Derzeit steht der
afrikanische Kontinent wegen der Fußball-WM in Südafrika im
Blickpunkt der Weltöffentlichkeit. Doch es gibt einen weiteren
Grund, warum 2010 ein ganz besonderes Jahr ist: 17
afrikanische Staaten feiern den 50. Jahrestag ihrer
Unabhängigkeit und ziehen aus diesem Anlass eine vorläufige
Bilanz der postkolonialen Ära. Zu diesen Ländern gehören
einige, die bis heute die negativen Schlagzeilen über »Afrika«
beherrschen, wie etwa Somalia oder die DR Kongo. Es sind aber
auch Länder darunter, die aus Sicht der ehemaligen
Kolonialmächte Frankreich, Großbritannien und Belgien als
vergleichsweise stabil gelten, wie etwa Gabun oder Kamerun.
Und es sind einige der größten und wirtschaftlich stärksten
Länder Afrikas dabei, wie Nigeria.
Wer glaubt, 50 Jahre
Unabhängigkeit von den europäischen Kolonialisten würden in den
jeweiligen Ländern euphorisch gefeiert, irrt. Zwar gibt es
Versuche seitens der Regierungen, an den jeweiligen Independence
Days Jubelfeiern zu lancieren. Doch sie schlagen fehl. Beispiel
Senegal: Hier ließ Präsident Abdoulaye Wade Anfang April mit
großem Pomp ein »Denkmal der afrikanischen Renaissance«
einweihen. 14 afrikanische Staatschefs folgten seiner Einladung.
Mit seinen über 50 m Höhe überragt das Denkmal die
US-amerikanische Freiheitsstatue, und ganz im Stile
realsozialistischer Propaganda heroisiert es den Freiheitskampf.
Dumm nur, dass die Opposition zum Boykott der Einweihung aufrief
und direkt vor den Feierlichkeiten tausende Menschen dagegen
demonstrierten... Und auch in Nigeria stoßen die geplanten
50-Jahr-Feiern im Oktober nicht auf Gegenliebe. Die Zeitungen
des Landes sind voller Beschwerden über die für die
Feierlichkeiten vorgesehenen Ausgaben von zehn Milliarden Naira.
Diese würden großteils in den Taschen korrupter Politiker
verschwinden, lautet die verbreitete Meinung.
Noch weiter in ihrer Kritik gehen manche afrikanische
Intellektuelle. »Unsere Eltern fragen immer wieder, wann diese
Unabhängigkeit endlich vorüber geht«, lässt der Schriftsteller
Venance Konan den Erzähler in seinem satirischen Roman »Les
Catapilas, ces ingrats« sagen. Angesichts von Bürgerkrieg,
Misswirtschaft und ‚bad governance’ in seinem Heimatland
Elfenbeinküste kann Konan den letzten 50 Jahren nur wenig gute
Seiten abgewinnen.
Es wäre vollkommen falsch, aus Kritik wie jener von Konan den
Schluss zu ziehen, »die« AfrikanerInnen seien unfähig, ihre
Länder selber vernünftig regieren zu können. Denn die sozialen,
kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen durch
den Kolonialismus lassen sich nicht binnen weniger Jahrzehnte
aus der Welt schaffen. Schon in den Jahrzehnten vor 1960 hatte
der koloniale Staat die Grundlagen dafür gelegt, dass der
Einfluss der Kolonialmächte im postkolonialen Zeitalter groß
blieb. In nahezu allen Bereichen der Wirtschaft, der Politik
oder des Bildungswesens kam es keineswegs zu echter
Unabhängigkeit – allen Bestrebungen der FreiheitskämpferInnen
zum Trotz. Sehr bald setzte sich der Begriff des
»Neokolonialismus« durch, um den fortdauernden Einfluss der
Ex-Kolonialmächte zu charakterisieren. Dagegen gesetzt wurde die
Hoffnung auf afrikanische »Einheit« und panafrikanische
Solidarität. Sie wurde schon bald enttäuscht, weil allzu oft die
partikularen Interessen postkolonialer Herrschercliquen
dominierten – ganz im Sinne der Ex-Kolonialmächte.
Die postkoloniale Ära ist bis zum heutigen Tag außerordentlich
bewegt. Sie war zunächst stark beeinträchtigt von der
Blockkonfrontation und der Stellvertreterpolitik, die politische
Alternativen zu Kapitalismus und Staatssozialismus – den
»Dritten Weg« – gerade in Afrika praktisch unmöglich machte.
Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes keimte die Hoffnung auf
Demokratisierung. Sie wurde bald zunichte gemacht durch die
gewaltförmige Ethnisierung zahlreicher sozialer Konflikte, die
bis dahin durch nationalistische Regime im Zaum gehalten worden
waren.
Fortan galt das postkoloniale Afrika als der Kontinent der
failed states, der Bürgerkriege, der Genozide, der Warlords, der
Armut und des Hungers. Heute oszilliert die Politik des Westens
gegenüber Afrika zwischen halbherzigen Befriedungsmaßnahmen wie
etwa in der DR Kongo und dem Rückzug aus jeglichem
Afrika-Engagement. Allenfalls im Zuge des »Krieges gegen den
Terror« vermag Afrika gelegentlich noch einige (militärische)
Aufmerksamkeiten zu erregen. Der relative Rückzug des Westens
machte Platz für einen neuen Akteur: Die VR China, die frei von
kolonialen ‚Altlasten’ ihre wirtschaftlichen Interessen umso
erfolgreicher durchsetzt. Inzwischen hat um Afrika erneut ein
Wettlauf um Ressourcen wie etwa Böden eingesetzt, der nicht zum
Vorteil der dort lebenden Menschen verläuft.
Mit unserem Dossier wollen wir einige Schlaglichter auf die
unvollkommen gebliebene postkoloniale Unabhängigkeit werfen – in
der beharrlichen Hoffnung, dass die nächsten 50 Jahre zu einer
Ära der Freiheit in Afrika werden. Ansätze dazu sind reichlich
vorhanden. Es wäre schon viel gewonnen, wenn Europa es
unterließe, sie zu unterminieren.
die redaktion
Für die freundliche Unterstützung des Dossiers »Afrika
postkolonial« danken wir: der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der AG
Dritte Welt hier! der Stiftung Umverteilen!
PS.: »Independance Cha Cha« wurde 1960 von Joseph
Kabasele Tshamala komponiert und während der Verhandlungen zur
kongolesischen Unabhängigkeit in Brüssel uraufgeführt. Das Lied
wurde zur Hymne nicht nur der nationalistischen Bewegung im
Kongo, sondern auch in den anderen unabhängigen Staaten Afrikas.
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