Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Wettlauf zwischen Konservativen und Rechtsextremen  
 

7-8/10

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Ein UN-Gremium, das sich der Rassismus- und Diskrimierungsbekämpfung widmet, übt heftige Kritik am neuen Auftreten der französischen Machthaber – Der Front National triumphiert in aller Öffentlichkeit, seine Ideen fänden nunmehr endlich Anerkennung – Gesetzesänderungen zu den Themen « Ausländerkriminalität » und Staatsbürgerschaftsrecht wurden bereits in Auftrag gegeben.

Sammelt der Front National letztendlich die politischen Früchte auf? Oder wird sein politisch-ideologisches Bemühen letztlich doch eher dem konservativen Regierungslager zugute kommen? Die Antwort auf diese Fragen bleibt abzuwarten. In ihrer Sonntags-Ausgabe vom 15. August 2010 jedenfalls titelt die Pariser Abendzeitung ,Le Monde’ auf ihrer Seite Eins unübersehbar (Originalwortlaut): „Übersteigerte Sicherheitskampagne: Die extreme Rechte will ernten, was Monsieur Sarkozy sät.“[1] Und im Blattinneren folgt die Fortsetzung unter der Überschrift: „Aus Sicht des FN lässt Nicolas Sarkozy <die Tabus fallen>“.

Um ihren gründlich recherchierten Artikel haben die auf die extreme Rechte spezialisierten JournalistInnen der Zeitung – Abel Mestre und Caroline Monnot - eine Reihe von Bezirkssekretären des Front National (FN) darüber befragt, wie diese die derzeitige „Sicherheits“kampagne von Präsident Sarkozy einschätzen. Im Raum Lille und Calais, im Bezirk Seine-et-Marne (östliches Pariser Umland), im südlichen Elsass, in Hochsavoyen (Alpenregion) und in Perpignan in Südwestfrankreich. Unisono kommen die befragten Parteifunktionäre des FN zu dem Ergebnis, inhaltlich seien die aktuellen Vorschläge aus dem Regierungslager zu „Ausländerkriminalität“ und Staatsbürgerschaftsdebatte voll auf ihrer Linie – doch Sarkozy sei bei ihrer Umsetzung nie und nimmer glaubwürdig. Abgenutzt von Regierungspraxis und Realpolitik, und gegebenenfalls auch gehemmt durch europäisches Recht und verfassungsrechtliche Regeln (die ihn daran hindern, gar zu weit zu gehen, auf Kosten fundamentaler Menschenrechte). Entsprechend teilen alle die Vision, die aktuelle Kampagne sei Wasser auf ihre eigenen Mühlen, und nicht jene des Regierungslagers; Sarkozy betätige sich als „Eisbrecher für uns“ und als „Tabustürzer“. Nunmehr sei es nicht länger glaubwürdig, den FN als rassistische oder faschistische Partei zu verdammen, da Regierungspolitiker sich mit ihren Vorschlägen in nächste Nähe zu ihm begäben. Als „nächste Stufe“ müsse nun längerfristig die Bündnisfrage auf der Rechten gestellt, und eine Umgruppierung derselben angesteuert werden.

Ähnlich wie der zitierte Zeitungsartikel, interpretieren übrigens auch viele Kritiker/innen der Regierung und der Rechten die augenblickliche Situation. Ein Interview mit dem smarten sozialistischen Abgeordneten und Rechtsanwalt Arnaud Montebourg, das am 11. August in ,Libération’ abgedruckt wurde, erschien unter einem ausgewählten Zitat als Überschrift: „Die Regierung/Staatsmacht front-nationalisiert sich“ (,Le pouvoir se front-nationalise’).

Regionale Kampagne für „Opa Selbstjustiz“

Durch eine ganz kurze Andeutung weist der Artikel in ,Le Monde’ auch auf das derzeitige Zusammenspielen von (örtlichen und zum Teil auch überregionalen) Vertretern der Konservativen und der extremen Rechten im Falle von René Galinier hin. Galinier ist ein 73jähriger Rentner in der Kleinstadt Nissan-lez-Ensérun im Raum Montpellier, der am 05. August bei sich zu Hause mit einem dort aufbewahrten Jagdgewehr auf zwei junge Einbrecherinnen schoss. Bei ihnen handelt es sich um zwei junge Romafrauen, die schwer verletzt wurden. Der Schütze beruft sich auf Notwehr: Er sei des Nachmittags im Schlaf durch Geräusche plötzlich aufgeweckt worden und habe es mit der Angst zu tun bekommen. Der zuständige Staatsanwalt Patrick Mathé, der den Selbstjustiz übenden Rentner wegen Körperverletzung in U-Haft (in der Haftanstalt von Béziers) nehmen lieb, sieht es jedoch völlig anders: Auf beide Frauen sei aus nächster Nähe geschossen worden. Zudem hätten beide Einbrecherinnen - die unbewaffnet waren - sich jeweils in verschiedenen Zimmern befunden, als sie angeschossen wurden. Dies deutet nicht auf eine defensive Tat in einem Schreckmoment hin. Ferner sei nicht davon auszugehen, dass Galinier, der ein Veteran des französischen Algerienkriegs (1954-62) ist, es so leicht mit der Angst zu tun bekomme. Es handele sich also um einen klaren Fall von Notwehr-Überschreitung oder „Notwehrexzess“: Zwar ist eine unerlaubte Handlung zur Verteidigung des Rechtsguts „Eigentum“ gerechtfertigt; jedoch darf nicht ohne zwingenden Grund – ohne drohende Gefahr - in das weit höhere Rechtsgut des menschlichen Lebens eingegriffen werden. Ein Angriff auf das Eigentum (der zudem wohl auch anders hätte abgewehrt werden können) rechtfertigt nicht Totschlag. 

Das Dorf, dessen Einwohner er ist, mobilisiert jedoch seit dem 07. August ziemlich massiv zu seinen Gunsten und fordert die Freilassung von „Opi Galinier“ (,Pépé Galinier’): Auf eine Petition wurden allein an einem Sammelpunkt innerhalb einiger Stunden 400 Unterschriften gesetzt. Auf der Webseite der Regionalzeitung ,Midi Libre’ wimmelt es im Leserforum von Kommentaren, die Selbstjustiz rechtfertigen und oft rassistischer Natur sind.  

Auf politischer Ebene nunmehr kommt Unterstützung für die Forderung nach seiner Freilassung vom FN – Marine Le Pen publizierte ein Pressekommuniqué dazu, das zwar verbal moderat formuliert ist, aber Selbstjustiz („wenn der Staat nicht schützen kann“) rechtfertigt – und von der konservativen UMP[2]. Ein Beisitzer des Bürgermeisters von Béziers mit Zuständigkeit für Jugend und Kultur, Jason Onderwater (UMP), der auch stellvertretender Jugend-Verantwortlicher der UMP in der Region ist, drehte ein Video zur Unterstützung von René Galinier und stellte es ins Internet. Auf der Website der Regionalzeitung traf er, obwohl auch (kommunal-)wahlpolitische Motive zur Sprache kamen, eher auf erkennbare Unterstützung damit. Allerdings erntete er auch Widerspruch; inklusive innerhalb seiner eigenen Partei, deren Bezirksvorsitzender Arnaud Julien ihm mit den Worten widersprach: „Das geht nicht, wir leben in einem Rechtsstaat...“[3] - Seinerseits machte sich der UMP-Abgeordnete des weiter entfernten Nizza, Lionnel Luca, in der Öffentlichkeit für den Rentner und seine Freilassung stark. 

Dies ist nur ein örtlicher Ausschnitt aus einem gesellschaftlichen Klima in Frankreich, das in Teilen angespannt ist. 

Heftige Kritik vom UN-Aussschuss für Rassismusbekämpfung an der Regierungspolitik  

Vor dem Expertenteam der Vereinten Nationen stand Frankreich da wie ein so genannter Schurkenstaat. Bei den Anhörungen vor dem 18köpfigen Ausschuss, der die UN-„Kommission zur Beseitigung der Rassendiskriminierung“ – CERD  -  repräsentierte, am vergangenen Mittwoch und Donnerstag (11. und 12. August) in Genf geriet die französische Delegation unter gehörigen Rechtfertigungsdruck. „Es besteht ein Widerspruch zwischen dem Bild (Frankreichs), das nach auben hin vermittelt wird, und der Realität. Es wäre Zeit, dass Sie endlich den Träumen von Freiheit und Brüderlichkeit Leben verleihen“ hielt der Teamvorsitzende – der US-Bürger Pierre-Prosper – den schwitzenden Repräsentanten der französischen Regierung vor. 

Andere Ausschussmitglieder stellten im Rahmen der in periodischen Abständen stattfinden Anhörung, bei der die Umsetzung der Internationalen Konvention zur Beseitigung der Rassendiskriminierung von 1965 überprüft wird, zahlreiche kritische Nachfragen. Die Delegierten hatten brav einen 90seitigen Bericht vorbereitet, der die Erfolge des französischen Staates bei der Umsetzung der Anti-Diskriminierungs-Konvention unterstrich. Aber bei den Diskussionen wurde besonders der aktuelle politische Diskurs an der Spitze des französischen Staates auf dem Prüfstand gestellt. „Ich verstehe nicht, was ein < Franzose ausländischer Herkunft > ist“ und warum er rechtlich anders behandelt werden solle, warf ein türkischer UN-Experte – der Professor für Politikwissenschaft Gün Kut - ein. Auch er spielte auf jüngste politische Entwicklungen in den oberen Sphären der französischen Politik an. Und eine Ausschussvertreterin aus Burkina-Faso beklagte: „Es fällt uns schwer, mit Frankreich zu sprechen, das wir so gut kennen und wenig wiedererkennen.“ Experten aus Algerien und Niger kritisierten heftig den Umgang der Regierung mit den Roma, die derzeit massiv nach Rumänien vertrieben werden sollen. 

Der oberste französische Repräsentant, der Staatssekretär (für Europa-Angelegenheiten) und UMP-Schleimling Pierre Lellouche, erwiderte: Seine Regierung verteidige die Grundrechte, unter ihnen „das erste Recht, jenes auf Sicherheit“. „Die Sicherheit als oberstes Grund- und Freiheitsrecht“ (im Original: ,la sécurité, la première des libertés’),so lautete ein Slogan, den Nicolas Sarkozy als frischgebackener Innenminister im Juni 2002 ausgegeben hatte. Und das ist autoritäre Ideologie pur: Alle anderen Freiheitsrechte übt der oder die Einzelne als Abwehrrecht gegen die Staatsmacht aus – dieses aber geniebt die Staatsmacht „im Namen ihrer Bürger“. 

Der UN-Expertenausschuss wird nun seine „Empfehlungen“ an die Adresse Frankreichs gegen Ende August, aller Voraussicht nach am 27. 08., abgeben. Unterdessen ging die französische Regierungspartei UMP schon längst zur öffentlichen Gegenattacke über. Ihr Vize-Parteisprecher Dominique Paillé erklärte etwa am 13. August beim Sender RTL, die vorgetragene Kritik habe keine Bedeutung, denn sie komme von Experten, die „100 Meilen von der Realität entfernt“ seien. Zudem sei er „überrascht über die Haltung des Ausschusses“, da ihm „Leute (sitzen), die aus Ländern kommen, die die Menschenrechte absolut nicht respektieren“[4]. Der 18köpfige Ausschuss ist sehr divers zusammengesetzt, in ihm sitzen Repräsentanten aus den USA, Irland, Grobbritannien, Frankreich, Guatemala, Kolumbien, Algerien, Niger, Burkina-Faso, Russland, Togo, der Türkei, Pakistan... Er fügte hinzu: „Dieser Ausschuss täuscht sich (...), er hat die Pflicht, innerhalb eines gegebenen Zeitraums die Ergebnisse (der Behörden) zu untersuchen, und nicht nach Eindrücken zu beurteilen.“ Sonst verstehe er nicht, „warum so viele Menschen bei uns zuwandern wollen“. Claude Guéant, Generalsekretär des Elyséepalasts und einer der engsten Berater von Präsident Nicolas Sarkozy, seinerseits bezeichnete als Falschdarstellung, wenn in den Medien behauptet werde, die Vereinten Nationen hätten Frankreich kritisiert: „Die UNO übt keine Kritik an Frankreich“, es handele sich lediglich um „Einzelpersonen“ in einem Ausschluss, die diskutiert und ihre „Einzelmeinungen“ vorgetragen hätten.[5] Der Rechtsauben-Abgeordnete Christian Vanneste aus Nordfrankreich (der u.a. durch seinen Gerichtsprozess für homophobe Aussprüche bekannt geworden ist), antwortete seinerseits auf die UN-Experten, Frankreich habe „keinerlei Lehren zu empfangen“.[6]

„Französische Ausländer“ krimineller als „nicht-ausländische Franzosen“?  

Hauptansatzpunkt der Kritik der UN-Experten war dabei eine wahrhafte Brandrede, die Staatspräsident Nicolas Sarkozy am 30. Juli in Grenoble hielt. Der Kernsatz der Ansprache lautete, „50 Jahre schlecht geregelter Einwanderung“ trügen Schuld an der Kriminalität. Der Parteisprecher der regierenden UMP - Frédéric Lefebvre - brachte es am 05. August dann auf die einfache Formulierung, „die Ausländerfrage“ sei „eines der gröbten Probleme im Land“. Christian Estrosi, Industrieminister in Paris und regierender Bürgermeister in Nizza, benutzte seinerseits am 09. August im Sender ,Europe1’ eine knappe Formulierung: „Entweder Franzose oder ,voyou’ (Gauner/Halunke/Übeltäter) sei, man muss sich entscheiden“[7]

Diese Botschaft inhaltlich unters Publikum zu bringen: ,Die Ausländer sind das Problem bei der Kriminalität’, war das hauptsächliche Anliegen der Präsidentenrede. Die konkreten Mabnahmen, die Sarkozy dazu vorschlug, waren nur schmückendes Beiwerk rund um diesen geistigen Brandsatz.  

Inzwischen hat Präsident Sarkozy den „Pitt-Bull“ (so lautet einer seiner Spitznamen) Frédéric Lefebvre an dem Punkt ein bisschen zurückgepfiffen. Jedenfalls schreibt die auf Satire und Enthüllungen spezialisierte Wochenzeitung ,Le Canard enchaîné’ in ihrer Nummer vom 11. August, Sarkozy spreche sich dagegen aus, „den Eindruck zu erwecken, in unserem Lager sei eine Eskalation im Gang“. In seiner Rede von Grenoble habe er „die Linie vorgegeben“, und „nicht mehr, aber auch nicht weniger“ sei die Marschrichtung. Es sei unnötig, noch weitere zündende Sprüche und Erklärungen draufzusatteln. Die Mahnung könnte eine doppelte Funktion haben. Zum Einen dient der ,Canard enchaîné’ – dessen Informationen meistens aus „Indiskretionen“ von Angehörigen der politischen Apparate selbst stammen, darunter sind oft wirkliche Enthüllungen, oft durch „Dissidenten“ – u.a. auch den politisch Mächtigen als „Briefkasten“: Eine Information wird der Zeitung gesteckt, um eine Botschaft ’rüberzubringen. Die Botschaft würde in diesem Falle lauten: Sarkozy lanciert eine rassistisch-repressive Kampagne, aber möchte dabei noch als moderat erscheinen (denn es gibt Extremere als ihn, auch im eigenen Laden) und bremst die Wadenbeiber aus. Andererseits handelt es sich wohl um einen echten Warnruf, auch an die Scharfmacher im eigenen Lager, jetzt keine gar nicht mehr beherrschbare Lawine loszutreten. Denn jede repressive Forderung kann noch getoppt werden. Jede Forderung nach hartem Vorgehen gegen Ausländer und Straftäter erscheint als „schlapp“, wenn im Hintergrund der Chor der Repressionsgeilen ruft: „Aufhängen! Auspeitschen! Rösten! Vierteilen! Auch ich hätt’ da noch eine Idee...“  

Im Ernst: Anscheinend fürchtet Sarkozy, sonst ständig neuen Hardlinerforderungen seitens der ewig nach mehr und härterer Repression, nach mehr und härterem Vorgehen gegen Ausländer rufenden Abgeordneten-Riege (v.a. aus Südostfrankreich) ausgesetzt zu werden. Auf diese Weise wäre er der Entwicklung nicht mehr Herr. Seit Ende Juni 2010 hatten sich insgesamt 35 Abgeordnete vom rechtskonservativen Flügel der UMP, vor allem aus der Südost-Ecke - wo viele frühere französische Algeriensiedler und viele reaktionäre, reiche Rentner an der Côte d’Azur hausen und wo auch die Wahlergebnisse des FN hoch ausfallen -, zu einem Kollektiv unter dem Namen ,Droite populaire’ zusammengeschlossen. Das bedeutet ungefähr so viel wie „Den kleinen Leuten verbundene Rechte“, beinhaltet aber auch eine Anspielung auf die seit seiner Gründung im Oktober 1972 bestehende Selbstdefinition des Front National: als ,droite nationale, sociale et populaire’ („nationale, soziale und den kleinen Leuten verpflichtete Rechtspartei“). Zu den Teilnehmern an dem neuen Abgeordnetenclub, dessen erstes Treffen am 07. Juli dieses Jahres stattfand, gehören vor allem die üblichen Verdächtigenvom rechten Flügel bis rechten Rand der UMP: Thierry Mariani (Abgeordneter aus dem Raum Avignon), Lionnel Luca aus Nizza und Ihresgleichen[8]. Diese Parlamentarier, die auf regionaler Ebene in unmittelbarer wahlpolitischer Konkurrenz zu einem örtlich sehr starken FN stehen, plädieren seit eh und je für einen strammen Rechtskurs in Sachen „Sicherheits“- und „Ausländerpolitik“. Ihre Initiative hat anscheinend auch den seit Mitte Juli d.J. erkennbar eingeschlagenen,(oberflächlich) neuen Kurs Nicolas Sarkozys mit beeinflusst. Nur möchte Sarkozy sich seine politische Manövrierfreiheit behalten, und nicht einem ständigen Druck, weiter nach Rechts zu rücken, ausgesetzt zu sein: Zukünftige Wahlen werden nach seinem Dafürhalten „auch“, aber eben nicht „nur“ am rechten Rand gewonnen. 

Internationale Kritik 

Am 30. Juli – am Tag der Rede selbst, und infolge kurz zuvor getätigter Ankündigungen Sarkozys, die in dieselbe Richtung zielten – warf der britische ,Daily Mail’ dem französischen Staatspräsidenten deswegen unverblümt „Rassismus“ und den Willen zu einer „ethnischen Säuberung“ vor. Es handelt sich beim ,Daily Mail’ um die, eher rechtslastige, zweit-auflagenstärkste Tageszeitung im Vereinigten Königreich.[9] Und am 05. August schrieb die ‚New York Times’ in einem auch in  Frankreich viel beachteten Kommentar (Originaltitel: ,Xenophobia: Casting Out the Un-French’), Sarkozy nähre „feindselige Gefühle gegen Einwanderer“ und tue dies aus einem „kurzfristigen politischen Kalkül“ heraus.[10]

Der Präsidentenrede zufolge einerseits sollen die Rechtsansprüche, die auch „illegale“ Einwanderer angeblich haben – ihre einzigen sind in Wirklichkeit die auf rechtliches Gehör und auf eine ärztliche Minimalversorgung – auf den Prüfstand. Andererseits müsse dringend eine Diskussion über die Staatsbürgerschaft geführt werden. Und dieselbe müsse kriminellen Franzosen „ausländischer Herkunft“, so Sarkozys juristisch extreme vage Formulierung, wieder entzogen werden können. Als konkreten Anwendungsfall nannte er in seiner Grenobler Rede Polizistenmörder. Das beträfe ein oder zwei Personen im Jahr. Sein Innenminister Brice Hortefeux sattelte jedoch am Wochenende danach noch drauf: Er nannte auch „Mädchenbeschneidung, Menschenhandel“ – dazu zählt juristisch auch die Hilfe zu illegaler Einwanderung – und, allgemein bleibend, „Akte schwerer Kriminalität“. Letzterer Begriff ist dabei schon ziemlich ausleg- und dadurch dehnbar.  

Ferner wird anvisiert, den bislang automatischen Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft für in Frankreich geborene und aufgewachsene Kinder – ausländischer Eltern – beim Erreichen der Volljährigkeit unter Vorbehalt zu stellen. Und die Eltern minderjähriger Straftäter sollen nicht mehr nur (wie bisher) zivilrechtlich haftbar, also zahlungspflichtig, gemacht werden können, sondern auch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können. Beide Ansinnen waren in der Sarkozy-Rede enthalten. Zum zweitgenannten Punkt schlug der Abgeordnete Eric Ciotti, „Sicherheitsfachmann“ der regierenden UMP, konkretisierend bis zu zwei Jahre Haft vor. Sippenhaft vom Feinsten.  

Diese Idee veranlasste den sonst ausgesprochen „moderaten“ sozialdemokratischen Ex-Premierminister Michel Rocard dazu, Anfang August einen direkten Vergleich zum Vichy-Regime und den Nazis zu ziehen. Er tat dies in einem Interviews mit dem linksnationalistischen Wochenmagazin ‚Marianne’ vom 07. August, das seinerseits Nicolas Sarkozy auf der Titelseite als „Übeltäter/Strolch der Republik“ (Voyou de la République) bezeichnete – woraufhin die Konservativen ihrerseits tobten und sich über die Exzesse der Pressefreiheit ereiferten. Rocard hatte Sarkozy bislang nicht so sehr ferne gestanden, sondern hatte noch vor wenigen Monaten einen staatsoffiziellen „Untersuchungsauftrag“ zum Schutz der Antarktis von ihm angenommen. Er zählt damit zu jenen sozialdemokratischen Ex-Prominenten, die es akzeptierten, unter der Präsidentschaft Sarkozy mit (entlohnten) Aufträgen oder Posten „belohnt“ zu werden. Aber möglicherweise war Rocard auch darüber erzürnt, dass Sarkozy ihn durch Anführen eines seiner „historischen“ Zitate instrumentalisiert hatte und dadurch versuchte, ihn vor seinen Karren zu spannen. 1989 tätigte Rocard, der in jenen Jahren (im Zeitraum von Juni 1988 bis im Mai 91) als Premierminister amtierte, einen berühmt gewordenen Ausspruch. Von ihm freilich oft nur die erste Hälfte zitiert  – wobei damals, im Kontext eines Aufschwungs des Rassismus und der extremen Rechten, wohl auch vor allem die erste Hälfte dazu bestimmt war, öffentlichkeitswirksam wiedergegeben zu werden. Er lautet: „Frankreich kann nicht alles Elend der Welt aufnehmen...“ – Rocard hatte aber in der zweiten Satzhälfte einschränkend hinzugefügt: „...es muss aber seinen gerechten Anteil daran tragen.“ An ihm hatte sich auch Nicolas Sarkozy nur die erste Hälfte herausgepickt, und dieses (Stückwerk-)Zitat in seine Brandrede von Grenoble vom 30. Juli 2010 eingebaut. Rocard hat es anscheinend nicht geschätzt. 

Fahrplan zur Umsetzung 

Noch im Laufe des August 10 wird Innenminister Brice Hortefeux – der sich theoretisch im Urlaub befindet – an den konkreten gesetzlichen Bestimmungen arbeiten, die sich aus diesen Vorschlägen ergeben sollen. Diese sollen bereits im September im Parlament debattiert und verabschiedet werden, eingebettet in den neuen Entwurf für ein verschärftes Einwanderungsgesetz aus dem Hause Eric Besson (Minister „für Immigration, Integration und nationale Identität“), der dann ohnehin in die parlamentarischen Beratungen kommt.  

Noch ist unklar, was die neuen Bestimmungen genau beinhalten werden. Denkbar wäre etwa an eine Erweiterung der bereits heute bestehenden, gesetzlichen Möglichkeit zum Entzug der französischen Staatsbürgerschaft – die bislang während der ersten Jahre nach dem freiwilligen Erwerb der Staatsangehörigkeit (also durch Einbürgerung, nicht qua Geburt) und im Falle von „terroristischen Straftaten“ sowie „Hochverrat“ juristisch möglich ist. Vorstellbar wäre, diesen Mechanismus einfach auf die anvisierten Anwendungsfälle – vom Polizistenmord, den Sarkozy in seiner Grenobler Rede nannte, bis zur Polygamie – auszudehnen. Allerdings ginge die anvisierte Praxis dadurch noch über das Programm des neofaschistischen Front National hinaus. Die rechtsextreme Partei hatte in ihrem Wahlprogramm für das Jahr 2007 gefordert, unter Beibehaltung der o.g. zehnjährigen Frist nach Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft diese wieder entziehen zu können. Und war für den Fall, dass der oder die Betreffende wegen eines „schweren Vergehens“ oder Verbrechens zu einer mindestens sechsmonatigen Haftstrafe, die nicht auf Bewährung verhängt wurde, verurteilt wird. (Ferner ist die rechtsextreme Partei für die Abschaffung des „automatischen“ Erwerbs der Staatsbürgerschaft durch das „Bodenrecht“, für in Frankreich geborene Kinder, im Alter von 18. Stattdessen soll allein durch Bluts-Abstimmung eine automatische Vererbung der Staatsbürgerschaft erfolgen; dagegen sollen in Frankreich geborene Kinder ausländischer Eltern nur auf eigenen Antrag hin Franzosen werden können. Und wenn sie es „verdient“ haben, was u.a. „Unbescholtenheit“ voraussetzt.) Die Vorschläge aus dem jetzigen Regierungslager würden zum Teil darüber hinausgehen, würde auch hier die zehnjährige „Verwirkungsfrist“ nach Erwerb der Staatsbürgerschaft beibehalten. 

Im Gespräch ist auch die Vorstellung, eine kürzere Frist nach vollzogenem Staatsbürgerschaftserwerb zu ihrer „Verwirkung“ einzuführen. Gedacht wird etwa an eine Art zweijähriger „Probezeit“ für frisch Eingebürgerte / Franzosen Gewordene, innerhalb derer sie die Staatsangehörigkeit wieder verlieren können. Ähnlich wie bei einem Führerschein auf Probe.

Im Kern geht es ohnehin eher um die zugrunde liegende Botschaft – „Ausländer verursachen unser Kriminalitätsproblem“ – denn um die konkreten Anwendungsmodalitäten. Dennoch hat es auch eine gesellschaftliche Aussagekraft, wie (relativ) eng oder weit der Kreis der potenziell Betroffenen gezogen wird. Dabei ist auch fraglich, welche Verhaltensweisen bzw. Delikte unter den neuen Mechanismus des Staatsbürgerschaftsentzugs fallen können. Nicolas Sarkozy nannte am 30. Juli fast ausschlieblich den Polizistenmord und versuchten Polizistenmord, und fügte dem noch den Anschlag auf das Leben anderer staatlicher Autoritätsträger (das könnten etwa auch Transportbeamte sein) hinzu. Unterdessen zog Brice Hortefeux am darauf folgenden Wochenende den Kreis schon erheblich weiter, indem er auch – allgemein formuliert und mit einem dehnbaren Ausdruck – „Akte schwerer Kriminalität“ sowie „Mädchenbeschneidung“ (als spezielles Delikt in manchen afrikanischen Bevölkerungsgruppen) und „Menschenhandel“ nannte. Unter letzteren Begriff fallen dabei, juristisch, u.U. auch die „Hilfe zur illegalen Einwanderung“ oder zum illegalen Aufenthalt auf dem Staatsgebiet. 

„Schuldmutmabung“ statt „Unschuldsvermutung“ 

Ferner bezog Hortefeux sich auf den Fall von Liès Hebbadj im westfranzösischen Nantes, der 1975 in Algier geboren wurde und 1977 in zweijährigem Alter nach Frankreich kam. Er wurde 1999 durch seine Heirat mit einer „Urfranzösin“ zum Staatsbürger. An ihm, dem mutmablichen charismatischen Sektenguru im Milieu des ‚Tabligh’ (einer überwiegend in Indien und Pakistan beheimateten,  pietistisch-fundamentalistischen Strömung, ungefähres moslemisches Gegenstück zu den Evangelikalen im missionierenden Protestantismus), versucht die Staatsmacht seit April dieses Jahres ein Exempel zu statuieren: An ihm soll unter den Augen der Öffentlichkeit vorexerziert werden, dass es Fälle gebe, in denen Leute unverdientermaben französische Staatsbürger seien und ein Entzug der Staatsangehörigkeit legitim wäre. Innenminister Brice Hortefeux hatte Ende April 2010 öffentlich veranlasst (bzw. seinen Amtskollegen im Einwanderungsministerium, Eric Besson, dazu aufgefordert), ein solches Verfahren in seinem Fall zu prüfen.

Liès Hebbadj wird konkret „informelle Polygamie“ – ohne Trauscheine – mit mehreren Frauen, die er selbst als seine auberehelichen „Geliebten“ bezeichnet, und „betrügerische Erschleichung von Sozialleistungen“ vorgeworfen. Seit dem 09. Juni läuft ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren deswegen gegen ihn. Dabei geht es im zweitgenannten Punkt um Kindergeld, das seine Freundinnen (laut seiner eigenen Darstellung) respektive Ehefrauen - nach islamischem religiösem Recht, aber ohne standesamtliche Hochzeit (laut Auffassung des französischen Innenministeriums) – als Alleinerziehende bezogen haben sollen. Just in den ersten Augusttagen 2010, als die Debatte zum Thema „Ausländerkriminalität“ und Staatsbürgerschafts-Entzug voll entflammte, tauchte Liès Hebbadj plötzlich in den Medien wieder auf. „Auf sehr opportune Weise“, wie etwa ,Libération’ in ihrer Ausgabe vom o9. August sarkastisch anmerkt. Zuvor hatte am 05. August eine seiner Ex-Freundinnen respektive Ex-Ehefrauen (je nach Standpunkt und Analyse), die zum rigoristischen Islam – Marke Tabligh - konvertierte Ur-Europäerin Nina Gomez alias „Oum Seyfoullah“, eine Strafanzeige gegen ihn erstattet. „Oum Seyfoullah“ ist, mit einem anderen Sektenanhänger, im Golfstaat Dubai verheiratet. Als im Frühjahr 2010 die „Affäre“ erstmals öffentlich hochkochte, hatte sie auf ihrem Blog im Internet zeitgleich Vorwürfe gegen Liès Hebbadj wegen früherer Gewalttätigkeit erhoben. Nina Gomez alias „Oum Seyfoullah“ stand aber wohl auch in Kontakt zu den französischen Justizbehörden, denn u.a. gegen läuft ein Verfahren wegen „missbräuchlichen Bezugs von Alleinerziehenden-Elterngeld“.  

Am 05. August dieses Jahres erstattete sie eine Strafanzeige unter dem Vorwurf der Gewalttätigkeit und Vergewaltigung gegen Liès Hebbadj. Die Tatvorwürfe reichen auf den Zeitraum 2003 bis 2007 zurück und dürften, wie immer es inhaltlich darum bestellte sein mag, schwerlich zu beweisen sein, zumal im Nachhinein und ohne dass für die fraglichen Jahre ein ärztliches Attest oder sonstiges Indiz oder Beweisstück vorläge. Sei es, wie es sei: Noch am selben Tag kam es zur polizeilichen Gegenüberstellung zwischen beiden Personen, zur Ingewahrsamnahme von Liès Hebbadj, zur richterlichen Vorführung und Eröffnung eines Strafverfahrens gegen ihn. Am folgenden Tag, dem 06. August, meldete sich der französische Innenminister persönlich zu der Affäre zu Wort – ein doch ziemlich heikler Vorgang bei einem laufenden, individuellen Strafverfahren mit offenem Ausgang – und sprach in den Medien von einer „Schuldvermutung“. (Er bezeichnete Liès Hebbadj wörtlich als ,présumé coupable’).  

Dies schlägt nun – was immer man von Monsieur Hebbadj und seiner verquast-reaktionären Ideologie sonst halten mag – aus rechtsstaatlicher Sicht dem Fass den Boden aus: Auch für ihn gilt grundsätzlich das rechtsstaatliche Prinzip der Unschuldsvermutung (,présumé innocent’), so lange, bis der Herr von einem ordentlichen Gericht rechtskräftig verurteilt worden ist. Offenkundig ist jemand wie Brice Hortefeux jedoch davon überzeugt, dass in einem Falle wie diesem nun wirklich Alles erlaubt sei. Oder es prüft einfach mal, wie weit er ohne gröbere Widerstände (von Seiten der Bürgerrechtler/innen) noch gehen kann...! Jedenfalls kein gutes Omen für die künftige Rechtspraxis... 

Unterstützung durch die öffentliche Meinung; oder doch nicht? 

Diese Pläne sind angeblich populär. So behauptete es jedenfalls ,Le Figaro’ – die konservative Tageszeitung, die in diesen Tagen nach weit verbreiteter Auffassung „die Prawda der Rechten“ abgibt und sich in Propagandaberichterstattung übt. Er gab eine Umfrage in Auftrag, der zufolge angeblich eine überdeutliche Mehrheit der Franzosen all diese Vorschläge unterstützen, beispielsweise 80 Prozent das Ansinnen auf Staatsbürgerschaftsentzug für bestimmte Untaten. Diese Befragung, die aufgrund von Online-Fragebögen bleibt jedoch methodische schwer umstritten. So ist strittig, ob überhaupt im Frankreich der Sommerpause – die etwa im Pariser Raum zwischen dem 15. Juli und der letzten Augustwoche traditionell „radikal“ ausfällt – eine „repräsentative“ Befragung stattfinden können. Hinzu kommt, dass nur „Ja“- und „Nein“-Antworten aufgeführt sind, aber nicht (wie sonst üblich) auch die Anzahl der Befragten „Ohne Meinung“ oder „ohne Angaben“. Ferner ist nicht nachgewiesen, dass nicht bspw. Mehrfachantworten durch wiederholtes Einloggen möglich waren. Schlieblich wurden etwa in der Online-Zeitung ,Rue89’ neben den methodischen auch inhaltliche Mängelbemerkungen, in Gestalt suggestiv gehaltener Fragestellungen, formuliert[11]

Eine spätere Umfrage des populistischen, aber Sarkozy-kritischen Wochenmagazins ,Marianne’ kam jedenfalls zu einem anderen Schluss. Demnach überwiegt, mit 51 Prozent (gegen die Idee vom Staatsbürgerschaftsentzug), knapp die Ablehnung. Diese Umfrage wurde durch das Magazin in seiner Ausgabe vom 14. August veröffentlicht. Voraus geschickt hatte die Zeitschrift bei ihrer Befragung die Fragestellung, ob in den Augen des Publikums „Sarkozys Sicherheitspolitik ein Erfolg“ sei. Diese Frage hatten 69 Prozent mit einem klaren „Nein“ beantwortet. 

Seit längerem vorbereitet  

Sarkozys Vorstöbe waren seit längerem vorbereitet worden. Die Pariser Abendzeitung Le Monde schrieb am 07. August 10, an ihnen sei seit März dieses Jahres gefeilt worden, und alle drei Wochen fänden seither hochrangige Treffen zur Vorbereitung einer Offensive zum Thema „Sicherheit“ statt. Also war die Rede auch keine Reaktion auf jüngste Ereignisse, wie die Unruhen in einer Trabantenstadt von Grenoble – nachdem ein junger Straftäter, Karim Boudouda, durch die Polizei erschossen worden war – vom 16. bis 18. Juli dieses  Jahres. Oder wie die gewaltsamen Zwischenfälle mit französischen Sinti oder „Fahrensleuten“ (Gens du voyage), nachdem Gendarmen einen 22jährigen aus ihren Reihen erschossen hatten, am 18. Juli in der zentralfranzösischen Kleinstadt Saint-Aignan. Allenfalls die Ortswahl und einzelne Ankündigungen wurden dadurch beeinflusst: Grenoble wurde als Kulisse für Sarkozys Brandrede ausgewählt, und der Präsident lieb ihr am 28. Juli eine Reihe von Mabnahmen gegen als Einwanderer in Frankreich lebende Roma vorausgehen. Letztere haben zwar mit den Vorfällen von Saint-Aignan nicht das Geringste zu tun – die „Landfahrer“ sind französische Staatsbürger und leben seit dem 15. Jahrhundert, erstmals verbürgt seit 1419, im Land -, bildeten aber eine „Zielgruppe“ für wohlfeile und publikumswirksame Repressionsmabnahmen.  

Repressiv gegen Roma

Schneller noch ging die Regierung gegen Sinti und Roma vor. Innerhalb von 14 Tagen nach den entsprechenden Beschlüssen von Ende Juli wurden, nach einer Bilanz von Innenminister Hortefeux am vergangenen Freitag (13. August), bereits über 40 Camps aufgelöst, in denen sich Roma aus Rumänien oder Bulgarien niedergelassen hatten. Diese Menschen wissen freilich nicht, wohin, und werden sich in Bälde neue Camps bauen. Frankreich fordert lautstark von Rumänien ihre „Rücknahme“, aber dort wären sie extremem Rassismus ausgesetzt, und als EU-BürgerInnen genieben auch sie nunmehr Personenfreizügigkeit. Auf die Dauer werden diese Vertreibungsmabnahmen also nicht allzu viel ändern, abgesehen davon, dass die Betroffenen zwischendurch ihr armseliges Hab und Gut verlieren und hin- und hergeschoben werden. Paris möchte allerdings von der Regierung in Bukarest, dass diese im Falle einer Ausreise nach Rumänien verhindert, dass die Roma das Land wieder verlassen, und beide Ländern sollen unerwünschte Migrationskandidaten in einer Fingerabdruckdatei erfassen. Rumänien kritisiert dieses Ansinnen jedoch und fordert Frankreich auf, lieber finanzielle Hilfe für die Betroffenen – vor Ort wie auch im eigenen Land – zu leisten. Allerdings hat das Land, unter massivem Druck aus Paris, am 30. Juli den seit Februar versprochenen Posten eines Ministers „für die Wiedereingliederung der Roma“ geschaffen. Die EU-Kommission hat das französische Ansinnen inzwischen ebenfalls scharf kritisiert[12], und Schweden hat die Initiative ergriffen, um europäische Mabnahmen für einen besseren Schutz der Roma zu fordern.

In Saint-Etienne, in der Nähe von Lyon, campieren die aus ihrem Zelt- und Barackenlager vertriebenen Roma inzwischen seit Wochen vor dem Rathaus. In Saint-Denis nördlich von Paris hingegen kehrten sie zum Teil an den Ausgangsort, von dem aus sie vertrieben worden, zurück. Dagegen verbesserte sich vorübergehend die Lage für Roma, die südöstlich von Paris aus einem Camp unterhalb der Autobahn A86 vertrieben worden: Der Bürgermeister der KP-regierten Pariser Vorstadt Choisy-le-Roi öffnete für sie ein städtische Turnhalle. Wie lange sie dort werden bleiben können, steht jedoch noch nicht fest. 

Längerfristiges Kalkül 

Ihnen liegt ein doppeltes Kalkül zugrunde. Die regierende bürgerlich-konservative Rechte ist politisch schwer angeschlagen. Sie war es bereits im Frühjahr, als sie die Regionalparlamentswahlen im März haushoch verlor und die französische SP nunmehr in 21 von 22 Regionen regieren konnte. Noch stärker ist sie es, seitdem ab Anfang Juni eine Reihe von Korruptions- sowie Selbstbedienungsaffären das öffentliche Ansehen des Regierungslagers schwer erschüttern. Die gravierendsten Skandale drehen sich um die Milliardärin Liliane Bettencourt und um die Erbschaft der Brüder Wildenstein. Im ersteren Falle wurde eine Summe in dreistelliger Millionenhöhe vor dem französischen Fiskus verborgen, auf dem Umweg über die Schweiz und die Seychellen. Bei der letztgenannten Affäre wurde eine Erbschaft im Gesamtwert von drei bis vier Milliarden Euro zu über 98 Prozent steuerlich hinterzogen und in Steuerparadiesen auf den britischen Kanalinseln und in der Karibik geparkt. Beide Male wusste der zuständige Haushaltsminister, damals Eric Woerth, Bescheid. Derselbe Woerth war bis zum 30. Juli dieses Jahres auch Schatzmeister der Regierungspartei UMP, und unter deren Grobspendern befanden sich just die Bettencourt und einer der beiden Brüder Wildenstein. Erschwerend kommt für seine politisches Lager hinzu: Woerth ist derzeit Arbeits- und Sozialminister unter Sarkozy. Und just er ist es, der Anfang September die letzte gröbere geplante „Sozialreform“ der Amtszeit Sarkozys (2007-12) – die geplante Renten„reform“, sprich Verlängerung der Lebensarbeitszeit – politisch durchsetzen soll. Das wäre schon zuvor nicht einfach gewesen, denn seit Jahresbeginn hat sich gehörig sozialer Unmut angestaut. Nun wird es aber noch erheblich schwerer fallen. Das Legitimitätsdefizit des, in vielen Augen, „Kumpanen der Superreichen“ ist erheblich.

Und an dieser Stelle setzt die neue Kampagne der regierenden Rechten an: Um verlorenes Terrain in der öffentlichen Meinung zurückzugewinnen, soll auf eine Thematik gesetzt werden, die jedenfalls in ihren Augen populär ist – auch um den Preis, dabei eifrig Ressentiments und Rassismus zu schüren. Die Absicht, die Aufmerksamkeit auf ein anderes Thema als den sozialen Problemfeldern und den Korruptionsthemen zu lenken, ist dabei offenkundig. Umso mehr, als Innenminister Hortefeux just am 07. September im Senat (dem „Oberhaus“ des französischen Parlaments) seinen neuen Entwurf zum Ausländer- und Staatsbürgerschaftsrecht vorstellen wird. Genau an dem Tag also, an dem die Gewerkschaften in ganz Frankreich gegen die Renten„reform“ demonstrieren und streiken möchten und an dem die dreiwöchige Debatte in der Nationalversammlung (dem „Unterhaus“) über eben diese „Reform“ beginnt. Gegen die linke und gewerkschaftliche Mobilisierung soll also ein anderes Segment der öffentlichen Meinung in Anschlag gebracht werden.  

Sowohl die Regierungspartei UMP als auch der rechtsextreme Front National behaupten übrigens beide, dass ihre Mitgliederzahlen seit der Rede Sarkozys in Grenoble stark anstiegen; so spricht UMP-Chef Xavier Bertrand von angeblich 15.000 zusätzlichen Mitgliedern (bei derzeit insgesamt 210.000) innerhalb von zwei Wochen[13]. Diese Angaben sind jedoch in Wirklichkeit kaum überprüfbar. So wurde in der Pariser Abendzeitung ,Le Monde’ inzwischen auch schon Kritik an der Zahlenpropaganda der UMP diesbezüglich geübt[14]

All die aktuelle polirische Agitation zielt offenkundig auf autoritäre und/oder rassistische Rechtswähler. Aber von der Kampagne profitieren könnte, statt des Regierungslagers (oder auch neben ihm), der Front National.  

Und doch hat die Sache auch dann noch System, falls es so odder ähnlich kommen sollte. Denn das Regierungslager tut jedenfalls alles dafür, dass, wenn es denn an Zustimmung verliert und seinen politischen Niedergang nicht aufhalten oder verlangsamen kann, eine Opposition sich allenfalls rechts von ihm formieren soll. Nach seinem Kalkül können die Rechtsextremen allein keinen Regierungswechsel herbeiführen - es sei denn im Bündnis mit Konservativen wie etwa 1994 und 2008 in Italien. Und dies, natürlich, im Gegensatz zur Sozialdemokratie und der Linksopposition. Also, wenn schon eine Oppositionskraft von der Schwäche der – sich als ebenso korrupt wie anti-sozial und wirtschaftsliberal entpuppenden – UMP-Regierung profitieren soll, dann bitte lieber die am rechten Rand als jene in der linken Mitte. Nur, wenn das nur nicht zu einem bösen Erwachen führt... 

NICHT VERGESSEN: 48 Organisationen, unter ihnen Bürgerrechtsinitiativen, Antirassismusvereinigungen, NGOs und die Gewerkschaftsdachverbände CGT und CFDT, rufen dazu auf, am 04. September gegen die rassistischen und repressiven Exzesse der Rechten zu protestieren.

Fußnoten

[1] Vgl. (neben anderen, darunter verlinkten Artikeln) den Titel: http://abonnes.lemonde.fr/

[7] Vgl. die AFP-Meldung dazu: http://www.google.com/ - Inzwischen hat Estrosi sich – in einem Interview mit der Sonntagszeitung ,JDD’ (vom 15. August) – wieder zu Wort gemeldet. Nunmehr schlägt er eine innenpolitische ,Union Sacrée’, so hieb die nationale „Burgfriedens“politik im Ersten Weltkrieg auf Französisch, gegen „Unsicherheit“ und Kriminalität vor. Im selben Atemzug schlägt er vor, all ejen Bürgermeister zu bestrafen, deren Rathausregierungen nicht oder nicht hinreichend an der nationalen Anstrengung für Law & Order teilnähmen. Konkret nannte er die Stadt Grenoble, deren Bürgermeister Michel Destot (vom Parti Socialiste) jedoch postwendend antwortete, in den letzten Jahren habe die Zentralregierung die nationale Polizeikräfte in seiner Stadt zwecks Einsparungen um 41 % abgebaut, sein Rathaus jedoch habe die kommunalen Zeitkräfte im selben Zeitraum um 17 % aufgestockt. Die französische Sozialistische Partei ihrerseits rief Estrosi dazu auf, dringend „in Urlaub zu fahren“.

[10] Hier geht’s zum Original : http://www.nytimes.com/ -  Und hier geht es zu einzelnen französischen Artikeln darüber (sehr kleine Auswahl): http://www.liberation.fr  und http://www.lemonde.fr oder http://www.leparisien.fr

[11] Vgl. http://www.rue89.com/  (zur Kritik an der Methode der Befragung) und http://www.rue89.com  (zum Inhalt)

 

Editorische Anmerkung

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.