Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Operation gelungen, Geisel tot

7-8/10

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Eine französische Geisel sollte durch eine Militäroperation in der Sahara befreit werden. Zu dem Zeitpunkt war sie möglicherweise längst nicht mehr am Leben. Sicher ist nur so viel: Jetzt ist sie es bestimmt nicht mehr.

Operation ge- oder misslungen, je nach Stundpunkt, die Geisel auf jeden Fall tot: Auf diese Kurzformel lässt sich das Ergebnis der französischen Militärintervention vom 24. Juli 2010 bringen.

Am darauf folgenden Montag, den 26. Juli wurde bekannt, dass der 78jährige humanitäre Helfer und Ex-Ingenieur Michel Germaneau, der seit April 2010 durch eine bewaffnete Islamistengruppe in der Sahara als Geisel festgehalten wurde, durch seine Entführer ermordet worden ist. So lautet jedenfalls die Version, welche die hinter der Verschleppung Germaneaus stehende Gruppe, über das Internet verbreitete. Es handelt sich um die bewaffnete Gruppierung, die sich seit nunmehr circa drei Jahren „Al-Qaida im Land des islamischen Maghreb“ – französisch abgekürzt AQMI – nennt (zuvor: „Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf“/GSPC) und in einigen Landstrichen Nordwestafrikas terroristisch aktiv ist.

Am Abend desselben Tages bestätigte das Verteidigungsministerium in Paris die Richtigkeit der Information, und dass es die Quelle als „authentisch“ habe identifizieren können. Eben dieses Ministerium hatte allerdings im Vorfeld mehrfach verlautbart, dass es über keinerlei zuverlässige Nachricht betreffend den Verbleib der 78jährigen Geisel und bezüglich der Frage, ob Germaneau überhaupt noch am Leben sei, verfüge. Das Pariser Ministerium fügte damals hinzu, das letzte verfügbare Lebenszeichen des humanitär engagierten früheren Ingenieurs, der sich im Rahmen der Nichtregierungsorganisation Enmilal für die Tuareg in der Sahara einsetzte, sei ein Videofilm. Ihn hatte AQMI am 14. Mai 2010 veröffentlicht.

Michel Germaneau war zwischen dem 19. und dem 21. April dieses Jahres im Norden der Republik Niger verschleppt worden, und seine Entführergruppe hielt sich später im wüstenhaften Norden von Mali auf. Aufgrund seiner Herzkrankheit, seines Alters sowie aufgrund der örtlichen Temperaturen herrschten ernsthafte Zweifel darüber, ob er einige Wochen hindurch überleben konnte. Französische Regierungskreise erklärten kurz vor dem fraglichen Wochenende des 24./25. Juli, sie seien „ernsthaft besorgt“, weil die Entführer auch eine „medizinische Vermittlung“ – also die Einschaltung neutraler Vermittler, die dem festgehaltenen Franzosen Arzneimittel hätten zukommen lassen können – verweigert hätten.

Geisel bereits längst tot?


Auch dies deutete eher darauf hin, dass Germaneau möglicherweise schon nicht mehr am Leben war, als das Ultimatum der Geiselnehmer am 26. Juli ablief. Unter Androhung der Ermordung des 78jährigen forderten sie die Freilassung gefangener Kampfkumpane, unter ihnen (gerüchteweise) Rachid Ramda, der in Frankreich aufgrund seiner Beteiligung an den Anschlägen auf Pariser Métros, Vorortbahnen und Züge von 1995/96 inhaftierst ist. Aber es gab laut Pariser Angaben nie konkrete Verhandlungen oder präzisierte Forderungen, da laut offiziellen französischen Quellen Versuche der Kontaktaufnahme zu den Entführern nicht fruchteten. Auch wurde diesen Angaben zufolge beispielsweise keine Lösegeldforderung formuliert. (Dem widerspricht allerdings die Existenz eines solchen Ultimatums: Ein solches hat überhaupt nur dann einen Sinn, wenn eine irgendwie geartete Forderung damit verknüpft ist.)

Unter solchen Umständen ist eine Geisel für ihre Entführer wenig „einträglich“, ja „wertlos“. Zwar war seinerzeit der Brite Edwin Dyer, der im Mai 2009 in der Sahara durch AQMI gefangen genommen wurde, laut den über die französische Presse verfügbaren Informationen ermordet worden, und seine Leiche wurde nie aufgefunden. Allerdings scheint es in diesem Falle einen Streit zwischen der nordwestafrikanischen AQMI, die aus der früheren algerischen „Salafistischen Gruppe für Predigt und Kampf“ (GSPC) hervorging und deren Niederlage im Kampf gegen den algerischen Staat durch eine Flucht in die „Transnationalisierung“ zu überwinden versuchte, und der „zentralen“ Struktur von Al-Qaida gegeben zu haben. Der Pariser Politologe und Sicherheitsexperte Jean-Pierre Filiu jedenfalls behauptet (laut ,Libération’ vom 27. Juli), die „Zentrale“ habe AQMI „befohlen“, den westlichen Staatsbürger Dyer zu ermorden. Wohl, weil man sich internationales Aufsehen davon versprach. Hingegen dürfte es AQMI, die sich mit kleinen bewaffneten Gruppen in der Sahara zu verankern sucht – die Angaben über ihre Kämpferzahlen variieren zwischen insgesamt 250 und 500 –, nicht gleichgültig sein, dafür Finanzierungsquellen zu finden. Bei ihrem Versuch, ein Netz aus Kämpfern in der (südlichen) Sahara aufzubauen, ist AQMI auf eine Kooperation mit geschäftstüchtigen Schmugglerbanden und Nomadengruppen angewiesen. Ohne deren Hilfe könnten die Radikalislamisten, die ganz überwiegend aus dem nördlichen Algerien und meistens aus städtischen Ballungsräumen stammen, in den Wüstenzonen keine drei Tage überleben. Dazu bedürfen sie aber auch finanzieller Argumente: Allein mit ihrer Ideologie dürften sie wohl kaum die nötigen Businesspartner mitten in der Wüste finden.

Hat es Verhandlungen gegeben – oder nicht?

Der Behauptung, es habe keinerlei Verhandlungsversuche und null Kontaktaufnahme von ihrer Seite gegeben, widersprach jedoch AQMI an dem Wochenende, das auf die Bekanntgabe des Todes der Geisel folgte. Wie am Sonntag, den 1. August publik wurde, gab die bewaffnete Gruppe über das Internet bekannt, es habe „Verhandlungen zwischen uns und Paris“ über die Geisel – die sich noch am Leben befunden habe – gegeben. Erst nachdem Frankreich am 24. Juli 10 zusammen mit Mauretanien eine doppelte Militäroperation, auf mauretanischem Staatsgebiet, aber auch im Norden von Mali unternommen habe – im ersteren Falle zur Ablenkung, im letzteren Falle zum Angriff auf ein AQMI-Lager - habe man die „Hinrichtung“ der Geisel ausgelöst. Das Außenministerium von Mali behauptet inzwischen, darüber informiert zu sein, dass der Gefangene unter den Augen des AQMI-Gruppenführers Abu Zeid enthauptet worden sei.

In Malis Hauptstadt Bamako ist man über die französisch-mauretanische Militäroperation auf eigenem Boden ungehalten. Das Land selbst war darüber erst im Nachhinein informiert worden. Schon im Februar 2010, so der in Mali verbreitete Eindruck, habe Frankreich sich äußerst locker über die Souveränität des Landes hinweggesetzt. Damals allerdings in gegenteiliger Absicht: Der französische Druck lief damals darauf hinaus, neun in Bamako im Gefängnis sitzende, vormals bewaffnet agierende Islamisten (unter ihnen mindestens zwei algerische Staatsbürger) aus der Haft zu entlassen. Paris erzielte auf diese Weise die Freilassung des damals ebenfalls durch AGMI zur Geisel genommenen Franzosen Pierre Camatte. Im Umgang mit ihm verfolgte der französische Staat offenkundig eine andere Strategie als nun im Falle Germaneaus. Eine eventuelle Erklärung könnte darin liegen, dass sie nicht dieselbe Funktion innehatten. Während einer Parlamentsdebatte im Winter 2009/10 war Camatte zeitweilig in Unterlagen als angeblicher Agent des Auslandsgeheimdiensts DGSE geführt worden. Dies wurde jedoch im Nachhinein energisch dementiert, und kann tatsächlich auch auf einem puren Fehler beruht haben: Unter eine Liste von im Ausland entführten oder getöteten DGSE-Agenten waren unter anderem auch die Namen drei in Afghanistan festgehaltene Journalisten gemischt worden, die nach allgemeinem Dafürhalten nichts mit der DGSE zu tun hatten. Die gemeinsame Auflistung in demselben Dokument kann also auch ein reines Ungeschick gewesen sein, wie seither mit Nachdruck behauptet wird.

Dass die französisch-mauretanische Militäroperation zur Befreiung Germaneaus gedient habe, wurde jedoch erst im Nachhinein behauptet. Übrigens nicht von mauretanischer Seite, wo man sich auf andere Ziele beruft: Man habe angeblich Kenntnis von bevorstehenden Angriffen auf staatliche Ziele in Mauretanien erhalten und ihnen zuvorkommen wollen. Zudem war zunächst auf beiden Seiten von einer Strafoperation gegen AQMI die Rede. Letztere verlor bei dem Angriff auf ein Wüstenlager sechs ihrer Mitglieder, weitere flohen. Doch beim Vordringen der Truppen, deren französischer Teil mutmaßlich zum „Service Action“ des Auslandsgeheimdiensts DGSE gehörte, war von einer Geisel in dem zurückgelassenen Wüstenlager keine entfernte Spur zu entdecken. Dass es bei der Attacke darum gegangen sei, Germaneau freizubekommen, wurde denn auch erst einige Stunden später bekannt – und klang laut Auffassung von Kritikern eher nachgeschoben.

Heftige Kritik rief die Operation – mit ungewissem Ausgang, aber toter Geisel am Ende – nicht nur bei der französischen Linken hervor, sondern auch bei staatlichen Stellen in Algerien und Mali. Letztere drei behaupten unisono, durch die Wüstenattacke sei das felsenfeste Risiko, den sicheren Tod der Geisel – falls sie noch lebte – zu provozieren, in Kauf genommen worden. Zudem rügt etwa die französische Opposition, Nicolas Sarkozy, der selbst in starken innenpolitischen Schwierigkeiten steckt, habe sich aus der Klemme befreien oder jedenfalls von den aktuellen Skandalen ablenken wollen. Sei es durch die eher unwahrscheinliche spektakuläre Befreiung, sei es durch den Tod der Geisel.

Mali: einfach übergangen?


Mali klagt ferner über eine krasse Missachtung seiner Souveränität. Seine Regierung sei vor vollendete Tatsachen gestellt und überhaupt nur spät und ohne Einzelheiten über die Militäroperation informiert worden. Die Pariser Abendzeitung ,Le Monde’ schreibt, die malische Zentralregierung in Bamako sei am Donnerstag, den 22. Juli „über das Prinzip“ einer bevorstehenden militärischen Attacke informiert worden (der dann am 24. Juli erfolgte), d.h. nur über den Grundsatz und ohne die Nennung von Einzelheiten.

Zwar haben sich Mauretanien, Mali und Niger gegenseitig das Recht garantiert, Terroristengruppen auch über ihre jeweiligen Wüstengrenzen hinweg zu verfolgen – in dem Falle, dass einer der drei Staaten eine Verfolgung zunächst auf seinem eigenen Territorium aufnimmt. Dies sei aber hier nicht der Fall gewesen, da einer der beiden Angriffe direkt und von Anfang an über die zwischenstaatliche Grenze hinweg erfolgte. Mali fürchtet ferner, die französische Politik begünstige deutlich die Militärherrscher in Mauretanien gegenüber ihrem eigenen Land. Unter dem General Ould Abdulaziz waren die mauretanischen Armeechefs durch einen Putsch im August 2008 an die Macht gekommen und wurden daraufhin durch die französische Politik – die sie gegen Kritik in Schutz nahm, etwa durch Nicolas Sarkozy im März 2009 – gehätschelt. In Mali hingegen herrscht seit neunzehn Jahren eine Demokratie, die im Vergleich zum überwiegenden Rest der französischsprachigen Einflusszone in Afrika als quasi einwandfrei gelten muss. Im kommenden Jahr wird Malis gewählter Präsident Ahmadou Toumani Touré („ATT“) zum Ende seines Mandats aus dem Amt weichen. Im Gegensatz zu manch anderen Ländern der Region ist sein Nachfolger am heutigen Tag real unbekannt. In Bamako fürchtet man nun, das Militärregime im benachbarten Mauretanien – das sich im Juli 2009 durch eine Präsidentschaftswahl „legalisieren“ ließ - werde durch die französische Politik gegenüber den Unwägbarkeiten der Demokratie in Mali, als Stütze für den regionalen Einfluss Frankreichs, bevorzugt.

Bei einem Blitzbesuch in den Hauptstädten Nigers, Malis und Mauretaniens am Dienstag, den 27. Juli bekam der französische Außenminister Bernard Kouchner zu hören, dass man sich in Bamako über den „Mangel an Koordination“ beklagte. Kouchner seinerseits stellte verstärkte „Verteidigungsbemühungen“ Frankreichs in der Sahelzone und im Süden der Sahara in Aussicht. Die algerische Tageszeitung ,Le Quotidien d’Oran’ bezeichnete dies wiederum als „prächtiges Geschenk für die Propaganda der Djihadisten“, und führte dazu aus: „Die Propaganda der Djihadisten vom Schlage AQMI funktioniert seit Jahren nach dem Motto einer Konfrontation zwischen ,Westen’ und ,Islam’. Der signifikante Rückgang des Terrorismus in Algerien“, wo die Islamisten in den neunziger Jahren am Versuch einer innenpolitischen Machtübernahme scheiterten, „wurde ab 2003 durch den Krieg im Iraq, der neues Rekrutierungspotenzial bot, verlangsamt.“ Während die Radikalislamisten innenpolitisch nicht punkten könnten, käme ihnen jedoch eine Konfrontation gerade mit der früheren Kolonialmacht Frankreich höchst gelegen.

Algerien: diplomatischen Mehrwert aus dem Anti-Terror-Kampf ziehen (möglichst ohne Konkurrenz)

Auch das offizielle Algerien ist über die neuen Vorstöße Frankreichs ausgesprochen ungehalten, und wird deswegen umgekehrt durch die Pariser Diplomatie – via ‚Libération’ und andere Zeitungen – eines „doppelten Spiels“ bezichtigt. Tatsächlich nutzt Algerien, dem die Radikalislamisten innenpolitisch kaum noch gefährlich werden können und das sie seit 1999 auf dieser Ebene definitiv besiegt hat, den heute vergleichsweise sporadisch auftretenden Terrorismus gerne als außenpolitisches Argument. Einen Umsturz muss es heute von ihnen nicht ernsthaft fürchten: Die bewaffneten Islamisten unterschiedlicher Schattierungen verfügten 1995/96 im Land über 27.000 Kämpfer unter Waffen, heute schätzt etwa das US-Außenministerium die Anzahl der Militanten von AQMI auf 300.

Aber seine Bemühungen, in der Wüste gegen AQMI – die dort gerne eine relativ herrschafts- und kontrollfreie Zone nutzen würde, um sich zu verankern wie andere Radikalislamisten in Afghanistan vor 2001 oder in den letzten Jahren in Somalia – zu kämpfen, versucht Algerien als Trumpfkarte zu nutzen. Erst Ende Juli 2010 zeichnete die US-Administration das Land wieder als „Partner Nummer Eins gegen den Terrorismus“ aus. Da möchte es sich doch durch Frankreich, das seinerseits um seinen Einfluss in der Region ringt, ungern in die Suppe spucken lassen.
 

Editorische Anmerkung

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.