Heute ist Adlertag
Vor 70 Jahren begann der faschistische Bombenterror gegen Großbritannien

Von Antonín Dick

7-8/10

trend
onlinezeitung

Heute vor 70 Jahren flog die faschistische Luftwaffe die erste große Angriffswelle gegen England. Der 13. August steht als »Adlertag« in Geschichtsbüchern (und als »Anti-Adler-Tag« wegen des Baus der Berliner Mauer am 13. August 1961). Am 24. August 1940 begannen die Bombenangriffe auf die Londoner Bevölkerung, die Jahre dauern und 43000 Opfer fordern sollten. Zu diesem Zeitpunkt war noch keine englische Bombe auf Berlin gefallen. Hitlers Entscheidung zur Invasion in Großbritannien erfolgte am 16. Juli 1940 mit »Weisung Nr. 16«.

Vorbereitet duch Militärschläge aus der Luft, sollten am 21. September 1940 die britischen Inseln besetzt sein. Als sich die Eliten des Dritten Reiches militärische Fehlkalkulationen eingestehen mußten, entschlossen sie sich, die britische Bevölkerung mit einem »totalen Luftkrieg« in Furcht und Schrecken zu versetzen. Luftwaffenchef Göring versicherte am 14. September 1940 öffentlich, daß England in zwei Wochen »kapitulationsreif gebombt« sei. Ein Mittel des Krieges in seinen Zweck zu verwandeln, entsprach der Ideologie der Nazis.

Meine Mutter Dora Dick erlebte die Angriffe als antifaschistische Emigrantin im Londoner Bezirk Hampstead. Hier hatten viele »Anti-Nazi-Refugees« Zuflucht gefunden. Hampstead gehörte zu den Arbeitervierteln im Osten und Norden der Stadt, die am heftigsten bombardiert wurden. Meine Mutter: »Das Emigrantenheim blieb unversehrt, und da sind wir auch zuerst hineingeflüchtet. Die Kinder schrien wie verrückt, drückten den ganzen Wahnsinn aus, der uns umgab. Wochenlang gingen die Bombenangriffe. Und wir durften uns nicht im Freien sehen lassen, die Nazis haben nur darauf gewartet. Wir wurden von der Druckwelle auf die Bäume geschleudert, sind unter Bänke gekrochen, die vor dem Heim standen, oder in den erstbesten Keller geflüchtet. Obendrein mußten wir aufpassen, daß sich keine Nazis unter uns mischten, deutsche Spitzel, die unsere Unterschlupfe ausfindig machen sollten.«

Die Angst vor »The Blitz« ging um. Die Londoner stellten sich auf ein Leben in Bunkern ein. In Hampstead Heath, dem armen Teil des Viertels, gab es kaum Bunker. Die Emigranten gruben sich selber welche. Unter den niedrigen Kellern alter Häuser oder im Freien. »Da unten sind wir dann zusammengerückt, deutsche Emigranten und Engländer«, berichtet meine Mutter. »Hast eine Decke um den Körper gewickelt und bist da eingeschlafen. Und mitten im Schlaf hast du einen Hieb gekriegt, hat dich jemand geweckt, weil es weiterging, du konntest da nicht bleiben, weil diese Strecke gerade stark bombardiert wurde und die Bunker trotz unseres Fleißes nicht tief genug gegraben waren. Wie verrückt sind wir dann raus und um unser Leben gerannt. Etlichen Menschen hat diese Flucht ins Freie das Leben gekostet. Verletzte wanden sich stöhnend und schreiend am Boden. Wir mußten sie auf den mit Trümmern übersäten und qualmenden Straßen zurücklassen.«

Die antifaschistischen Künstler Kurt Lade und Oskar Kokoschka hielten das Leben in den Londoner Bunkern in realistischen Bildern fest. Letzterer und seine tschechische Freundin Olda Palkowská demonstrierten den Überlebenswillen der Nazibombardierten, indem sie in einem Bunker heirateten. In den Monaten der Bombenangriffe auf die Millionenstadt 1940 und 1941 wurde der Bildhauer Henry Moore vom War Artist Committee beauftragt, die in die U-Bahn-Schächte Geflohenen zu zeichnen. »Unter der Erde machte ich nie irgendwelche Skizzen«, sagte Moore. »Es wäre so gewesen, als machte man Skizzen im Laderaum eines Sklavenschiffes.« Mit diesem Bild hat Moore, ohne daß er es hätte wissen können, den Kern der Strategie hinter den mörderischen Bombardements getroffen, die Planungen zur »Neuordnung« Großbritanniens. Es sollte tatsächlich versklavt werden. Vorgesehen war die Deportation aller wehrfähigen Männer im Alter zwischen 17 und 45 Jahren zur Zwangsarbeit auf den Kontinent.

Bereits am 15. Juli 1940, einen Tag vor »Weisung Nr. 16«, plante die »Volkswirtschaftliche Abteilung« der IG Farben mit den Anlagen der chemischen Industrie, die nach der Besetzung unter Konzernkontrolle kommen sollten. Am 30. Juli 1940 bildeten Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt des Oberkommandos der Wehrmacht den »Stab England«, der sich daranmachte, Managementstrukturen für ein besetztes Großbritannien auszuarbeiten. Das gesamte britische Wirtschafts- und Arbeitskräftepotential sollte den Erfordernissen der deutschen Kriegswirtschaft unterworfen werden. Unterstützung kam von den Ministerialbeamten im Reichswirtschaftsministerium. In dessen Auftrag erstellte der frühere Präsident der Deutschen Handelskammer in London, Karl E. Markau, ein Fachgutachten, das er im September 1940 vorlegte. Darin heißt es: »Endziel dieser Maßnahmen ist die Verlagerung von Erfahrungen, Handelswegen und des gesamten Einflusses, der bisher in englischen Händen war, nach Deutschland, und zwar zeitlich auf dem kürzesten und wirkungsvollsten Wege.« Die Führung der Luftwaffe setzte Ende September 1940 beim Generalflugzeugmeister einen »Industrieerfassungsstab für England« ein, der mit dem Raub der gesamten Entwicklungs- und Forschungsarbeiten der britischen Luftfahrt beauftragt war.

Um die Unterdrückung des englischen Volkes hatten sich die Eliten Nazideutschlands natürlich schon vor dem »Adlertag« gesorgt. Die zwangsweise Einführung des deutschen Strafrechts war bereits etwas länger als eine der
ersten Maßnahmen geplant. Göring hatte am 1. August 1940 Reichsführer SS Himmler beauftragt, »Einsatzgruppen« für Großbritannien aufzustellen. Eine vom Reichssicherheitshauptamt angelegte »Sonderfahndungsliste Großbritannien« enthielt Namen von 2700 prominenten Persönlichkeiten und
Adressen demokratischer Institutionen, die verhaftet bzw. überwacht oder verboten werden sollten. Zu letzteren gehörten alle Emigrantenorganisationen, auch die von meiner Mutter mitbegründete, zahlenmäßig stärkste und politisch einflußreichste, »The Free German League of Culture in Great Britain«.
 

Editorische Anmerkung

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe. Er wurde erstveröffentlicht in der Jungen Welt am 13.8.2010