Schattenwelt oder: Das postmoderne Verschwinden des Werts
Überlegungen zu einer Theorie der Unwirklichkeit

von Emmerich Nyikos

7-8/10

trend
onlinezeitung

1.

Bisweilen kann es auch vorkommen, dass (Meister-)Denker einen Ausdruck prägen, der malgré eux den Geist einer Epoche präzis auf den Punkt bringt. So geschehen mit dem mot d́’ordre, das die Gegenwart feiert und als Postmoderne firmiert. Man könnte dies auch die List der semiologischen Vernunft nennen, denn was diese Vorzeigedenker der Bourgeoisie auch immer im Sinn gehabt haben mögen, der Ausdruck Postmoderne markiert genau den gegenwärtigen Status der bürgerlichen Welt: post, weil nicht ante, nicht mehr dies, aber auch noch nicht das, also ein Schwebezustand, ein Zustand der Unwirklichkeit. Die Zeit der bürgerlichen Gesellschaft ist schon abgelaufen, allein, es lassen sich keine Totengräber mehr finden oder genauer: der Pfahl, der der post-mortalen Existenz des Untoten, des Zombies, der post-modernen Gesellschaft, ein Ende setzen würde, ist noch nicht gefunden.


         Streifzüge Nr. 49 / 1.7.2010

2.

Hegel sagt irgendwo, dass der Begriff der Wirklichkeit den Begriff der Notwendigkeit impliziert. Was wirklich ist, das ist notwendig, sonst ist es unwirklich, auch wenn es nach wie vor existiert, so wie das ancien régime vor der Revolution, das nur mehr als Schatten seiner selbst dahinvegetierte. Notwendig in einem präzisen Sinne: es muss so, es kann nicht anders sein, selbst wenn man sich auf den Kopf stellen würde. In diesem Sinne war die Klassengesellschaft eine historische Notwendigkeit, denn jeder Versuch, sie zu beseitigen, hätte unweigerlich auf der Basis der gegebenen Produktivkraftniveaus dazu geführt, dass der Streit um das Notwendige und damit, wie Marx und Engels es salopp formulierten, die ganze alte Scheiße ein Da capo erlebt haben würde (Die deutsche Ideologie, in: MEW 3, S. 34f.). Das ist heute, angesichts der ungeheuren Produktionskapazitäten, die uns das Kapitalsystem beschert hat, offenbar nicht mehr der Fall.

3.

Unwirklich ist, was nicht mehr notwendig ist: also das, was seine Substanz, seine raison d’être, eingebüßt hat. Was aber ist die Substanz der bürgerlichen Gesellschaft? Das Kapital. Und was ist die Substanz des Kapitals? Der Wert, denn das Kapital ist nach Marx nichts als der sich selbst verwertende Wert Und was ist dann dieser ominöse Wert? Offenbar die Tauschfähigkeit der Produkte in einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft, in welcher privat produziert wird und daher getauscht werden muss, also in einer Warengesellschaft. Diese Tauschfähigkeit fällt aber mitnichten vom Himmel: Die Waren sind vielmehr tauschfähig, weil sie an der gesamtgesellschaftlichen Arbeitszeit partizipieren, also schon in statu nascendi infolge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, der separation of crafts, in bestimmten gesellschaftlichen Relationen zueinander stehen, so dass sie dann als Produkte im Austausch zwanglos allseitige Beziehungen gesellschaftliche Tauschbeziehungen, die sich lediglich formal als private Transaktionen erweisen eingehen können: nämlich ringsum die Stellen zu wechseln. Der Wert der Waren ist demnach die gesellschaftliche Dimension privat produzierter Produkte.

Man täusche sich nicht: Der Wert ist eine rein gesellschaftliche Qualität dieser Produkte, auch wenn er als solcher in den Waren tatsächlich verkörpert, inkorporiert ist, die Waren mithin Werte sind und nicht nur als solche erscheinen. So ist der König ein König, ist die Königsfunktion in ihm durchaus verkörpert auch wenn sein Königsein ganz von der bestimmten Form der Gesellschaft abhängig ist, in der er König sein darf, nämlich davon, dass man im Kontext der Monarchie als einer Institution sich zu ihm als einem König verhält.

4.

Das Kapitalsystem ist nicht statisch, es durchläuft wie jedes Gesellschaftssystem eine seiner spezifischen Logik, seinem modus operandi gemäße Trajektorie. So folgt auf die Vorphase der embryonalen Warenproduktion (historisch, wenngleich noch nicht logisch) das primitive Kapitalsystem, in welchem die organische Zusammensetzung der Kapitale annähernd uniform und die intersektorale Konkurrenz noch wenig akzentuiert ist. Das primitive Kapitalsystem wiederum wird abgelöst (und dieses Mal schon mit Notwendigkeit aufgrund seiner inneren Logik) von dem klassischen System des Kapitals mit intersektoraler Konkurrenz, Ausgleich der Profitraten und Bildung von Produktionspreisen, so wie es Marx gekannt und analysiert hat, nur um sogleich wieder dem Monopolsystem Platz zu machen, einer Systemphase, die, wie im Übrigen von Marx selbst scharfsinnig vorausgesagt wurde, infolge von Konzentration und Zentralisation des Kapitals unweigerlich aus der klassischen Konkurrenz, dem bellum omnium contra omnes, hervorwächst.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Ablöse der Vorphase, der Start in eine neue Gesellschaftsformation, hat, da es sich hier um einen historischen Wendepunkt handelt, noch nichts Zwangsläufiges an sich. Denn es wäre durchaus denkbar gewesen, dass, hätte England im Anschluss an die Glorious Revolution von 1688 nicht die Suprematie im Welthandel errungen (woraus sich der äußere Kontext für die Mechanisierung der Produktion, nämlich die Potenzierung der Nachfrage nach Textilprodukten, ergab), ein Prozess der „Refeudalisierung“ der (Proto-)Bourgeoisie hätte stattfinden können. Solche Tendenzen der Rückzug auf das Land als Grundeigentümer und der Erwerb von Adelspatenten waren im Übrigen schon zuvor etwa in Italien, England und Frankreich unmittelbar vor dem Zeitalter der überseeischen Expansion gehäuft aufgetreten.

5.

Das Kapitalsystem ist aber nicht nur nicht statisch, sondern auch revolutionär, in dem präzisen Sinne, dass es die Produktivkräfte schon von seinem Anbeginn an beständig umwälzt und das Produktivkraftniveau so von Mal zu Mal auf eine jeweils höhere Stufe der Vervollkommnung hebt. Im Monopolsystem mit seinen gigantischen Kapitalkomplexen wird nun aber erst die Grundlage dafür geschaffen, dass die Wissenschaft nicht nur der Produktion dient, in diese einverleibt wird, sondern die avanciertesten Resultate des wissenschaftlichen Denkens auch praktisch realisiert werden können. Denn erst die großen und verbürgten Monopolprofite erlauben die Inkorporierung der Forschung (die ja unmittelbar keinen Profit abwirft) in die Kapitalgesellschaften selbst (direkt oder indirekt über die Kooperation mit externen Forschungszentren). Und andererseits sind große Kapitalmassen überhaupt die Voraussetzung für den Einsatz von Großtechnologien, die auf den Ergebnissen der Computer- und Roboterforschung beruhen. Das Monopolsystem markiert so die Phase der Automatisierung der Produktion auf der Basis der Computertechnologie und der Robotertechnik.

6.

Automatisierung aber bedeutet: Auslagerung des Stoffwechsels mit der Natur aus der Gesellschaft in automatisierte Apparaturen, Eliminierung der lebendigen Arbeit, um an ihre Stelle tote, geronnene Arbeit zu setzen. Wohlgemerkt: Die Automatisierung der Produktion könnte in der Tat durchgängig sein, was schon früh von John von Neumann nachgewiesen wurde, indem er zeigte, dass Automaten in der Lage sind, sich selbst zu reproduzieren. Roboter, die Roboter bauen, gibt es im Übrigen schon seit geraumer Zeit. Das soll natürlich nicht heißen, dass in absehbarer Zukunft alle Produktionsarbeiter tatsächlich freigesetzt würden. Wir sprechen hier nur von bestimmenden Tendenzen.

Wird der Prozess der Automatisierung nun aber bis an sein (hypothetisches) Ende geführt, dann verschwindet der Wert der Waren, denn dieser ist, wie wir sahen, nichts als deren gesellschaftliche Dimension. Wo nämlich Apparate die Produktion übernehmen, da arbeitet offenbar die Gesellschaft nicht mehr, und wo nicht mehr gearbeitet wird, da verliert sich der Wert als Reflex der gesellschaftlichen Gesamtarbeitszeit in den Waren, ein Gedanke, der von Marx schon in den Grundrissen genialerweise antizipiert worden ist. Es kann im Übrigen mathematisch exakt nachgewiesen werden, dass, wenn die lebendige, aktuelle Arbeit gleich Null ist, die gesellschaftlich notwendige Arbeit insgesamt Null wird, so dass der Wert der Waren, dessen Substanz die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist, tatsächlich eliminiert wird, auch wenn sich in diesen Waren konkrete Arbeit als tote, vergangene Arbeit nach wie vor dargestellt findet.

Diese Eliminierung des Werts gilt insbesondere für den gesamten Bereich des Stoffwechsels mit der Natur oder der Produktion im engeren Sinn. Denn selbst wenn in anderen Bereichen (Pflegedienst, Schulwesen, Sport usw.) nach wie vor lebendige Arbeit eingesetzt würde (und diese Sphären durchgehend kapitalistisch organisiert wären, nämlich als Pflegedienstfirmen, Privatschulen, Fußballclubs à la Manchester United usw.), selbst in diesem Fall würde der Wert bei Vollautomatisierung der unmittelbaren Produktion aus diesem Bereich vollständig verschwinden, da wir es bei den betreffenden Dienstleistungswaren (Pflege, bearbeitete Kinderköpfe, Champions-League-Partien) mit Nichtbasiswaren im Sinne von Sraffa zu tun haben würden, die ja bekanntermaßen nicht in die Produktion aller anderen Waren eingehen.

7.

Verschwindet damit aber auch automatisch die bürgerliche Gesellschaft, das System des Kapitals? Offenbar nicht. Es bleibt vielmehr als Fassade, als Zombie, als untoter Toter auf der Basis des Privateigentums an den Produktionsgegenständen zurück. Alle äußeren Formen des Kapitalsystems, die da sind: Geld, Preis, Profit, Zins usw. entschwinden nicht automatisch, denn wenn die gesellschaftliche Tauschfähigkeit der Produkte verschwindet, so heißt das noch lange nicht, dass nicht doch noch (im Rahmen des Monopols) getauscht werden könnte, wenn auch als sinnlose, weil nicht mehr notwendige, nicht mehr vernünftige Praxis. Genau in diesem Sinne tritt das System in eine Phase der Unwirklichkeit ein, und genau in diesem Sinne ist es als post-modern treffend beschrieben.

8.

Dem ist leider so, und das sollte realistischerweise auch anerkannt werden: Die finale Krise wird es nicht geben, auch wenn die Krise als periodisches Stottern im Getriebe des Systems die bürgerliche Gesellschaft immer und immer wieder heimsuchen wird, ganz abgesehen von den anderen Kalamitäten und ganz abgesehen davon, dass das Kapital in seiner Gier und aufgrund seines Wachstumsdiktats ökologische Desaster gebiert. Das hat aber nichts zu bedeuten: Das Kapitalsystem kennt, wie wir wissen, den horror miseriae nicht.

Wie aber, so könnte man fragen, sollte denn dieses System mit dem Umstand fertig werden, dass, wenn in der Perspektive die gesamte Produktion in automatisierte Apparate ausgelagert sein wird, die Lohnarbeit in der Produktion, und damit die Basis des Massenkonsums, der Lohn, aus der Gesellschaft verschwindet?

Offenbar hilft es hier nichts, in den Dienstleistungen als deus ex machina Zuflucht zu suchen. Hier kann man genauso gut automatisieren wie sonst überall auch, obgleich es in diesem Bereich durchaus noch Spielräume gibt, etwa im Wachdienst für die Bourgeoisie, wie dies Eric J. Hobsbawm halb ernst, halb ironisch vorausgesagt hat (Globalisation, Democracy and Terrorism, Abacus (2007), S. 141).

Freilich, es spielt für den globalen Absatz überhaupt keine Rolle, ob man für zehntausend Haushalte Wohnungen baut oder für einen Krösus einen Palast. In beiden Fällen werden Waren glücklich absorbiert. Wer sie aber absorbiert, das ist für das Kapitalsystem prima facie ganz unerheblich. Hinzu kommt dann noch, dass das Heer der co-partners des Kapitals, derjenigen, die am Profit mitprofitieren, der Rattenschwanz an Beratern, Rechtsanwälten, Spin-Doktoren und die ganze Schicht derer, die kreative Berufe ausüben dürfen: Werbetexter, Sänger, Akademiker, Fernsehkomiker und Performance-Künstler unentwegt wächst, und last but not least wird der Staat nach wie vor entweder indirekt (über Staatsbeamtengehälter oder Transferzahlungen) oder direkt als Konsument (von Schreibutensilien, Raketen und Bombern) seine Rolle als sicherer Abnehmer spielen. Denkbar ist aber auch, dass das System in einem Anfall von Verzweiflung auf den bekannten Einfall eines Grundeinkommens zurückgreifen wird, um so die freigesetzten Proletarier in alt-römische proletarii (im eigentlichen Wortsinn) zurückzuverwandeln, denen man panem (das Grundeinkommen) gratis zukommen lässt und die man dann mit den circenses (dem Fernsehen und den anderen Spielen) glücklich abspeisen wird.

9.

Eine Endkrise im Sinne eines Finalspiels oder des Jüngsten Gerichts wird es nicht geben. Wohl aber einen permanenten Zustand weit weg vom Gleichgewicht des Systems, das heißt, eine Instabilität, die, als Dauerzustand, uns wohl nichts Gutes verheißt. Oder anders formuliert: Das System überlebt, während es nicht mehr als solches funktioniert, während es vielmehr so tut, als ob es noch als Kapitalsystem funktionierte. Das aber kann endlos dahingehen, sofern dem Treiben kein Ende gesetzt wird.

Überhaupt ist es so, dass jedes Gesellschaftssystem eine ihm spezifische Trajektorie im historischen Phasenraum durchläuft, die mitunter bis zu dem Punkt führt, wo es sich weit weg von seiner Gleichgewichtslage befindet. Sobald es nun aber gemäß seiner inneren Logik dort angelangt ist, hört die Gesetzmäßigkeit auf und der Ausgang wird offen. Es gibt dann drei Eventualitäten seiner weiteren Performance: entweder das System verharrt dort für eine längere Zeit oder es fällt auf den Status quo ante zurück, oder aber eine zufällige Konstellation von Faktoren treibt es über sich selbst weit hinaus, was nichts anderes besagt, als dass es in ein anderes Gesellschaftssystem transformiert wird. Hier spielt der Zufall dann in der Tat eine wesentliche Rolle.

Nun, aufgrund des erreichten Produktivkraftniveaus ist ein Rückfall der bürgerlichen Gesellschaft auf eine frühere Stufe der historischen Trajektorie wenig wahrscheinlich. Bleibt nur, dass es, wie zu befürchten, in der Phase seiner Unwirklichkeit (mit barbarischen Auswüchsen und zunehmender ökologischer Tristesse) verharrt oder aber, und das ist nicht auszuschließen, der Zufall will es, dass das System sich nicht nur entwirklicht, sondern auch tatsächlich ins Museum der Altertümer versetzt wird: dass die Potenzen, die es über Jahrhunderte hinweg generiert hat, in einer freien Assoziation freigesetzt werden. Der Zufall aber kann hier nur die bewusste Praxis auf der Basis der Einsicht in den Gesamtzusammenhang sein. Zufällig ist diese Einsicht jedoch (in einem historischen Sinn), weil sie hergestellt werden muss, und sich nicht (mehr) automatisch aus den Verhältnissen ergibt, wenn dies überhaupt jemals der Fall war (und nicht nur in dem Sinn, dass die Kooperation in der Großen Fabrik die praktische Basis des Klassenbewusstseins dargestellt hatte). Zufällig, jedoch nicht beliebig: Denn das Denken steht hier offenbar ganz im Einklang mit den realen Tendenzen des bürgerlichen Systems.

10.

Nach wie vor sucht die Intelligenz, die sich mit der Herrschaft der sachlichen Mächte nicht abfinden kann, verzweifelt nach einem Subjekt der Geschichte. Bisweilen glaubt man sogar, es in der multitudo oder in einem Patchwork der Minderheiten gefunden zu haben. Das freilich sind reine Kindereien, Ausdruck purer Ratlosigkeit.

Was aber, wenn sie selbst dieses Subjekt ist? Wenn es in ihrer Hand liegt, den Anstoß zu einer radikalen Verwandlung der Gesellschaft zu geben? Und warum eigentlich nicht? Warum sollte es nicht die Kritik sein, die diesen Part übernimmt? Wo es in letzter Instanz um die bewusste Kontrolle, die Planung der gesellschaftlichen Belange zu tun ist, da ist das Denken, die Bewusstheit, die Kritik die Voraussetzung überhaupt von allem anderen auch.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Wenn ich in diesem Zusammenhang mangels eines besseren Ausdrucks den Terminus „Intelligenz“ verwende, ist damit natürlich nicht eine Berufsgruppe, eine Schicht oder gar eine Klasse im soziologischen Sinne gemeint, sondern lediglich diejenigen, die dem kapitalistischen Treiben kritisch gegenüberstehen (im Hinblick worauf Intelligenz offensichtlich nicht schadet).

Im Übrigen ist es in der Geschichte nie die surplusproduzierende, also unterdrückte Klasse gewesen, die als Demiurg einer neuen Gesellschaft gewirkt hat. Die Bourgeoisie als Subjekt der bürgerlichen Transformation des feudalen Systems (wenn auch nicht als eigentliches Subjekt der bürgerlichen Revolutionen) war nie eine surplusproduzierende Klasse gewesen, als Proto-Bourgeoisie, also als Klasse von Händlern, hat sie vielmehr das Surplus anderer über den profit upon alienation, Kauf und Verkauf, annektiert. Die einzige Klasse, die surplusproduzierend war und tatsächlich aufgrund ihrer Lebenslage der Großen Fabrik als Subjekt einer Umwälzung hätte auftreten können, die Arbeiterklasse, hat den richtigen Zeitpunkt dafür leider verpasst oder man wusste ihr das Erstgeburtsrecht mit einem Linsengericht abzukaufen. Jetzt, wo sie sich auflöst, ist es für Reue freilich zu spät.

11.

Das ist kein Handicap. In der Tat, derselbe Umstand, dessen Ausdruck das Verschwinden der working class ist (oder ihre Verwandlung in eine unverkäufliche Reservearmee), die Produktivkraftforcierung, ist zugleich die absolute Voraussetzung einer freien Assoziation.

Einerseits nämlich wird der Streit um das Notwendige mit dem enormen Produktionsapparat ein für allemal gegenstandslos, was offenbar nicht impliziert, dass dabei über alle Grenzen hinaus produziert werden müsste. Denn in einer freien Gesellschaft wird höchstwahrscheinlich der Konsum in seiner Form als Kompensation für Frustrationen, die sich aus der Natur der bürgerlichen Gesellschaft ergeben, von alleine verschwinden, ganz zu schweigen davon, dass sinnlose, weil nur der bestimmten Form der bürgerlichen Gesellschaft entspringende Betätigungen wie Kommerz und Reklame, Überwachung, Rüstung oder auch solche, die sich der geplanten Obsoleszenz oder den Modetrends schulden, mit dem entsprechenden Ressourcenverbrauch und den entsprechenden Schadstoffemissionen ersatzlos gestrichen werden könnten. Das heißt, es ist ein Überfluss an Notwendigem denkbar – also an dem, was für die volle Entfaltung einer freien und bewussten Persönlichkeit notwendig ist –, der sich mit ökologischen Erfordernissen dann durchaus verträgt. Und auf der anderen Seite bedeutet die Eliminierung der lebendigen Arbeit, dass man sich in Hinkunft nur mehr mit der Verwaltung von Sachen wird herumschlagen müssen. Dies alles zusammen würde es so der Gesellschaft erlauben, auf Repression sowohl im Hinblick auf die Verteilung wie auch im Hinblick auf die Herstellung von Arbeitsdisziplin zu verzichten, damit aber auch auf Repression überhaupt.

Sollte sich daher die Einsicht in den Gesamtzusammenhang in der Gesellschaft etablieren, dann wäre im Grunde schon ein großer (wenn auch zweifellos nicht der endgültige) Schritt hinaus aus dem Reich der Schatten, aus der Unwirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft getan. Denn wie heißt es bei Marx? – Mit der Einsicht in den Zusammenhang stürzt, vor dem praktischen Zusammensturz, aller theoretische Glauben in die permanente Notwendigkeit der bestehenden Zustände. (Brief an Ludwig Kugelmann vom 11. Juli 1868, in: MEW 32, S. 552) Und ohne den Glauben kann man auch das Versetzen von Bergen nicht so einfach verhindern.

Die Durchsetzung dieser Einsicht indessen wäre die ureigenste Funktion der Intelligenz – und nicht die „Anleitung“ der Akteure oder die Ausgabe strategischer Parolen, wie das so oft der Usus ist. Dies aber erfordert die organisierte Kritik jenseits der Sektenbildung, die Kooperation und Verständigung all derer, die nicht geneigt sind, das Gegebene als das Nonplusultra hinzunehmen. Wollte man im Übrigen ein historisches Vorbild für dieses Vorhaben suchen, so könnte man es zwanglos im Diderotschen Enzyklopädieprojekt finden. Voltaire, d’Holbach oder Turgot könnten unterschiedlicher nicht sein; das hinderte sie freilich nicht, gegen den gemeinsamen Feind zusammenzuwirken. Und genau dies sollten wir auch tun.

Soeben erschienen:

Emmerich Nyikos, Das Kapital als Prozeß. Zur geschichtlichen Tendenz des Kapitalsystems, Peter Lang (2010)

 

Editorische Anmerkung

Die Redaktion Streifzüge bat uns um Spiegelung. Erstveröffentlicht wurde der Artikel in der
Streifzüge Nr. 49 / 1.7.2010