Sicherheitsbedürfnisse im Mittelpunkt stehen, die durch den Aufruf ,JCall’ nicht ausreichend berücksichtigt würden.

Unter der Überschrift ,Raison Garder’ (ungefähr: „die Vernunft bewahren“ oder „kühlen Kopf behalten“) setzt der Appell sich zum Ziel, „eine Meinungsbewegung (mouvement d’opinion), die einen wirklichen Vermittler innerhalb der Europäischen Union - deren Bürger wir sind - bildet“ zu schaffen. Ferner soll es darum gehen, „die Legitimität des Staates Israel zu verteidigen und zu illustrieren, im Rahmen eines echten Friedens, und gegen den Antisemitismus zu kämpfen“. Dem Aufruf JCall wird von dieser Seite her vorgeworfen, er trage „durch seine parteilichen und einseitigen Motivationen zu den Boykott- und Deligitimierungs-Versuchen, die auf Israel zielen, bei“ und füge „seiner Bevölkerung schweren Schaden zu“.

Der Aufruf ,Raison Garder’ schildert die Situation Israels überwiegend durch das Prisma der Bedrohungen für seine Sicherheit, und zitiert dabei natürlich das iranische Regime, aber auch die libanesische Hizbollah. Versuche zu Lösungen des Nahostkonflikts, wie ,JCall’ sie favorisiert, zu propagieren, trügen zu dieser Gefährdung nur bei. Die Gegenpetition schreibt dazu: „Die Oslo-Vereinbarungen haben zu einer bis dahin nicht gekannten Terrorismuswelle geführt, der Rückzug aus dem Libanon zur Installierung der Hizbollah (…) und der Abzug aus Gaza zum Staatsstreich der Hamas und einem Regen von Raketen.“

Diese Sätze illustrieren allerdings auch, dass die Autoren einige historische Kurzschlüsse nicht vermeiden, von der Grundannahme ausgehend, dass an Konflikten rund um Israel immer und ausschließlich die Anderen schuld seien. Der Oslo-Prozess von 1993/94 scheiterte unter anderem auch deswegen, weil sein Protagonist Yitzak Rabin im November 1995 von einem israelischen Rechtsradikalen ermordet wurde - nach einer Monate dauernden Hasskampagne, während derer auf gemeinsamen Demonstrationen von Rechtsextremen, Siedlern und Likudblock der damalige Premierminister Rabin auf Plakaten in SS-Uniform neben seinem Vertragspartner Jassir Arafat dargestellt wurde. Dies sollte aussagen, dass er mit seiner Politik auf die Zerstörung Israels ziele. Parallel dazu verübte die - in den palästinensischen Gebieten damals in Opposition stehende- Hamas eine Attentatswelle, da ihr eine Rechtsregierung in Israel lieber war, um klare Fronten zu haben. Im Anschluss daran kam der Likud-Block, der den Oslo-Prozess im Grunde ablehnte, im Mai 1996 an die Regierung. Zur Stärkung der Hizbollah trug nicht allein der israelische Abzug aus dem Südlibanon 2000 bei, sondern zuvor der Einmarsch der israelischen Truppen dort im Juni und die Blockade Beiruts im September 1982 - im Herbst desselben Jahres wurde, als eine der Reaktionen darauf, die Vorläuferbewegung der Hizbollah gegründet. Auch die massiven Menschenrechtsverletzungen durch Israels Verbündete im Libanon, besonders die „Falangisten“ und die folternde Söldnertruppe ,South Lebanon Army’, trugen dazu bei, dass die Hizbollah in breiten Kreisen des Landes als legitime Widerstandsbewegung betrachtet wurde. Dies trug ebenso wie die logistische Unterstützung aus dem Iran zum Aufbau und der Stärkung der Hizbollah bei. Als Israel im Sommer 2000 den Südlibanon räumte, verkaufte Letztere dies dann als den eigenen Triumph.

Zu den prominentesten Erstunterzeichnern des Aufrufs ,Raison Garder’ zählen die Demographin Michèle Tribalat, der Politologe Pierre-André Taguieff sowie der Sozial- und Politikwissenschaftler Shmuel Trigano.

Taguieff, der im vergangenen Jahrzehnt an einigen Polemiken im französischen Geistesleben beteiligt war, ist ein früherer Linken, der sich zu Anfang der neunziger Jahren mit seinen ehemaligen Weggefährten überwarf - damals, weil Taguieff einen Dialog mit Intellektuellen der „Neuen Rechten“, ohne ihre Positionen zu teilen, befürwortete. Antifaschisten griffen ihn deswegen, zum Teil mit überzogenen Vorwürfen, an. Daraufhin entfernte sich Taguieff von der Linken und näherte sich später an Positionen des US-amerikanischen Neokonservativismus an.

Shmuel Trigano publiziert häufig zu Fragen der israelischen Politik, aber auch etwa zur französischen Einwanderungspolitik, wo er stärkere Anforderungen seitens des französischen Staates verlangt: „Es liegt nicht an den Gastgebern, sich an die Bedingungen ihrer Gäste anzupassen.“ (Vgl. http://www.shmuel-trigano.fr ) Trigano bezeichnet es ferner als normal, dass Einwanderer unten anfangen müssen und erst allmählich die soziale Leiter hochklettern könnten ; insofern sei es Unfug, sich über eventuelle gesellschaftliche Diskriminierungen zu beschweren. Trigano stammt von seiner Herkunft her aus einer Bevölkerungsgruppe, jene der algerischen Juden vor der Unabhängigkeit von 1962, die zwar einerseits spezifischen Diskriminierungen ausgesetzt war (es gab in den 1890er Jahre eine antijüdische Massenbewegung unter den in Algerien lebenden Europäern, und bis in die 1920er Jahren war ihnen der Hochschulzugang nur limitiert möglich), aber andererseits vom französischen Kolonialsystem massiv privilegiert wurde. Den algerischen Juden, die keine Zuwanderer aus Europa, sondern wie die Araber und Berber Altansässige waren, wurde 1870 durch das ,Crémieux-Dekret’ – ungefragt - die französische Staatsbürgerschaft verliehen. Hingegen wurde die „Masse“ der „eingeborenen“ Bevölkerung in Algerien rechtlich nicht als Bürger, sondern als Staatsangehörige dritter Klasse behandelt. Dadurch strebte das Kolonialsystem danach, die algerischen Juden aus der Gesamtgruppe der altansässigen Bevölkerung herauszubrechen. Später gab es manche algerischen Juden, die sich – mit einer politischen Mentalität ähnlich jener Triganos – stark mit dem Kolonialsystem und den Pieds Noirs (europäischen Algeriensiedlern) identifizierten. Linke Juden in Algerien, wie Henri Alleg und Daniel Timsilt – später Minister in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit – kämpften hingegen unter Gefahr für Leib und Leben gegen den Kolonialismus. Alleg wurde vom französischen Staat dafür gefoltert. Solche Leute waren ungleich ehrbarer als jene Figuren, die sich wie Trigano bis heute eine Kolonialmentalität bewahrt zu haben scheinen.

Insgesamt stehen die Erstunterzeichner, in unterschiedlichem Ausmaß, den Positionen der israelischen (und zum Teil auch der europäischen) Rechten nahe.

Im Unterschied zu ,JCall’ trägt ihr Aufruf nicht den Charakter einer Prominenten-Position, die erst später um andere Unterstützer erweitert werden soll, sondern appelliert von Anfang an eine breite Solidarität der jüdischen Bevölkerung in Frankreich, die ihre Loyalität zu Israel illustrieren möge. Vor diesem Hintergrund erhielt ihr Aufruf bis zum 25. Mai knapp über 10.000 Unterschriften, überwiegend aus Frankreich und Israel; danach verlangsamte sich der Zuwachs erheblich, bis Anfang Juli kamen dann rund 11.000 Unterschriften zusammen.

Unterstützung erhielt der Aufruf aus der konservativen jüdischen Rechten – neben Segmenten der jüdischen Community - auch in Deutschland aus der ,antideutsch’-neokonservativen Kloake. (Vgl. an dieser Stelle: http://www.wadinet.de) Natürlich geht es hier nicht ohne harsche Kritik an den Urhebern von ,JCall’ und ihrer, selbstverständlich schier böswilligen, „Lobbyarbeit gegen Israel“ ab. Nun, warum nur fühlt man sich bei gewissen Texten aus diesem (ex-),antideutschen’ Milieu immer wieder entfernt an dieses uralte Kinderlied erinnert...? „Und die ga-hanze Affen-baaa-nde brü-hüüllt: Wer hat die Koooo-kos-nuss, wer hat die Koooos-kos-nuss....“ - Nicht zu verwechseln mit diesen Reaktionen aus der deutschesten aller Sekten, gilt es jedoch die inner-jüdische Debatte. Legitimer Weise kommen in ihr, wie in allen Gesellschaften und Bevölkerungen der Welt, Positionen aus der ganzen Palette von weit Links bis weit Rechts zum Ausdruck. Man muss diese politischen Positionen nur als solche (an)erkennen.

Innerjüdische Debatten

Auf einer ungefähr ähnlichen Position wie Raison Garder steht auch Richard Prasquier, der Vorsitzende des französischen - ungefähren - Pendants zum deutschen Zentralrat der Juden, des CRIF. Prasquier, der sich positiv auf den Appell ,Raison Garder’ bezog, warf JCall unter anderem vor, den Bau jüdischer Wohnungen und Siedlungen in und um Ostjerusalem als „moralische Verfehlung“ bezeichnet zu haben, da „Jerusalem das lebendige Herz des Judentums“ sei. Der CRIF (Repräsentativrat der jüdischen Institutionen in Frankreich) stand in den neunziger Jahren unter Theo Klein noch eher sozialdemokratischen Positionen nahe, hat sich jedoch seit zwölf Jahren von ihnen verabschiedet und seine Führungsinstanzen einer deutlich an die israelische Rechte andockenden Strömung geöffnet. Viele, vor allem linke oder säkulare, Angehörige der 700.000 Menschen zählenden jüdischen Bevölkerung in Frankreich stehen ihm heute jedoch kritisch oder distanziert gegenüber.

Die linkspazifistische bis linksradikale „Französische jüdische Union für den Frieden“ (UJFP) hingegen äußert aus einem anderen Blickwinkel Kritik an dem Aufruf. In ihrem Namen monierte Rudolf Bkouche, es handele sich um einen „recht unvernünftigen Aufruf zur Vernunft“. Er hob besonders hervor: „Dieser Appell will als Aufruf zum Frieden erscheinen, doch er ist tatsächlich nur ein Aufruf, Israel zu Hilfe zu eilen. Die Palästinenser zählen nicht, außer dort wo gesagt wird, dass sie eine demographische Gefahr für Israel darstellen. Man muss also (aus Sicht der Unterzeichner) eine Scheidung in gegenseitigem Einvernehmen organisieren, im Israel zu erlauben, den Frieden als ,jüdischer und demokratischer’ Staat zu finden.“ Die linke Vereinigung, die tendenziell für einen binationalen Staat eintritt, sorgt sich in diesem Kontext um den Verbleib der arabischen Bevölkerung innerhalb Israels und um die Lebensfähigkeit eines palästinensischen Staates, angesichts der faktischen Annexion von Siedlungsblöcken an das derzeitige israelische Kernland. Ferner unterstreicht Bkouche die Heterogenität der Unterzeichner, von denen ein Teil eher durch die Sicherheit Israels und die Aufbesserung seiner Reputation motiviert sei, während es anderen vorrangig eher um den Frieden gehe.

Diese Heterogenität besteht tatsächlich, und die politischen Auffassungen unterschiedlicher Unterzeichner von JCall - vom Philosophen Alain Finkielkraut, der, nachdem er in den jungen Jahren einmal Maoist war, heute weitgehend konservative bis stockreaktionäre Position vertritt, bis zur links positionierten Hochschullehrerin Esther Benbessa - tendieren ansonsten oft deutlich auseinander.

Dies wurde einmal mehr dadurch belegt, wie einzelne der Unterzeichner auf den israelischen Militärangriff auf die Gaza-Solidaritätsflotte vom 31. Mai reagierten. Während viele der Erst-Unterzeichner eher pazifistische Intentionen hegten und hegen und dem Gewalteinsatz kritisch gegenüber standen, stellten sich Alain Finkielkraut und Bernard-Henri Lévy (BHL) in die erste Reihe, um ihn zu rechtfertigen. (Vgl. auch http://abonnes.lemonde.fr/) Finkielkraut bleibt ansonsten ein tendenziell rassistischer Kotzbrocken, wie er mit seinen Auslassungen über die „ethnischen“ Probleme bei der französischen Fuball-Nationalelf (vgl. neben stehenden Artikel zu diesem Thema) einmal mehr unterstrich. BHL seinerseits verstieg sich jüngst dazu, Israels Armee – im Rahmen einer oberflächlichen Methodenkritik an dem Piraterie-Akt vom 31.05. im Mittelmeer und seiner Uneffizienz – wörtlich als „eine Armee, die sparsam mit Menschenleben umgeht/sparsam an Menschenleben ist und der Reinheit der Waffen anhängt“ (im Originalton: ,une armée économe en vis humaines et adepete de la pureté des armes’, Sic) zu beschreiben. (Vgl. http://lafranceetlhommeafricain.blogs.nouvelobs.com ) Die Reinheit der Affen scheint also, im Rückblick auf den Aufruf ,JCall’, unvermittelt neben eher humanistischen Intentionen, Absichten und Auffassungen zu stehen.
 

Editorische Anmerkung

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.