Loïc Wacquant: Bestrafen der Armen. Zur
neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit

Eine Rezension von Christian Girschner

7-8/10

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Mit dem Buch „Bestrafen der Armen“ vom französischen Soziologen L. Wacquant wird eine Lücke in der kritischen Diskussion über die Entstehung und Entwicklung der neoliberalen Sozial- und Strafpolitik in den USA geschlossen die in Europa vor allem von „sozialdemokratischen“ Regierungen in vielen Aspekten übernommen wurde.

Ich halte dieses Buch für eine sehr lesenswerte soziologische Veröffentlichung über die neoliberale Ideologie und Praxis in den USA. Dies vor allem aus zwei Gründen:

Der Autor legt mit großer Akribie eine umfassende empirische Darstellung der neoliberalen Sozialpolitik und Strafverfolgung in den USA vor. Eine Fülle von Einzelinformationen und Fallbeispielen, die hier jedoch nicht gebührend berücksichtigt, geschweige im Einzelnen angesprochen werden können, machen das Buch zu einer spannenden wie erschütternden Lektüre.

Des Weiteren zeigt es auf, dass die neoliberale Sozial- und Arbeitsmarktpolitik in den USA durch den gleichzeitigen massiven Ausbau des strafenden und überwachenden Staatsapparates begleitet und abgesichert wird, der sich explizit gegen die Bewohner der schwarzen Gettos richtet. Dieser rassistische Hintergrund wurde m.E. bislang in der bundesdeutschen Diskussion über die Entstehung und Durchsetzung der neoliberalen Sozial- und Arbeitsmarktpolitik wenig bis gar nicht beachtet und thematisiert. Aus diesem Grund werde ich hier nur auf diesen interessanten Aspekt dieser Studie eingehen, weil es die besondere Verquickung von Rassismus und neoliberaler Workfare-Ideologie und -Praxis offenlegt.

Eine zentrale These des Buches lautet: Das in den USA durch die neoliberale Streichorgie im sozialen Bereich eingesparte Geld wird stattdessen in eine ausufernde Strafverfolgung (re-)investiert. Diese Politik benötigt eine ideologische Rechtfertigung, die davon ausgeht, dass Kriminalität und Armut in der bürgerlichen Gesellschaft keine gesellschaftlichen Ursachen besitzen, sondern eine Frage des individuellen/biologischen Charakters der Betroffenen ist. Deshalb muss zum einen der Delinquent rechtzeitig und unmittelbar hart bestraft sowie anschließend (präventiv) überwacht werden. Zum anderen werden so Armut und Verelendung zu einem individuellen und kulturellen Problem des Einzelnen (Stichwort: Eigenverantwortung) umgelogen. Entsprechend wird inzwischen die Resozialisierung von Straftätern und staatliche Armutsbekämpfung in den USA als überflüssig und unnütz angesehen. Begleitet wird diese Entwicklung durch eine reißerische Berichterstattung über Verbrechen im Privatfernsehen. Dies erzeugt wiederum eine allgemeine Furcht in der Bevölkerung vor einer angeblich allgegenwärtigen und stetig wachsenden Kriminalität, die jedoch mit der tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung und -gefährdung nicht übereinstimmt. Es stellt aber die breite Zustimmung zur Law-and-Order-Politik sicher.  

Für Wacquant ist die sich in den achtziger Jahren der USA durchsetzende neoliberale Sozial- und Strafpolitik vor allem eine „Gegenreaktion“, die in den siebziger Jahren beginnt, auf die sozialen und anti-staatlichen Bewegungen der 60er Jahre, insbesondere auf die schwarze Bürgerrechtsbewegung. Die allseits bekannte Deregulierung des Arbeitsmarktes die die Vorherrschaft der Unternehmen gegenüber den Lohnabhängigen wieder uneingeschränkt herstellt, fällt für den französischen Soziologen unmittelbar mit der weißen Abwehr gegenüber der schwarzen Emanzipationsbewegung aus den städtischen Gettos zusammen.

Der zentrale Ausgangspunkt für diese weiße >Gegenreaktion< sieht der Verfasser in dem Versuch von Martin Luther King, die unzumutbaren Zustände in den schwarzen Gettos von Chicago 1966 durch soziale Mobilisierung und zivilen Ungehorsam anzuprangern und zu überwinden: „Die Kampagne, mit der man >Chicago zur offenen Stadt machen< wollte, wurde jedoch aufgrund einer eindrucksvollen Kombination aus staatlicher Repression (…), unkontrollierter weißer Gewalt, hasserfüllten Medienkampagnen (…), wütenden Widerstand von Stadtverwaltung, (…) und Gerichten, rasch niedergeschlagen; und zwar stets mit Wissen und Zustimmung von Kongress und Weißem Haus. Dieselben liberalen Weißen, die King gefeiert und unterstützt hatten, als er gegen die segregierte Infrastruktur des Südens Märsche angeführt und Sit-ins organisiert hatte, >verurteilten seine Taktik als unverantwortlich und provokativ<, als der daran ging, sie gegen das Ghetto zu wenden.“ Diese Ausdehnung der Aktionen der schwarzen Bürgerrechtsbewegung auf den Norden der USA bewirkte, „dass die weiße Unterstützung für afroamerikanische Forderungen innerhalb weniger Monate in sich zusammenfiel. Stattdessen kam es zu einer geharnischten Gegenreaktion, die im Laufe der nächsten beiden Jahrzehnte immer mehr zunahm und schließlich den Anstoß zur Kürzung der Wohlfahrtsleistungen, zum Exodus aus den Städten und zur aggressiven Expansion des Strafvollzugsapparats auf allen lokalen und staatlichen Ebenen gab.“ (213)

Die weiße Arbeiter- und Mittelschicht akzeptierte zwar formal die „Integration“ der Schwarzen, jedoch in der Praxis war sie bestrebt, „die unüberbrückbare soziale und symbolische Kluft zwischen ihnen und ihren Mitbürgern afrikanischer Abstammung aufrechtzuerhalten.“ (ebd.) Die Weißen flohen daher aus den Innenstädten und machten später „Front gegen den Wohlfahrtsstaat und gegen die sozialen Programme zur Innenstadtförderung, auf die die Schwarzen bei ihrem kollektiven Aufstieg am meisten angewiesen waren, und unterstützten nun mit Begeisterung die Law-and-Order-Politik, die die energische Unterdrückung der städtischen Unruhen versprach, welche gewissermaßen als eine ihrer Natur nach rassenspezifischen Bedrohung wahrgenommen wurden.“ (214) So wurden gegenüber den Schwarzen entsprechende rassistische Ressentiments und Verunglimpfungen mobilisiert und verbreitet, nämlich über ihre angeblich arbeitsscheue Mentalität, den leichtfertigen wie unmoralischen Lebenswandel und ihren angeblichen Hang zur Kriminalität, die bei der weißen Arbeiter- und Mittelschicht auf einen fruchtbaren Boden fielen, da diese schon immer einen stark verankerten moralischen Individualismus vertraten.

Für die schlechte soziale Lebenslage waren die Schwarzen von nun an selbst verantwortlich, nicht aber ihre gesellschaftlich betriebene Ausgrenzung und soziale Diskriminierung. Auf dieser Basis konnte nun die neoliberale Sozialpolitik in Gestalt des Workfare-Programms nahtlos anknüpfen.  Mit der neoliberalen Wende der US-Politik am Anfang der achtziger Jahre (Durchsetzung prekärer Lohnarbeit, Leiharbeit, Senkung des Lohnes für unqualifizierte Arbeit, Streichung von Sozialleistungen bzw. staatlicher Almosen) verschlechterte sich die wirtschaftliche und soziale Situation in den schwarzen Gettos weiter, um so vor allem die Schwarzen in die Niedriglohnjobs hineinzuprügeln. Diese Entwicklung wurde, wie Wacquant nachweist, zeitgleich durch die Propagierung und Durchsetzung der Law-and-Order-Politik abgesichert und legitimiert, die von Anfang an Schwarzsein und Kriminalität gleichsetzte. Damit verwandelten sich die schwarzen Gettos in ein „nacktes Ausgrenzungsinstrument“, die nun auch noch an das „Gefängnis- und Zuchthaussystem angebunden“ wurden: Und „zwar so fest dass ein einziges Verwahrkontinuum übrig geblieben ist, das zur Fußangel für eine überschüssige Population von jungen schwarzer Männern (und zunehmend auch Frauen) wird, die sich zwischen seinen beiden Polen in einem geschlossenen, sich selbst erhaltenden Kreislauf von sozialer und rechtlicher Marginalität bewegen, mit verheerenden persönlichen und sozialen Folgen.“ (216)

Der Abbau sozialstaatlicher Almosen und die gleichzeitige Durchsetzung des Workfare-Programms, um die Menschen entsprechend >umzuerziehen<, wurde pauschal und ohne Rücksicht auf die soziale Lage und Bedürfnisse der Betroffenen durchgesetzt, demgegenüber ging die amerikanische Politik in der Verschärfung des Strafrechts und der Strafverfolgung extrem selektiv vor: „Seine klassen- und ethnospezifische Selektivität wurde in erster Linie dadurch erreicht, dass man bestimmte geografische Zonen ins Visier nahm, die eine Garantie dafür boten, dass die sozialen Gruppen, aus denen sich ihre Bewohner zusammensetzten, die primären, wenn nicht einzigen >Nutznießer< des neu erwachten Eifers des Staates waren. Diese Selektivität wurde weiter verstärkt durch eine Vielzahl von neuen Polizeitaktiken und Sondermaßnahmen, die speziell für die zerfallenden Unterschichtendistrikte geplant und in ihnen angewendet wurden (…).“ (86; vgl. 142, 147, 166) Demgegenüber wurde die Kriminalität der besser gestellten Klassen weder schärfer verfolgt noch das Strafmaß für die entsprechenden Delikte erhöht, obwohl deren Verbrechen
in der Regel wesentlich größere gesellschaftliche Schäden verursachen (143). Vielmehr wurden die sozialpolitischen Wohltaten für die Privilegierten und Reichen durch den Staat weiter ausgebaut (63f., 310).

Auf dieser Grundlage ist es dann nicht verwunderlich, dass auch bei einer stagnierenden oder sogar rückläufigen Kriminalität in den USA – die ganz und gar nicht eine Folge der Law-and-Order-Politik ist, wie Wacquant klarlegt – die Strafgefangenen in den Gefängnissen kontinuierlich zunehmen (135): „Insgesamt nahm die Zahl der Amerikaner unter strafrechtlicher Überwachung innerhalb von 20 Jahren um mehr als viereinhalb Millionen zu: Sie stieg von 1,84 Millionen im Jahre 1980 auf 4,35 Millionen im Jahre 1990 und 6,47 Millionen im Jahre 2000, eine Zahl, die 3% der gesamten erwachsenen Bevölkerung der USA und jedem 20. weißen und jedem zehnten schwarzen männlichen Erwachsenen entspricht.“ (149) Hierbei sollte nicht vergessen werden, wie Wacquant hervorhebt, dass der „systematische Rückgriff auf Polizei und Justiz zur Eindämmung der alltäglichen Ordnungswidrigkeiten, Unruhen und dergleichen in den armen Wohnbezirken und Haushalten erklärt, warum die amerikanischen Gefängnisse heute überfüllt sind, und zwar nicht mit >Gewaltverbrechern<, wie die Befürworter einer massiven Wegsperrpolitik gebetsmühlenartig wiederholen, sondern mit nicht gewalttätigen Delinquenten und Kleinkriminellen, von denen die meisten, (…), aus den sozial schwächsten Fraktionen der Arbeiterklasse kommen.“ (147)

Für den Soziologen ist dies nichts anderes als die unheilvolle Wiederkehr einer historisch überwunden geglaubten Praxis der frühbürgerlichen Gesellschaft: Die Armut und ihre Folgen werden wie im 19. Jahrhundert unter Strafe gestellt, um die Armen und Überflüssigen zu disziplinieren, gefügig zumachen und wegzusperren. Damit soll den Betroffenen klar gemacht werden, dass auch die schlechteste und unerträglichste Arbeit gar nicht so schlimm ist (78ff.).

Den Bedürftigen will man im Workfare-Programm die ihnen angeblich fehlende Arbeitsmoral eintrichtern und erzwingen, um sie wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren, auch wenn es keine Arbeitsplätze für sie gibt, demgegenüber hat man den Gedanken an einer Resozialisierung der Strafgefangenen völlig aufgegeben, es geht nur noch um die Ausschaltung, Überwachung und das Wegsperren der angeblich nicht besserungsfähigen Kriminellen: „Das Gefängnis dient hauptsächlich der Verwahrung der prekären und entproletarisierten Fraktionen der schwarzen Arbeiterklasse in den dualisierten Städten, sei es, dass sie aufgrund von Qualifikationsdefiziten, arbeitgeberseitiger Diskriminierung und Immigrationskonkurrenz keine Beschäftigung finden, sei es, dass sie sich weigern, sich mit einer unwürdigen Substandard-Arbeit in den peripheren Sektoren der Dienstleistungswirtschaft abzufinden – mit dem, was die Ghettobewohner in einer bitteren historischen Reminiszenz >Sklavenjobs< nennen.“ (217f.) Für Wacquant gehören daher das schwarze Getto und Gefängnis in den USA unzertrennlich zusammen, um die Armen politisch und sozial zu neutralisieren: „Das Ghetto ist eine Art >Sozialgefängnis<, während das Gefängnis als >Justizghetto< fungiert. Beide sind damit betraut, eine stigmatisierte Gruppe so einzukreisen, dass die materielle und /oder symbolische Bedrohung neutralisiert wird, die sie für die Gesamtgesellschaft aus die ausgegliedert wurde, darstellt.“ (208)

Wacquant zertrümmert in seinem Buch die pseudowissenschaftlichen Grundlagen der Law-and-Order- und Workfare-Politik in den USA und die damit geschaffenen Mythen, die durch rechte Denkfabriken entwickelt und in der Politik und den Medien propagandistisch verbreitet wurden, und zeigt zudem auf, dass die >europäische Sozialdemokratie< gerade deswegen in die USA pilgerte und anschließend das dort besichtigte neoliberale Workfare- und Strafverfolgungsprogramm in modifizierter Form kopierte, um es dann in zahlreichen europäischen Staaten umzusetzen.
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Loïc Wacquant
Bestrafen der Armen.

Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit
2009, 359 Seiten, Verlag Barbara Budrich