Der Pflegevertrag des pflegebedürftigen Menschen, die Erklärung der Rechte des Menschen und Bürgers und die Charta der Rechte der hilfe- und pflegebedürftigen Menschen

Eine Nachbemerkung zum Kongress zur Pflege-Charta am 8. Juni 2010 in Berlin

Von Antonín Dick

7-8/10

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Betrachtet man den für alle Pflegeverträge mit Wirkung vom Juli 2008 verbindlichen Rahmenvertrag „Vertrag über ambulante pflegerische Versorgung“, der von der Bundesarbeitsgemeinschaft Hauskrankenpflege e. V. vorgegeben wird, kommt man sehr schnell zu dem Schluss, dass der pflege- und hilfebedürftige Mensch kaum über Rechte gegenüber dem Pflegedienst verfügt (Vertragstext siehe Anhang). Er hat nach Abschnitt 6 nur ein einziges Recht – das Recht auf Vertragskündigung. Das Wort „Recht“ kommt ansonsten in dem Text nicht vor. Dafür werden etliche Pflichten dem pflegebedürftigen Menschen auferlegt. Dreimal kommt dort das Wort „Wunsch“ vor.Der pflegebedürftige Mensch darf nach Abschnitt 1.3 „Wünsche“ äußern, wie er gepflegt und versorgt werden möchte. Ob ihm diese „Wünsche“ gewährt werden, hängt von der Gnade des Pflegedienstes ab. Nach Abschnitt 1. 5 erhält der Pflegebedürftige „auf Wunsch eine Kopie der Dokumentation gegen Berechnung.“ Nach Abschnitt 8 gibt es die Möglichkeit einer Vereinbarung über die Rücksichtnahme auf „besondere Wünsche des Pflegebedürftigen“.

Was die Ausgestaltung der Vertragswirklichkeit anbetrifft, so sucht man im Rahmenvertrag vergeblich einen Verweis auf § 11 Abschnitt 1 des Pflege-Versicherungsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (PflegeVG). Diese Rechtsvorschrift definiert die Grundpflichten des Pflegedienstes:

„Die Pflegeeinrichtungen pflegen, versorgen und betreuen die Pflegebedürftigen, die
ihre Leistungen in Anspruch nehmen, entsprechend dem allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse. Inhalt und Organisation der Leistungen haben eine humane und aktivierende Pflege unter Achtung der Menschenwürde zu gewährleisten.“

Doch statt dieser Grundpflichten des Pflegedienstes zur Einhaltung von Leistungs- und Menschenrechtsstandards erscheint unter Abschnitt 1.3 des Rahmenvertrages lediglich das Versprechen, sich um die Beachtung des Prinzips der kleinsten Betreuerzahl zu bemühen:

„Der Pflegedienst bemüht sich im Rahmen seiner Personalausstattung um eine kontinuierliche Betreuung durch möglichst wenige Mitarbeiter.“

Fazit: Dieser Rahmenvertrag begründet, gewollt oder nicht, für den pflegebedürftigen Menschen in der Tendenz nichts anderes als ein Gnadenrecht, wie es vor der Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers von 1789 in weiten Teilen Europas existierte. Zur Erinnerung sei Artikel 1 dieser Erklärung hier zitiert:

„Frei und gleich an Rechten werden die Menschen geboren und bleiben es. Die sozialen Unterschiede können sich nur auf das gemeine Wohl gründen.“

Mehr als zweihundert Jahre später, am 20. Januar 2005, legt erstmalig eine deutsche Regierung, die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, eine Charta der Rechte der hilfe- und pflegebedürftigen Menschen vor, die im Geiste der Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers unveräußerbare Rechte des pflegebedürftigen Menschen definiert. Die acht Artikel dieser Charta, die noch etliche Unterabschnitte beinhalten, lauten:

„Artikel 1: Menschenwürde und Selbstbestimmung
Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch, auch der rechtlich Betreute, hat das Recht auf Hilfe zur Selbsthilfe sowie auf Unterstützung, um ein möglichst selbstbestimmtes und selbständiges Leben führen zu können.“

Artikel 2: Körperliche und seelische Unversehrtheit, Freiheit und Sicherheit
Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht, vor Gefahren für Leib und Seele geschützt zu werden.

Artikel 3: Pflege, Betreuung und Behandlung
Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht, dass ihm die Pflege, Betreuung und Behandlung zukommt, die seinem Bedarf entspricht und seine Fähigkeiten fördert.

Artikel 4: Privatheit
Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht auf Wahrung und Schutz seiner Privat- und Intimsphäre.

Artikel 5: Information, Beratung und Schulung
Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht, umfassend über Möglichkeiten von Hilfe- und Pflegeangeboten beraten zu werden.

Artikel 6: Kommunikation, persönliche Zuwendung und Teilhabe an der Gesellschaft
Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht auf Wertschätzung, Austausch mit anderen Menschen und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

Artikel 7: Religion, Kultur und Weltanschauung
Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht, seiner Kultur und Weltanschauung entsprechend zu leben und seine Religion auszuüben.

Artikel 8: Palliative Begleitung, Sterben und Tod
Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht, in Würde zu sterben.“

Da jedoch der Rahmenvertrag die Charta der Rechte der hilfe- und pflegebedürftigen Menschen nicht zu seiner rechtlichen Voraussetzung hat, weil diese nur als Entwurf existiert, erwachsen daraus auch keinerlei verbrieften Rechte für den pflege- und hilfebedürftigen Menschen. So ist er auf Gedeih und Verderb dem ihn pflegenden Pflegedienst ausgeliefert.

Und doch wird Kritik an der Pflege durch den pflege- und hilfebedürftigen Menschen, sei es in Form des Widerspruchs, sei es in Form der Unterbreitung von Verbesserungsvorschlägen, vom Gesetzgeber gefordert. In § 4 Abschnitt 3 PflegeVG heißt es:

„Pflegekassen, Pflegeeinrichtungen und Pflegebedürftige haben darauf hinzuwirken, dass die Leistungen wirksam und wirtschaftlich erbracht und nur im notwendigen Umfang in Anspruch genommen werden.“

Doch unter Voraussetzung, dass die Pflege-Charta eben kein durch den Bundestag beschlossenes Gesetz darstellt, muss diese Rechtsvorschrift für den pflegebedürftigen Menschen bedeutungslos bleiben. Beruft er sich dennoch auf sie, d. h. trägt er selbstbewusst Pflegekritik zur Verteidigung seiner Rechte als Mensch und Bürger gegenüber dem Pflegedienst vor, riskiert er die Kündigung des Pflegevertrages. Pflegedienste entledigen sich allzu unbequemer kritischer Vertragspartner mittels des erlaubten Rechtsmittels der Vertragskündigung, die unanfechtbar ist und nicht begründet werden muss. So gesellt sich zur gesundheitsbedingten Abhängigkeit des pflegebedürftigen Menschen auch noch die Angst, in existentielle Gefährdungen gestoßen zu werden, und er unterlässt die Pflegekritik. Einen speziellen Kündigungsschutz, wie ihn beispielsweise Wohnungsmieter durch das Mieterschutzgesetz der Bundesrepublik Deutschland gegenüber den Haus- und Wohnungseigentümern haben, gibt es für den pflegebedürftigen Menschen nicht.

In der Tendenz wird so der wegen seines Alters zum pflege- und hilfebedürftigen Menschen gewordene souveräne Bürger im letzten Teil seines Lebens seiner Rechte auf Freiheit und Teilhabe an der Gesellschaft beraubt. Er fällt über weite Strecken in die vorbürgerliche Feudalgesellschaft zurück. Frei und gleich an Rechten wurde dieser Mensch geboren und bleibt es – trotz 1789 – am Ende nicht.

Helfen könnte ihm nur die Umwandlung des Entwurfes der Charta der Rechte der hilfe- und pflegebedürftigen Menschen in ein bindendes Gesetz.

Anhang


Editorische Anmerkung

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.