Repression & Widerstand unter Hartz IV
[Über das Paradigma der Kosten-Nutzen-Rechnung]

Erwerbslose sind Kostenfaktoren und (fast) nichts außerdem!
Kostenfaktoren aller Länder vereinigt euch!

Vortrag von Wolfgang Ratzel

7-8/11

trend
onlinezeitung

Warum ist es wichtig zu wissen, dass ich als Erwerbsloser ein Kostenfaktor bin? 

Weil der Standort Deutschland versuchen wird, seine Kostenfaktoren kostengünstig zu „behandeln“; notfalls auch abzuschaffen. Der Vortrag zeigt diese existenzielle Bedrohung.

Der Sinn des Vortrags besteht darin, Klarheit über unsere Situation als „Erwerbslose“ zu gewinnen, um wirklichkeitsnahes politisches Handeln zu ermöglichen. 

Der Vortrag betrachtet das Problem der „Kostenfaktoren“ im kalten Horizont der „kalten“ Logik der Kostenrechnung. Meine Sprache soll diese Kälte ausdrücken.

Im politischen Alltag wird die „Sprache der Kostenrechnung“ allerdings verdeckt durch eine Sprache einer einschließend-entfaltungsorientierten Positivität. „Angela Merkel“ ist als politischer Körper der Inbegriff dieser „Wärme“, die auf Ausschluss des unsichtbaren und nichtbenannten unverwendbaren und inkompatiblen Lebens beruht.

Die wichtigsten Einwände lauten:

Erster Einwand: Die Reichen sind reich, weil die Armen arm sind. 

Meine Gegenthese lautet: Die Reichen werden nur dann reicher, wenn die Armen für sie als Working Poor wertschöpfend lohnarbeiten. Nichtwertschöpfende Arme belasten die Bilanz des Standorts Deutschland, dessen Kosten vorrangig die Mittelschichten tragen. 

Zweiter Einwand: Die vermaßnahmten Erwerbslosen sind produktiv, weil sie einerseits sinnvolle gesellschaftlich-nützliche Arbeit leisten, andererseits gelegentlich entlassene Arbeitskräfte des Öffentlichen Dienstes ersetzen und darüber hinaus von den Trägern der Gemeinwohlarbeit ausgebeutet werden.  

Dazu eine Fundstelle: Bundesrechnungshof 2006: Ein Viertel der Arbeitsgelegenheiten sind nicht im öffentlichen Interesse, nicht zusätzlich und nicht wettbewerbsneutral. 

Dazu ein Kleiner Kommentar (per eMail an mich):

„Maximale Fehleinschätzung […]: Erwerbslose in Ein-Euro-Jobs und Bürgerarbeit leisten gesellschaftliche Arbeit und erzielen Profite bzw. "Kosteneinsparung" für den Träger oder die Kommune, für die sie arbeiten ! solidarische Grüße Hinrich und Claudia 

Den Einwand habe ich so verstanden:

Sie bringen dem Träger schon deswegen Profit, weil dieser mehr Geld für sie erhält als er an Lohnkosten auszahlt, meist ohne die Fortbildungen tatsächlich durchzuführen, zu denen er eigentlich verpflichtet wäre. Darüber hinaus werden oft feste Stellen gestrichen, die dann durch "Vermaßnahmte" ausgefüllt werden.

Meine Gegenthese lautet: In Maßnahmen findet in der Regel keine Wertschöpfung statt. Aber selbst dann, wenn die Vermaßnahmten Mehrwert produzieren würden, der auf dem Markt verkauft werden könnte, blieben sie in der gesellschaftlichen Kostenrechnung Kostenfaktoren. Im Grenzfall senken realisierte Mehrwerte die Kosten ihrer Erwerbslosigkeit. 

Was verbirgt sich hinter dem (fast)?

In der gesellschaftlichen Kostenrechnung werden „Erwerbslose“  immer auch als „Unsicherheitsfaktor““ wahrgenommen. Herumschweifende „Erwerbslose“ können zum teuren Sicherheitsrisiko werden. Aber auch dieses „Sicherheitsrisiko“ unkontrollierter Erwerbslosigkeit wird unter Kostengesichtspunkten wahrgenommen.

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 Meine drei Grundannahmen

(1) Ich gehe davon aus, dass wir im Untergang eines implodierenden Weltsystems des Kapitalismus leben. Der Point of No Return ist vorbei oder ereignet sich gerade jetzt. Dieses In-Sich-Zusammenstürzen kann lange gehen oder sich eben jetzt ereignen.

Es gibt keine Instanz, die das System insgesamt steuern und die Implosion verhindern könnte. Das Weltsystem des Kapitalismus regiert als komplex-chaotisch-wucherndes Szenario, das die Menschen als seine Angestellte oder User im Griff hat. Der Mensch ist dem Funktionieren des Systems ausgesetzt, er ist de facto Anhängsel des Systems.

In der Epoche der Implosion verschärft sich die Standortkonkurrenz. Derjenige Standort „gewinnt“ vorübergehend, der am kostengünstigsten wirtschaftet, der vor allem aber seine gesellschaftlichen Standortressourcen auf zukunftsfähige Technologien (Nano-, Bio-, Gen-, Computer-, Steuerungs- und Umwelttechnologien) konzentriert.

(2) Die Epoche der Disziplinargesellschaft ist hier und heute vorbei. Der Paradigmenwechsel hin zur Leistungsgesellschaft hat sich längst vollzogen. Das Gehorsamssubjekt wurde längst zum Leistungssubjekt. Ebenso wie Erwerbstätige sind auch Erwerbslose längst zu UnternehmerInnen ihrerselbst gemacht.

Heinz Bude hat das so ausgedrückt: „Die Zwangskunden der Jobcenter sollen sich als Unternehmer ihrer eigenen Beschäftigungsfähigkeit begreifen und deshalb nicht vor dem Fernseher warten dürfen, bis die Arbeit zu ihnen kommt.“ (In: Die Unverwendbaren. In: Tagesspiegel vom 14.2.2011, S.12)

Statt dem negativen und regulierenden Verbot und Gebot gilt heute: „Yes, we can!“ Dieses Können meint ein dereguliertes, entgrenztes Können. Statt „Du musst! Du sollst!“ gilt nunmehr: Du kannst!“ – genauer: „Du musst Können können.“

Statt Disziplinierungsdruck wirkt nunmehr ein allgegenwärtiger entgrenzter Leistungsdruck. Weltweit und auch hier wuchern Überreste der Disziplinargesellschaft unter der Oberfläche der Leistungsgesellschaft weiter.

(3) Wir leben in einer Zeit, in der das Denken und Handeln in Werten und nach Verwertungsgesichtspunkten alle anderen Motive verdrängt, überlagert und in-Dienst-genommen hat. Dieses Verwertungssyndrom zeigt sich vor allem im Regierungshandeln das immer ausschließlicher von einer gesellschaftlichen Kostenrechnung gesteuert wird. Es zeigt sich aber auch im betriebswirtschaftlichen Handeln der Unternehmen und „sozialen Träger“ und im Alltagshandeln der Mehrheitsbevölkerung. Allgemeiner Hintergrund ist der Wille zur gesellschaftlichen und privaten Lebensstandardsicherung, wenn immer möglich zur Lebensstandardmaximierung.

 

 

Regierungshandeln

Bevölkerungshandeln

Gesellschaftliche Kostenrechnung (analog der betrieblichen K.)

Spielregeln der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsweise

Wert-Denken der Bevölkerung und Regierung

 

Was ist ein Kostenfaktor?

Im herkömmlichen Verständnis ist ein Kostenfaktor ein „Werteinsatz“, um eine wertbehaftete Leistung zu herzustellen. Unter Leistung zählt ausschließlich der mittelbare oder unmittelbare Bezug zum Markt, auf dem der Mehrwert realisiert wird. Die Kostenrechnung errechnet, sammelt und wertet alle Werteinsätze aus, die durch eine solche Leistungserstellung (= Mehrwertproduktion) verursacht werden.

Dieses „Um-zu“ und diese Gerichtetheit der Kosten auf Leistung (= Mehrwert) ist nichthintergehbar. 

Die gesellschaftliche Kostenrechnung bezieht sich auf den gesellschaftlichen Kombinationsprozeß der „Produktionsfaktoren“, dessen Output sich vor allem im Bruttoinlandsprodukt und in der Leistungsbilanz zeigt. Sie errechnet, sammelt und wertet alle gesellschaftlichen Werteinsätze aus, die zur gesellschaftlichen Gesamtwertschöpfung führen. In einem zweiten Schritt vergleicht sie die Summe der Werteinsätze mit der erwartbaren Summe aus Wertschöpfung und Steuer- und Abgaben.

 

Ausgaben (jeweils anteilige Kosten)                                   Einnahmen (Nutzen)

 

Kosten der Geburt                              Zu erwartende Mehrwertschöpfung durch Erwerbsarbeit

Kosten der Erziehung                          Zu erwartende Steuerzahlungen

Kosten der Ausbildung                         Zu erwartende Sozialabgaben (= RV, KV, PflV-Prämien)

Infrastrukturkosten

Kosten der Verwaltung

Kosten der Verteidigung

Kosten der Inneren Sicherheit

Kosten der Grundsicherung

Kosten der Krankheitskosten

Kosten der Renten

Ökologische Kosten (u.a. Landschaftsverbrauch)                                .....................

Bilanz: Einnahmen minus Ausgaben (pro Kopf)

Die Spielregel der spätmodernen kapitalistischen Verhältnisse

Die grundlegende Spielregel lautet: Das Kapital stellt an, lässt produzieren und den Mehrwert realisieren und beurteilt den Sinn der Wertproduktion nach ihrer Rendite. Wert ist und „Wert“ hat, was sich am Markt verwerten lässt, d.h. in Geld und dann in Kapital verwandeln lässt.

Waren, deren (Mehr-)Wert nicht realisiert werden kann, werden zu wert-losem Abfall, dessen Beseitigung sogar noch Geld kostet und den Profit schmälert.

Die Kernzahl des gesellschaftlichen und betrieblichen Wirtschaften ist die Kapitalrendite. Sie entscheidet, ob ein Produkt sinn-voll ist oder nicht. Alles andere zählt nicht.

Beispiele

(1) [betriebswirtschaftlich]

Ein Bäcker, der ein Brot backt, das verkauft wird, leistet sinn-volle und wert-volle Arbeit 

Ein Bäcker, der ein Brot backt, das nicht verkauft wird, leistet sinn-volle, aber wert-lose, ja sogar kostenverursachende Arbeit (die in der betrieblichen Kostenrechnung aber verschwindet, wenn ein Profit erwirtschaftet wird) 

(2) [gesellschaftlich / volkswirtschaftlich]

Eine Mutter, die vier eigene Kinder, ein Pflegekind und zehn weitere Kinder erzogen und großgezogen hat, leistet anfangs wert-lose Arbeit. Die Mutter-Arbeit wird erst dann wert-voll, wenn ihre Kinder als (Lohn-)Arbeitende eine Wertschöpfung hervorbringen, die größer ist als die Kosten ihrer Geburt und Erziehung. Bleiben ihre Kinder ausserhalb der Wertschöpfungskette, gilt die Mutter-Arbeit ist sinn- und wert-los, ja sogar als ärgerliche Verschwendung von Ressourcen. 

Konkurrenz zwischen Sinn und Wert:
Was steht in der gesellschaftlichen Beurteilung höher?

In spätmodernen kapitalistischen Verhältnissen wird sinnvolle Arbeit gleichgesetzt mit wert-voller Arbeit. Umgekehrt wird jede wert-lose Arbeit auch als sinn-lose Arbeit beurteilt.

Arbeit wird also nur dann gesellschaftlich anerkannt, wenn sie sinn-voll, d.h. wert-voll ist. Arbeit, die ehrenamtlich geleistet wird, gilt als „Hobby“ und generiert bestenfalls ein anerkennendes Schulterklopfen. Das dürfte der tiefere Grund sein, warum in Deutschland pro Kopf und Tag nur 7 Minuten ehrenamtlich gearbeitet wird. 

Vorbote Immigrationssteuerung 

Die politischen Auswirkungen der gesellschaftlichen Kostenrechnung zeigen sich zuerst beim Thema Immigration. Erwünscht ist, wer die Wertschöpfung des Standorts Deutschland steigert. Unerwünscht ist, wer dem Standort zur Last fällt.

An den EinwanderInnen wird vorweggenommen, was später den eigenen BürgerInnen widerfahren wird: Eine wertschöpfungsbezogene Nützlichkeitsprüfung, bezogen auf die Erfordernisse des Standorts Deutschland.

Wie viele sind erwerbslos? 

Die Wirkung der gesellschaftlichen Kostenrechnung zeigt sich in der Bestimmung derer, die anspruchsberechtigt sind. Der § 1 des SGB II lautet: 

„(1) Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll es Leistungsberechtigten ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht.

(2) Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll die Eigenverantwortung von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten und Personen, die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, stärken und dazu beitragen, dass sie ihren Lebensunterhalt unabhängig von der Grundsicherung aus eigenen Mitteln und Kräften bestreiten können. Sie soll erwerbsfähige Leistungsberechtigte bei der Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit unterstützen und den Lebensunterhalt sichern, soweit sie ihn nicht auf andere Weise bestreiten können. […]“

Anspruchsberechtigt sind somit nur Arbeitsuchende, die der Wille zu einem Leben aus eigener Kraft treibt. Dieser Wille kann sich als Wille zur Lohnarbeit, aber auch zur freiberuflichen und selbstständigen Arbeit äussern. Das Leben aus eigener Kraft bedeutet, auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich zu sein, der als einziger zählt: der „erste“ Arbeitsmarkt, der den Wertschöpfungsprozess bedient. Alle anderen Arbeitsmärkte sind nur sinn-voll, wenn sie auf den ersten Arbeitsmarkt führen. Das zeigt sich schon im Namen „Öffentlicher Beschäftigungssektor (ÖBS). Es geht um „Beschäftigung“, nicht um Arbeit. 

In der Regel wird übersehen, dass derjenige nicht anspruchsberechtigt ist, der sich mit seiner Arbeitslosigkeit abfindet, sich in ihr „einrichtet“ oder sogar in ihr „glücklich“ ist. Zu befürchten ist, dass mittelfristig diese Rechtsnorm buchstabengetreu durchgesetzt wird. Das führt zum Ausschluss aller BezieherInnen, die nicht der Wille zur Arbeit treibt. Allein sicherheitspolitische (Kosten-)Überlegungen hemmen derzeit die Durchsetzung des §1 SGB II. 

Die Wirkung der gesellschaftlichen Kostenrechnung zeigt sich aber auch in der schieren statistischen Erfassung. Im Mai 2011 werden 4.700.00 Arbeitslosengeld II-BezieherInnen gezählt, davon gelten aber nur 42 % (= 1.974.00) als arbeitslos, 58 % hingegen als nicht arbeitslos!

Dazu kommen 775.000 Arbeitslosengeld I-BezieherInnen, wovon 87% (= 674.250) als arbeitslos gelten. 

Als nicht-arbeitslos gilt, wer Kinder bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres erzieht und wer einen Angehörigen pflegt. Mehr unter § 10 SGB 2: http://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbii/10.html

Und natürlich, wer in Maßnahmen arbeitet, als AufstockerIn arbeitet oder weitergebildet wird o.ä..

All diesen Tätigkeiten wird unterstellt, dass sie entweder zukünftig wertschöpfende Menschen hervorbringen oder die gesellschaftlichen Kosten der Pflege mindern oder das eigene „Humankapital“ soweit steigern, dass eine Integration in die Wertschöpfungskette möglich wird.

Nach der Logik des Wert-Denkens muss sich dieser „Werteinsatz“ allerdings mittelfristig „lohnen“. Falls er sich nicht lohnt, werden die Aufwendungen für diesen Bereich zurückgefahren 

Insgesamt erhalten also derzeit 5.400.00 Menschen Alg I oder Alg II. Dazu kommen noch 1.700.000 Familienangehörige als Sozialgeld-BezieherInnen.

Summa summarum: 7,1 Mio BezieherInnen.

Und dazu kommt noch die sog. stille Arbeitslosenreserve, also gemeldete Arbeitslose, die weder Alg I noch Alg II erhalten. 

Von den 7.100.000 AlgI und Alg II-BezieherInnen gelten aber nur 2.648.250 Menschen als arbeitslos.

Die Zahl der offenen Stelle wird auf über 800.000 geschätzt; offiziell sind 470.000 Stellen gemeldet.

Die Zahl der KurzarbeiterInnen liegt bei 122.000; auf dem Höhepunkt waren 1.443.000 Menschen in Kurzarbeit.

Frage: Warum aber können 800.000 Stellen nicht von 2.648.250 Arbeitslosen besetzt werden?

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Die Unverwendbaren – Über die Zusammensetzung des „Pools“ erwerbsloser (brachliegender) Arbeitskraft 

Derzeit werden 1,5 bis 1,8 Millionen Menschen als „unverwendbare Bevölkerung“ klassifiziert: “An denen prallen sowohl die Anreize als auch die Sanktionen des Aktivierungsbetriebs ab. Weiterbildungsangebote fangen immer wieder von vorne an. Beschäftigungsmaßnahmen bringen nichts in Gang. Leistungsabsenkungen haben eine definitive Grenze erreicht. Das Besteck des aktivierenden Sozialstaats greift ins Leere.“ – Ihre Mentalität wird so beschrieben: „Die nehmen sich die Kohle vom Amt, ohne sich auch einen Moment zu fragen, wo das Geld herkommt. Der Rechtsanspruch auf soziale Mindestsicherung wird von diesem Teil der Bevölkerung [= den Unverwendbaren, WR] als ein leistungsloses Einkommen für einen legitimen Lebensstil angesehen. Die Energie ist in erster Linie darauf gerichtet, den passenden Antrag für eine zustehende Unterstützung zu stellen. (Heinz Bude: Die Unverwendbaren. In: Der Tagesspiegel, 14.2.2011, S.12)  

40 % der Arbeitslosen haben keine Berufsausbildung. Hunderttausende haben keine Aussicht, weil sie ohne Berufsausbildung sind, zu alt, zu krank und wegen Sprachproblemen. 

540.000 Jugendlichen droht das soziale Abseits: Schulabbrecher, ohne Berufsabschluss, in Armut, Schulden, Sucht, psychische Probleme.

Jeder fünfte eines Schulentlassungsjahrgangs gilt mental-physisch als nicht ausbildungsfähig.

Wie viel kostet die Erwerbslosigkeit 

Die gesellschaftliche Kostenrechnung regiert auch die Frage, wie viel die Erwerbslosigkeit kostet. Die offiziellen Zahlen für 2007 lauten:

Alle Erwerbslosen kosten 68 Mia Euro (2004: 92 Mia Euro).

Ein Erwerbsloser kostete jährlich 17.900 Euro

Alg I (das waren damals 21 % der Arbeitslosen) kosten pro Kopf 22.700 Euro.

Alg II (das waren damals 64% der Arbeitslosen) kosten pro Kopf 18.300 Euro.

Arbeitslose ohne Leistungsbezug (das sind immerhin 15 % der Arbeitslosen) kosten 9.500 Euro pro Jahr (wg. Ausfall der Steuern und SV-Beiträge). 

Wer seine eigene Grundsicherung hochrechnet, kommt auf weit niedrigere Zahlen:

700 Euro Nettogrundsicherung monatlich ergeben jährlich nur 8.400 Euro.

Dazu kommen noch jährlich ca. 1.700 Euro Prämien für Kranken- und Pflegeversicherung sowie die Kosten der Rundfunkgebührenbefreiung, des Telekom-Sozialtarifs und sonstige Ermäßigungen.

Die realen Bruttokosten liegen also bei jährlich 10.000 bis 11.000 Euro pro AlgII-BezieherIn. 

Die Differenz ergibt sich durch die Art der Kostenrechnung. Man wertet nicht nur die Bruttozahlungen als Kosten, sondern auch den Ausfall von Einkommen- und Lohnsteuern, von Verbrauchssteuern und Sozialversicherungsbeiträgen (RV, KV, PflV).

Dieser Ausfall wird 2007 mit 33 Milliarden Euro beziffert und mit den 35 Milliarden Euro, die Alg I und Alg II brutto kosten auf 68 Milliarden Euro addiert.

In diesem Betrag waren damals 15 Milliarden Förderausgaben für eine „aktive Arbeitsmarktpolitik“ enthalten, die sich aus dem Ziel der Integration in den ersten Arbeitsmarkt legitimierten. 

Die Arbeitslosen werden also kostenmäßig so berechnet, als ob sie wertschöpfend arbeiten würden. Logischerweise werden sie gefördert, damit sie wieder wertschöpfend arbeiten können.  

Die Logik der Kostenrechnung kennt also nur Arbeitslose, die vorübergehend, aber bald nicht mehr Kostenfaktoren sind. Arbeitslose, die für immer Kostenfaktoren bleiben werden, sind „eigentlich“ nicht vorgesehen, was sich bald drastisch zeigen wird. 

Auskämmen (Ausleseverfaren) 

Logische Folge dieses Waltens der Kostenrechnung ist die Fokussierung aller Werteinsätze (Steuermittel) auf die „Auslese“ der noch „verwendbaren“ Arbeitslosen. Das geschieht durch die Unterscheidung zwischen potenziell wertschöpfender Arbeitskraft und „menschlichem Abfall“ (vgl. Zygmunt Bauman). 

Beispiel JobCenter und Betreuungsstufen. 

Die Jobcenter gehen seit langem dazu über, die Integrationsangebote zielgenauer einzusetzen. Dem dient das „Vier-Phasen-Modell der Integrationsarbeit“ vom April 2009, und das „System der Betreuungsstufen“.

Letzteres unterscheidet zuerst zwischen der Mehrheit der „Nichtaktivierungskunden“ gemäß §10 SGB II und der Minderheit der Aktivierungskunden.

Die Nichtaktivierungskunden werden zwar im Einzelfall einbezogen und auch unterstützt, aber im Mittelpunkt stehen die Aktivierungskunden, die je nach ihrer mental-physisch-beruflichen Integrationsfähigkeit in fünf Betreuungsstufen eingeteilt werden:

-         In die IF’ler, das sind Integrationsferne mit Betreuungs- und Hilfebedarf;

-         in IG’ler mit Stabilisierungsbedarf;

-         in IK’ler mit Förderbedarf;

-         in IN’ler Integrationsnahe und

-         in I’ler, das sind Integrierte, aber weiterhin Hilfebedüftige, also in der Regel AufstockerInnen. 

Wer Erwerbsminderungsrente beantragt oder sich auf den Ruhestand „übergangsorientiert“, fällt unter Nichtaktivierungskunde.  

Natürlich könnte man die Integrationsleistungen auch auf die „Integrationsfernen“ fokussieren (was auch geschah und vielleicht noch geschieht). Die Logik der Kostenrechnung verlangt aber das Gegenteil: die Konzentration der Mittel auf die „obersten“ Stufen der „Integrationsfähigen“. 

Es lohnt sich, den 1.4.2012 vorzumerken. Dann nämlich sollen die von Ursula Gertrud von der Leyen angestrebte „Leistungssteigerung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente“ zum Einsatz kommen. Geplant ist u.a.

-         der Wegfall der Qualifizierungszuschüsse  für unter 25jährige Berufslose;

-         der Wegfall des Bonus für Altbewerber;

-         der Wegfall der Ausbildungsvorbereitung durch Sozialpädagogen;

-         der Wegfall des Kombilohns 50+, die als  „Entgeltsicherung“ für 50+-Menschen wirkte.

-         Aber vor allem geht es um die möglichst schon im November 2011 geplante Kürzung der Existenzgründungszuschüsse; allein hier sollen 1 Mia Euro gekürzt werden. 

Die Logik der ersten vier Kürzung ist offensichtlich: Hier geht es um voraussichtlich „Unverwendbare“, deren Kostenlast vermindert werden soll.

Aber was soll die Kürzung der Existenzgründungszuschüsse. Meines Erachtens hilft eine weitere Zahl, dieses Vorhaben zu verstehen:

Von derzeit 125.000 selbständigen und freiberuflichen AufstockerInnen verdienen 85.000 nicht einmal 400 Euro pro Monat hinzu, ein hoher Prozentsatz sogar nur bis 200 Euro. Da schüttelt der Kostenrechner den Kopf und sagt: So geht das nicht! Für ihn fällt das unter „Sich-einrichten in der Abhängigkeit vom Jobcenter“. 

Ein Teil der „Nichtaktivierungskunden“ gemäß § 10 SGB II ärgert die Kostenrechner; z.B. die sog. „Hartz-IV-Mütter, insbesondere die 80.000 „Hartz-IV-Mütter“ mit jeweils zwei Kindern. Ein Kostenrechner wie Heinsohn errechnet hier 415.000 Euro steuerfinanzierte Kosten bis zu deren fünfzigsten Lebensjahr, was den Steuern von zwei Vollerwerbstätigen entsprechen soll (In: FAZ.NET, 25. Juni 2010). 

Workfare als Auslaufmodell 

Workfare ist ein Kunstwort aus Welfare und Work und meint das Prinzip: Du bekommst Wohlfahrtszahlungen und Grundsicherung nur gegen Arbeit! Dieses Prinzip „Arbeit gegen Grundsicherung“ gilt auch hierzulande, obschon es Hartz IV eher auf „weiche“ Art umsetzt.

Einer der größten Irrtümer der Hartz-IV-HasserInnen besteht nun darin, immer und überall Disziplinierung durch Zwangsarbeit zu entdecken. Manche sehen sich geradezu von Vermassnahmungen umstellt.

Aber genauso wie das Gehorsamssubjekt dem Leistungssubjekt weicht, und im selben Maße, wie auch der Erwerbslose zum Unternehmer seiner Beschäftigungsfähigkeit umgebaut wird, genauso schnell geht das Prinzip „Workfare“ zu Grunde. Und bald schon werden sich viele nach ABM, ÖBS-Jobs und auch nach Arbeitsgelegenheiten zurücksehnen. 

Warum? Schlicht und einfach, weil Workfare zu teuer ist, und weil leistungsunwillige Vermaßnahmte noch teurer sind, weil sie den Effekt der Maßnahmen behindern.

Aber selbst wenn AlgII-BezieherInnen ihre Grundsicherung im 30-Wochenstundtakt ohne Mehraufwandsentschädigung abarbeiten müssten, wäre allein schon das Vorhalten der Infrastruktur zu teuer; die kostet nämlich 250 Euro pro Kopf und Monat. Warum solche Kosten investieren, wenn nichts dabei herauskommt? 

Die Folgen sind jetzt schon:

- der endgültige Wegfall der ABM;

- die geplante Einschränkung der Arbeitsgelegenheiten durch Kürzung der Regiepauschale auf 150 Euro/Monat; man will dadurch Arbeitsgelegenheiten unattraktiv für Träger machen.

- die Einschränkung des ÖBS in Berlin und dessen geplante Umwandlung in billigere Bürgerarbeit.

Vielleicht bleibt langfristig so etwas wie jene Bürgerarbeit übrig, die auf freiwilliger Basis mit den leistungsfähigsten Arbeitsuchenden besetzt werden. 

Kosten des Unsicherheitsfaktors 

Bleibt das Problem der Kosten, die eben jene 20% eines Jahrgangs, die als „perspektivlose Jugendliche“ gelten, verursachen oder verursachen könnten. Oder das Problem perspektivloser älterer „Wuterwerbsloser“ oder das Kostenrisiko krimineller Erwerbslosen“karrieren“. 

Zur Veranschaulichung: Ein Platz in einem geschlossenen Heim für jugendliche Straftäter (z.B. Berlin, Tegel-Süd) kostet 130.000 Euro pro Jahr, also 365 Euro pro Tag. Ein Tag kostet kostet soviel wie ein monatlicher Regelsatz!

Ein Gefängnistag kostet im Bundesdurchschnitt ca. 100 Euro pro Tag (2008). Derzeit ist nicht absehbar, ob –parallel zum Abbau von Workfare-Maßnahmen- der Gefängnisbereich bzw. Bootcamps und ähnliche Einrichtungen aufgebaut werden. Letztlich werden die Kosten verglichen und dann entschieden. 

Auswege 

Die systemimmanenten Auswege abseits Workfare in Gestalt der Arbeitsgelegenheiten, Bürgerarbeit und ÖBS-Jobs sind schnell aufgezählt:  

- In der Uckermark wird z.B. ein Projekt „Hundert neue Leben“ aufgebaut; d.h.: 100 Menschen, die eine Idee für ein Leben aus eigener Kraft haben, bekommen die Möglichkeit, in einem Gebäude kostenlos Büros, Werkstätten o.ä. einzurichten; ausserdem werden Fahrtkosten erstatten. Die Chance währt zwei Jahre. Aber auch das funktioniert letztlich als Ausleseverfahren der „Leistungsfähigsten“. 

- Peter Grottian geht mit dem Modell „1 Million mal Hartz IV plus 500 Euro“ hausieren. Alle Alg-II-BezieherInnen sollen künftig 500 Euro Grundsicherung erhalten. Das kostet 22 Milliarden Euro. Eine Million hiervon sollen zusätzlich zweckbestimmt 500 Euro bekommen, um sich selbst einen Arbeitsplatz zu suchen. Genaueres wird nicht gesagt. Ich vermute, dass Grottian seinen „Arbeitsplatzkredit“ wieder belebt. Das kostet zusätzlich 6 Milliarden Euro, also weniger als derzeit die Arbeitsförderungs- und Integrationsmaßnahmen kosten. Auch dieses Modell ist letztlich ein Ausleseverfahren der Leistungsfähigsten. 

- Ab 1. Juli 2011 können erwachsene Erwerbslose im Rahmen des Bundesfreiwillendienstes arbeiten – und zwar mindestens 20 Stunden pro Woche, und zwar sechs, zwölf, maximal 24 Monate lang, und zwar für ein Taschengeld von maximal 330 Euro. Das Taschengeld wird gemäß Zuverdienstregelung abgerechnet. Mehr unter: http://www.bundes-freiwilligendienst.de/verdienst-gehalt-taschengeld-entgelt.html 

All das nützt nur einer Minderheit der „(Noch-)Leistungsfähigen“, nicht aber der großen Zahl der „Unverwendbaren“. 

Summa: Um dem Walten der Logik der Kostenrechnung Grenzen zu setzen, käme vielleicht eine „Gesetzliche Arbeits- und Stellengarantie“ in Frage; d.h.: Wer freiberuflich und selbständig arbeiten will, muss das können dürfen; wer lohnarbeiten will, hat Anspruch auf eine reguläre Stelle, auf der gesellschaftlich sinn-volle Arbeiten verrichtet werden. 

Systemüberwindende Auswege:

Nichtkapitalistische Gesellschaftsweisen zeichnen sich gerade dadurch aus, dass es ein „Erwerbslosenproblem“ nicht gibt, weil über das Instrument der Arbeitszeitverkürzungen die Gesamtmenge der gesellschaftlich notwendigen Produktion- und Reproduktionsarbeit auf alle verteilt werden kann.

Darüberhinaus wird es bezahlte Arbeit und Stellen in Hülle und Fülle geben; allein die Aufräumarbeiten der Schäden kapitalistischer Produktionsweise werden die Arbeitskraft mehrerer Generationen in Anspruch nehmen.

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Aus dem Vortrag in der LUNTE vom 20.6. 2011
ergeben sich hinsichtlich der Integrationsleistungen des SGB III und SGB II folgende Tages-Forderungen:
 

(1) Verteidigung und Erweiterung des Umfangs der Integrationsleistungen; insbesondere Verteidigung und Erweiterung der Arbeitsmarktförderung. 

Verbesserung heisst Fokussierung der Fördermittel auf Arbeitsuchende,

-         die sich weiterbilden wollen;

-         die sich für den Lohnarbeitsmarkt qualifizieren wollen;

-         die Gemeinwohlarbeit in Arbeitsgelegenheiten oder in ÖBS-Stellen oder ÖBS-ähnlichen Stellen leisten wollen;

-         die als Selbständige, FreiberuflerInnen, als Kleingewerbetreibende und KleinhändlerInnen arbeiten wollen.

Der Förderungsgrundsatz muss lauten: Wer arbeiten will, muss in einer der obigen Formen arbeiten können! 

(2) Verbesserung der Zuverdienstregelung für prekär-arbeitende LohnarbeiterInnen, TagelöhnerInnen, prekär-arbeitende FreiberuflerInnen, KünstlerInnen, Selbständige, KleinhändlerInnen, Kleingewerbetreibende, PraktikantInnen usw. wie folgt:

-         Beibehaltung des Freibetrags von 100 Euro

-         Jeder über 100 Euro verdiente Euro bleibt zur Hälfte bei den Arbeitenden und wird zur Hälfte mit dem Arbeitslosengeld verrechnet. 

(3) Verstärkung der Kontrolle der Träger von Gemeinwohlarbeit unter dem Gesichtspunkt der Verhinderung von Selbstbereicherung und der Sicherstellung qualifizierter Ausbildung und gesellschaftlich sinn-voller Arbeit (Good Workfare). 

(4) Wer aber weder freiberuflich noch selbständig noch in Lohnarbeit oder in Gemeinwohlarbeit am gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozess teilnehmen will, soll vom Genuß der Integrations- und Arbeitsmarktförderungsleistungen freigestellt und in Ruhe gelassen werden. 

[Dazu kämen noch Forderungen, die auf die Verbesserung der Rechtsstellung zielen, insbesondere die Abschaffung der Bedarfsgemeinschaft und das Recht auf Wohnung (statt Unterkunft) u.v.m.]

Editorische Hinweise

Der Vortrag wurde  von Wolfgang Ratzel, Autonomes Seminar, in der „Lunte“ am 20. Juni 2011 gehalten. Den Text besorgte Anne Seeck.