Der Hamburger Volksentscheid zur Bildungsreform
Gegen die Scheuerl-Initiative, na klar! Aber Bauchgrimmen beim JA zur Vorlage der Bürgerschaft!


von Dieter Wegner

7-8/10

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Egal wie die Abstimmung zum Volksentscheid am Sonntag, 18.7.2010 in Hamburg ausgeht, die Gesamtschulen gehen auf in der Stadtteilschule und das Ergebnis wird für zehn Jahre festgeschrieben! An der Gesamtschule bei mir um die Ecke, der Rudolf Roß Gesamtschule, sehe ich schon ein Schild: Stadtteilschule.

Was Positives bei der Zustimmung zur Vorlage der Bürgerschaft ist zweifelsohne der pädagogische Fortschritt, daß die Primarschule von vier auf sechs Jahre verlängert wird!

Es gibt noch einen zweiten Grund, für die Vorlage der Bürgerschaft zu stimmen und das ist ein sehr politischer: Die Signalwirkung, die vom Volksentscheid in Hamburg ausgeht. Gelingt es der Scheuerl-Initiative „Wir wollen lernen“, die von FDP und NPD unterstützt wird, mit ihren „Elite-“ und Abgrenzungsvorstellungen durchzukommen? Linke Pädagogen sehen darin wegen der bundespolitischen Folgen einen großen Rückschritt.

Die WählerInnen haben die Wahl zwischen der „Vorlage der Volksinitiative Wir wollen lernen!“ und der „Vorlage der Bürgerschaft“. Die erstere wird auch Scheuerl-Inititative genannt, dahinter stehen FDP und NPD (beide nicht in der Bürgerschaft) hinter der zweiten Alternative stehen alle Parteien der Bürgerschaft: CDU, GAL, SPD, Linkspartei, aber auch die Gewerkschaften. Auf den ersten Anschein wäre die Abstimmung also ein Selbstgänger – aber nach den Umfragewerten liegt die Scheuerl-Initiative vorn!

Ursache der Bildungsdebatte sind die PISA-Studien und darin nochmal das schlechte Abschneiden von Hamburg. Die Auffassung der meisten Pädagogik-Forscher ist, daß eine Selektion der Kinder schon nach vier Jahren sich für Kinder aus Unterschichten oder von Eltern mit Migrationshintergrund nachteilig auswirkt. In der nach PISA entstandenen Diskussion ging es darum, die Jugend in Deutschland fit zu machen im globalen Konkurrenzkampf. Wobei die Scheuerls in Deutschland nur die deutsche Jugend aus der Oberschicht im Auge haben.

Dem Volksentscheid am Sonntag vorausgegangen war vor drei Jahren der Versuch der Hamburger GEW, durch eine Unterschriftensammlung einen Volksentscheid für eine fortschrittliche Schulreform („Eine Schule für alle“) zu erreichen. Es kamen nur 58 000 von benötigten 62 000 Stimmen zusammen. Die Scheuerl-Initiative, mit großen Geldmitteln ausgestattet, bekam dagegen in kurzer Zeit 180 000 Stimmen! Walter Scheuerl ist ein Hamburger Anwalt aus Blankenese, der der FDP angehört. Seine Kinder gehen ins dortige Hochrad-Gymnasium bzw. auf ein Elite-Internat nach England.

Nicht nur für Auswärtige, auch für Hamburger ist es schwer, die Plakate den entsprechenden Kontrahenten zuzuordnen:

„Für eine bessere Schule“
„Wir machen Hamburgs Schulen besser“
„Die Schulverbesserer“
„Beste Bildung für unsere Kinder“
„Geben wir unseren Kindern mehr mit auf den Weg als Liebe. Zum Beispiel Chancen“
„Wir wollen lernen“.

Letzteres ist das Plakat der Scheuerl-initiative. Ab und zu sehe ich dieses Plakat verziert durch einen Filzstift-Zusatz: „Wir wollen lernen – aber ohne Arbeiterkinder“.

Dieser Zusatz bringt es auf den Punkt! Ein Scheuerl-Anhänger sagte es im Fernsehen ganz unverblümt: „Ein Arbeiterkind kann vom Kind eines Vorstandsvorsitzenden profitieren, aber nicht umgekehrt, und das ist nicht zu verantworten!“.

Aber nicht die verwirrenden Parolen auf den massenhaft angebrachten Plakaten sind die Ursache dafür, daß die Scheuerl-Initiative in Umfragen vorn liegt, sondern die Verwirrung in den Köpfen der Angehörigen der Unter- und Mittelschicht und die Klarheit auf Seiten der Bourgeoisie.

Die Angehörigen der herrschenden Klasse haben nicht nur ein klares und ausgeprägtes Klassenbewußtstein bei ihrer Praxis im Ausbeutungsprozeß der ArbeitnehmerInnen, sie haben auch einen untrüglichen Instinkt, was ihren Nachwuchs betrifft.

Während in den 70er Jahren noch die Bildungsreform unter Willy Brandt angesichts gefüllter Fleischtöpfe und des Bedarfs an gut ausgebildetem Nachwuchs zugelassen wurde, schrillen heute schon die Alarmglocken, wo es nur um die Verlängerung der Primarschulzeit auf sechs Jahre, und damit die Verkürzung der Gymnasialzeit um zwei Jahre geht!

Warum unterstützt die CDU mit ihrem in der Stadt immer noch sehr beliebten Bürgermeister Ole von Beust nun nicht die Scheuerl-Initiative? Der Grund ist die schwarz-grüne Koalition von CDU und Grünen (in Hamburg GAL). Die GAL hatte in der Koalition schon ihren Widerstand gegen die Elbvertiefung und den Bau von Kohlekraftwerken begraben müssen, es war nur die Bildungs“reform“ mit der sechsjährigen Primarschule geblieben. Gefordert hatte die GAL ursprünglich sogar eine neunjährige gemeinsame Schulzeit, war dann des Koalitionsfriedens halber auf sechs Jahre Primarschulzeit zurückgegangen. Außerdem wird gesagt, daß Ole von Beust persönlich vom Sinn der sechsjährigen Primarschule überzeugt ist – die Mehrzahl der CDU-Anhänger jedoch nicht.

Die Anhänger der Scheuerl-initiative geben sich den Anschein, objektiv zu argumentieren, daß es bei dieser Abstimmung um das Leistungsprinzip gehe. Und das eben werde gefährdet bei der Verkürzung der Gymnasialzeit. In Wirklichkeit formieren sich die Herkunftseliten.

In den Umfragen liegt die Scheuerl-Initiative vorn. Das heißt, dass nicht nur Eltern aus Blankenese und vom Alsterufer für die Vorlage der „Volks“-Initiative „Wir wollen lernen“ gestimmt haben/stimmen werden sondern auch viele Normal- und Kleinverdiener. Woher kommt das?

Und woher kommt unser großes Unbehagen, nachdem wir für die Vorlage der Bürgerschaft gestimmt haben?

Ist es nur das Gefühl, für das kleinere Übel gestimmt zu haben? (Die Mehrzahl der Wahlberechtigten hat ihre Stimme in den letzten Wochen schon per Briefwahl abgegeben). Ist es nur die unangenehme Zwangsgemeinschaft mit Senat, CDU, GAL, SPD?

Oder rührt unser Unbehagen nicht vor allem von der Erkenntnis her, daß die große Masse der Bevölkerung die eigenen Interessen und die ihrer Kinder nicht erkennen können? Die Bourgeoisie aber sehr wohl!!

Angesichts dieser deprimierenden Situation wird man erinnert an die Weimarer Republik, als es Reformschulen gab - die den Namen Reform verdienten- und kommunistische und sozialistische Pädagogen: Erwin Hörnle, Otto Rühle, Siegfried Bernfeld, Otto Kanitz. Das waren keine Personen, die sich eine fortschrittliche Pädagogik nur ausgedacht hatten, sondern sie fußten mit ihrer Theorie und ihrer Praxis auf dem Klassenbewußtsein großer Teile der arbeitenden Schichten. Einem Bewußtsein für das eigene kollektive Interesse – und eben auch für eine kollektiv fortschrittliche Pädagogik für ihre Kinder.

Die Diskussion um eine fortschrittliche Pädagogik flammte auch nach „1968“ nochmal auf, wenn auch mit wenig Beteiligung von Arbeitereltern. Ergebnis damals war die Einführung von Gesamtschulen – deren Beerdigung wir jetzt in Hamburg erleben.

Auch heute wollen die Eltern aus den Unter- und Mittelschichten natürlich das beste für ihre Kinder. Ihre Sichtweise ist aber eine rein individualistische – sie machen es den Oberschichten nach und möchten ihre Kinder aufs Gymnasium schicken. Auch sie wollen sich von den Verlierern in der Gesellschaft absetzen, den Schichten unter ihnen, auch von den Familien mit Migrationshintergrund. Daher die wahrscheinliche Mehrheit am Sonntag für die Scheuerl-Initiative.

Nur in einem Prozeß von energischem und andauerndem Widerstand bei den Unter- und Mittelschichten gegen das ihnen von Kapital und Regierung zugedachte Schicksal des Lohn- und Sozialabbaus wird kollektives Denken entstehen. Erst das wird zu kollektivem Handeln für die eigenen Interessen und die ihrer Kinder führen.

Heute stehen wir vor der Entscheidung, für eine Vorlage von Senat und CDU stimmen zu müssen. Ist das nicht schrecklich?

Aber vielleicht hat die durch den Volksentscheid entstandene Diskussion was Gutes. Daß Unter- und Mittelschichteltern über die Frage hinausgehen: „In welche Schule schicken wir unsere Kinder“ und anfangen, sich Gedanken zu machen, welches die beste pädagogische Lösung für alle Kinder ist. Das schlösse ein, sich nicht nur Gedanken über die Schule zu machen sondern über eine Gesellschaft, „in der die freie Entfaltung eines jeden die Bedingung für die freie Entfaltung aller ist“.

Ergänzung nach dem Volksentscheid.

Nach ersten Prognosen hat die Scheuerl-Initiative gewonnen. Es haben sich nur 39 Prozent der Wahlberechtigten beteiligt. Es wird zu untersuchen sein, in welchen Stadtteilen wie gewählt wurde.

Nachsatz:

Vorgestern ist die Hamburger Bischöfin, Jepsen zurückgetreten, heute von Beust. Fast keine Woche ist in den letzten Monaten vergangen, daß ein Kirchenfürst oder Spitzenpolitiker in Deutschland zurückgetreten ist. Aber noch kein Spitzenmanager. Nicht mal der BP-Präsident, verantwortlich für das Auslaufen von täglich 6 000 000 l Öl in den Golf von Mexico zieht die Konsequenz des Rücktritts. Aber das würde auch nichts ändern – es würde nur ein anderer BP-Präsident folgen. Wie auch auf einen Mixa der nächste Mixa und auf einen Beust der nächste Beust folgt. Solange die Opfer von Kirche, Politik und Kapital nicht zu Akteuren werden, ist es wirklich fast egal, wer gerade geht und wer kommt. Aber ein durch Massenproteste erzwungener Rücktritt wäre Gold wert, ein echter Grund zum Freuen.

Editorische Anmerkung

Den Artikel bekamen wir vom Autor für diese Ausgabe. Dieter Wegner engagiert sich in der Gruppe
Jour Fixe Gewerkschaftslinke Hamburg