Eine
französische Geisel sollte durch eine Militäroperation in der
Sahara befreit werden. Zu dem Zeitpunkt war sie möglicherweise
längst nicht mehr am Leben. Sicher ist nur so viel: Jetzt ist
sie es bestimmt nicht mehr.
Operation ge-
oder misslungen, je nach Stundpunkt, die Geisel auf jeden Fall
tot: Auf diese Kurzformel lässt sich das Ergebnis der
französischen Militärintervention vom 24. Juli 2010 bringen.
Am darauf folgenden Montag, den 26. Juli wurde bekannt, dass der
78jährige humanitäre Helfer und Ex-Ingenieur Michel Germaneau,
der seit April 2010 durch eine bewaffnete Islamistengruppe in
der Sahara als Geisel festgehalten wurde, durch seine Entführer
ermordet worden ist. So lautet jedenfalls die Version, welche
die hinter der Verschleppung Germaneaus stehende Gruppe, über
das Internet verbreitete. Es handelt sich um die bewaffnete
Gruppierung, die sich seit nunmehr circa drei Jahren „Al-Qaida
im Land des islamischen Maghreb“ – französisch abgekürzt AQMI –
nennt (zuvor: „Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf“/GSPC)
und in einigen Landstrichen Nordwestafrikas terroristisch aktiv
ist.
Am Abend desselben Tages bestätigte das Verteidigungsministerium
in Paris die Richtigkeit der Information, und dass es die Quelle
als „authentisch“ habe identifizieren können. Eben dieses
Ministerium hatte allerdings im Vorfeld mehrfach verlautbart,
dass es über keinerlei zuverlässige Nachricht betreffend den
Verbleib der 78jährigen Geisel und bezüglich der Frage, ob
Germaneau überhaupt noch am Leben sei, verfüge. Das Pariser
Ministerium fügte damals hinzu, das letzte verfügbare
Lebenszeichen des humanitär engagierten früheren Ingenieurs, der
sich im Rahmen der Nichtregierungsorganisation Enmilal für die
Tuareg in der Sahara einsetzte, sei ein Videofilm. Ihn hatte
AQMI am 14. Mai 2010 veröffentlicht.
Michel Germaneau war zwischen dem 19. und dem 21. April dieses
Jahres im Norden der Republik Niger verschleppt worden, und
seine Entführergruppe hielt sich später im wüstenhaften Norden
von Mali auf. Aufgrund seiner Herzkrankheit, seines Alters sowie
aufgrund der örtlichen Temperaturen herrschten ernsthafte
Zweifel darüber, ob er einige Wochen hindurch überleben konnte.
Französische Regierungskreise erklärten kurz vor dem fraglichen
Wochenende des 24./25. Juli, sie seien „ernsthaft besorgt“, weil
die Entführer auch eine „medizinische Vermittlung“ – also die
Einschaltung neutraler Vermittler, die dem festgehaltenen
Franzosen Arzneimittel hätten zukommen lassen können –
verweigert hätten.
Geisel bereits längst tot?
Auch dies deutete eher darauf hin, dass Germaneau möglicherweise
schon nicht mehr am Leben war, als das Ultimatum der
Geiselnehmer am 26. Juli ablief. Unter Androhung der Ermordung
des 78jährigen forderten sie die Freilassung gefangener
Kampfkumpane, unter ihnen (gerüchteweise) Rachid Ramda, der in
Frankreich aufgrund seiner Beteiligung an den Anschlägen auf
Pariser Métros, Vorortbahnen und Züge von 1995/96 inhaftierst
ist. Aber es gab laut Pariser Angaben nie konkrete Verhandlungen
oder präzisierte Forderungen, da laut offiziellen französischen
Quellen Versuche der Kontaktaufnahme zu den Entführern nicht
fruchteten. Auch wurde diesen Angaben zufolge beispielsweise
keine Lösegeldforderung formuliert. (Dem widerspricht allerdings
die Existenz eines solchen Ultimatums: Ein solches hat überhaupt
nur dann einen Sinn, wenn eine irgendwie geartete Forderung
damit verknüpft ist.)
Unter solchen Umständen ist eine Geisel für ihre Entführer wenig
„einträglich“, ja „wertlos“. Zwar war seinerzeit der Brite Edwin
Dyer, der im Mai 2009 in der Sahara durch AQMI gefangen genommen
wurde, laut den über die französische Presse verfügbaren
Informationen ermordet worden, und seine Leiche wurde nie
aufgefunden. Allerdings scheint es in diesem Falle einen Streit
zwischen der nordwestafrikanischen AQMI, die aus der früheren
algerischen „Salafistischen Gruppe für Predigt und Kampf“ (GSPC)
hervorging und deren Niederlage im Kampf gegen den algerischen
Staat durch eine Flucht in die „Transnationalisierung“ zu
überwinden versuchte, und der „zentralen“ Struktur von Al-Qaida
gegeben zu haben. Der Pariser Politologe und Sicherheitsexperte
Jean-Pierre Filiu jedenfalls behauptet (laut ,Libération’ vom
27. Juli), die „Zentrale“ habe AQMI „befohlen“, den westlichen
Staatsbürger Dyer zu ermorden. Wohl, weil man sich
internationales Aufsehen davon versprach. Hingegen dürfte es
AQMI, die sich mit kleinen bewaffneten Gruppen in der Sahara zu
verankern sucht – die Angaben über ihre Kämpferzahlen variieren
zwischen insgesamt 250 und 500 –, nicht gleichgültig sein, dafür
Finanzierungsquellen zu finden. Bei ihrem Versuch, ein Netz aus
Kämpfern in der (südlichen) Sahara aufzubauen, ist AQMI auf eine
Kooperation mit geschäftstüchtigen Schmugglerbanden und
Nomadengruppen angewiesen. Ohne deren Hilfe könnten die
Radikalislamisten, die ganz überwiegend aus dem nördlichen
Algerien und meistens aus städtischen Ballungsräumen stammen, in
den Wüstenzonen keine drei Tage überleben. Dazu bedürfen sie
aber auch finanzieller Argumente: Allein mit ihrer Ideologie
dürften sie wohl kaum die nötigen Businesspartner mitten in der
Wüste finden.
Hat es Verhandlungen gegeben – oder nicht?
Der Behauptung, es habe keinerlei Verhandlungsversuche und null
Kontaktaufnahme von ihrer Seite gegeben, widersprach jedoch AQMI
an dem Wochenende, das auf die Bekanntgabe des Todes der Geisel
folgte. Wie am Sonntag, den 1. August publik wurde, gab die
bewaffnete Gruppe über das Internet bekannt, es habe
„Verhandlungen zwischen uns und Paris“ über die Geisel – die
sich noch am Leben befunden habe – gegeben. Erst nachdem
Frankreich am 24. Juli 10 zusammen mit Mauretanien eine doppelte
Militäroperation, auf mauretanischem Staatsgebiet, aber auch im
Norden von Mali unternommen habe – im ersteren Falle zur
Ablenkung, im letzteren Falle zum Angriff auf ein AQMI-Lager -
habe man die „Hinrichtung“ der Geisel ausgelöst. Das
Außenministerium von Mali behauptet inzwischen, darüber
informiert zu sein, dass der Gefangene unter den Augen des
AQMI-Gruppenführers Abu Zeid enthauptet worden sei.
In Malis Hauptstadt Bamako ist man über die
französisch-mauretanische Militäroperation auf eigenem Boden
ungehalten. Das Land selbst war darüber erst im Nachhinein
informiert worden. Schon im Februar 2010, so der in Mali
verbreitete Eindruck, habe Frankreich sich äußerst locker über
die Souveränität des Landes hinweggesetzt. Damals allerdings in
gegenteiliger Absicht: Der französische Druck lief damals darauf
hinaus, neun in Bamako im Gefängnis sitzende, vormals bewaffnet
agierende Islamisten (unter ihnen mindestens zwei algerische
Staatsbürger) aus der Haft zu entlassen. Paris erzielte auf
diese Weise die Freilassung des damals ebenfalls durch AGMI zur
Geisel genommenen Franzosen Pierre Camatte. Im Umgang mit ihm
verfolgte der französische Staat offenkundig eine andere
Strategie als nun im Falle Germaneaus. Eine eventuelle Erklärung
könnte darin liegen, dass sie nicht dieselbe Funktion
innehatten. Während einer Parlamentsdebatte im Winter 2009/10
war Camatte zeitweilig in Unterlagen als angeblicher Agent des
Auslandsgeheimdiensts DGSE geführt worden. Dies wurde jedoch im
Nachhinein energisch dementiert, und kann tatsächlich auch auf
einem puren Fehler beruht haben: Unter eine Liste von im Ausland
entführten oder getöteten DGSE-Agenten waren unter anderem auch
die Namen drei in Afghanistan festgehaltene Journalisten
gemischt worden, die nach allgemeinem Dafürhalten nichts mit der
DGSE zu tun hatten. Die gemeinsame Auflistung in demselben
Dokument kann also auch ein reines Ungeschick gewesen sein, wie
seither mit Nachdruck behauptet wird.
Dass die französisch-mauretanische Militäroperation zur
Befreiung Germaneaus gedient habe, wurde jedoch erst im
Nachhinein behauptet. Übrigens nicht von mauretanischer Seite,
wo man sich auf andere Ziele beruft: Man habe angeblich Kenntnis
von bevorstehenden Angriffen auf staatliche Ziele in Mauretanien
erhalten und ihnen zuvorkommen wollen. Zudem war zunächst auf
beiden Seiten von einer Strafoperation gegen AQMI die Rede.
Letztere verlor bei dem Angriff auf ein Wüstenlager sechs ihrer
Mitglieder, weitere flohen. Doch beim Vordringen der Truppen,
deren französischer Teil mutmaßlich zum „Service Action“ des
Auslandsgeheimdiensts DGSE gehörte, war von einer Geisel in dem
zurückgelassenen Wüstenlager keine entfernte Spur zu entdecken.
Dass es bei der Attacke darum gegangen sei, Germaneau
freizubekommen, wurde denn auch erst einige Stunden später
bekannt – und klang laut Auffassung von Kritikern eher
nachgeschoben.
Heftige Kritik rief die Operation – mit ungewissem Ausgang, aber
toter Geisel am Ende – nicht nur bei der französischen Linken
hervor, sondern auch bei staatlichen Stellen in Algerien und
Mali. Letztere drei behaupten unisono, durch die Wüstenattacke
sei das felsenfeste Risiko, den sicheren Tod der Geisel – falls
sie noch lebte – zu provozieren, in Kauf genommen worden. Zudem
rügt etwa die französische Opposition, Nicolas Sarkozy, der
selbst in starken innenpolitischen Schwierigkeiten steckt, habe
sich aus der Klemme befreien oder jedenfalls von den aktuellen
Skandalen ablenken wollen. Sei es durch die eher
unwahrscheinliche spektakuläre Befreiung, sei es durch den Tod
der Geisel.
Mali: einfach übergangen?
Mali klagt ferner über eine krasse Missachtung seiner
Souveränität. Seine Regierung sei vor vollendete Tatsachen
gestellt und überhaupt nur spät und ohne Einzelheiten über die
Militäroperation informiert worden. Die Pariser Abendzeitung ,Le
Monde’ schreibt, die malische Zentralregierung in Bamako sei am
Donnerstag, den 22. Juli „über das Prinzip“ einer bevorstehenden
militärischen Attacke informiert worden (der dann am 24. Juli
erfolgte), d.h. nur über den Grundsatz und ohne die Nennung von
Einzelheiten.
Zwar haben sich Mauretanien, Mali und Niger gegenseitig das
Recht garantiert, Terroristengruppen auch über ihre jeweiligen
Wüstengrenzen hinweg zu verfolgen – in dem Falle, dass einer der
drei Staaten eine Verfolgung zunächst auf seinem eigenen
Territorium aufnimmt. Dies sei aber hier nicht der Fall gewesen,
da einer der beiden Angriffe direkt und von Anfang an über die
zwischenstaatliche Grenze hinweg erfolgte. Mali fürchtet ferner,
die französische Politik begünstige deutlich die
Militärherrscher in Mauretanien gegenüber ihrem eigenen Land.
Unter dem General Ould Abdulaziz waren die mauretanischen
Armeechefs durch einen Putsch im August 2008 an die Macht
gekommen und wurden daraufhin durch die französische Politik –
die sie gegen Kritik in Schutz nahm, etwa durch Nicolas Sarkozy
im März 2009 – gehätschelt. In Mali hingegen herrscht seit
neunzehn Jahren eine Demokratie, die im Vergleich zum
überwiegenden Rest der französischsprachigen Einflusszone in
Afrika als quasi einwandfrei gelten muss. Im kommenden Jahr wird
Malis gewählter Präsident Ahmadou Toumani Touré („ATT“) zum Ende
seines Mandats aus dem Amt weichen. Im Gegensatz zu manch
anderen Ländern der Region ist sein Nachfolger am heutigen Tag
real unbekannt. In Bamako fürchtet man nun, das Militärregime im
benachbarten Mauretanien – das sich im Juli 2009 durch eine
Präsidentschaftswahl „legalisieren“ ließ - werde durch die
französische Politik gegenüber den Unwägbarkeiten der Demokratie
in Mali, als Stütze für den regionalen Einfluss Frankreichs,
bevorzugt.
Bei einem Blitzbesuch in den Hauptstädten Nigers, Malis und
Mauretaniens am Dienstag, den 27. Juli bekam der französische
Außenminister Bernard Kouchner zu hören, dass man sich in Bamako
über den „Mangel an Koordination“ beklagte. Kouchner seinerseits
stellte verstärkte „Verteidigungsbemühungen“ Frankreichs in der
Sahelzone und im Süden der Sahara in Aussicht. Die algerische
Tageszeitung ,Le Quotidien d’Oran’ bezeichnete dies wiederum als
„prächtiges Geschenk für die Propaganda der Djihadisten“, und
führte dazu aus: „Die Propaganda der Djihadisten vom Schlage
AQMI funktioniert seit Jahren nach dem Motto einer Konfrontation
zwischen ,Westen’ und ,Islam’. Der signifikante Rückgang des
Terrorismus in Algerien“, wo die Islamisten in den neunziger
Jahren am Versuch einer innenpolitischen Machtübernahme
scheiterten, „wurde ab 2003 durch den Krieg im Iraq, der neues
Rekrutierungspotenzial bot, verlangsamt.“ Während die
Radikalislamisten innenpolitisch nicht punkten könnten, käme
ihnen jedoch eine Konfrontation gerade mit der früheren
Kolonialmacht Frankreich höchst gelegen.
Algerien: diplomatischen Mehrwert aus dem Anti-Terror-Kampf
ziehen (möglichst ohne Konkurrenz)
Auch das offizielle Algerien ist über die neuen Vorstöße
Frankreichs ausgesprochen ungehalten, und wird deswegen
umgekehrt durch die Pariser Diplomatie – via ‚Libération’ und
andere Zeitungen – eines „doppelten Spiels“ bezichtigt.
Tatsächlich nutzt Algerien, dem die Radikalislamisten
innenpolitisch kaum noch gefährlich werden können und das sie
seit 1999 auf dieser Ebene definitiv besiegt hat, den heute
vergleichsweise sporadisch auftretenden Terrorismus gerne als
außenpolitisches Argument. Einen Umsturz muss es heute von ihnen
nicht ernsthaft fürchten: Die bewaffneten Islamisten
unterschiedlicher Schattierungen verfügten 1995/96 im Land über
27.000 Kämpfer unter Waffen, heute schätzt etwa das
US-Außenministerium die Anzahl der Militanten von AQMI auf 300.
Aber seine Bemühungen, in der Wüste gegen AQMI – die dort gerne
eine relativ herrschafts- und kontrollfreie Zone nutzen würde,
um sich zu verankern wie andere Radikalislamisten in Afghanistan
vor 2001 oder in den letzten Jahren in Somalia – zu kämpfen,
versucht Algerien als Trumpfkarte zu nutzen. Erst Ende Juli 2010
zeichnete die US-Administration das Land wieder als „Partner
Nummer Eins gegen den Terrorismus“ aus. Da möchte es sich doch
durch Frankreich, das seinerseits um seinen Einfluss in der
Region ringt, ungern in die Suppe spucken lassen.
Editorische Anmerkung
Den Artikel
erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.
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