Schule der Muße
Kursorisches zu Brigitte Picks Buch "Kaktusküsse"


von Karl-Heinz Schubert

7-8/11

trend
onlinezeitung

Im Juni 2011 erschien im VSA-Verlag nun das zweite Buch von Brigitte Pick, der ehemaligen Schulleiterin der Rütli-Schule in Berlin- Neukölln. Bereits mit ihrem 2007 veröffentlichten Buch über Schule und Gesellschaft hatte sie deutlich gemacht, dass sie gesellschaftliche Verhältnisse aus der sozialen Perspektive von Betroffenen - nämlich SchülerInnen und Eltern am Rande der Gesellschaft - schildern will, um ihnen "ein Gesicht zu geben". Diese Parteilichkeit bestimmt auch ihr neues Buch. Dort heißt es im Vorwort:

"Mit diesem Buch ergreife ich Partei für die "Überflüssigen", versuche zu verstehen und denen eine Stimme zu geben, die keine haben." (S.15)

Erzählstark und facettenreich gewährt Brigitte Pick den LeserInnen Einblicke in gesellschaftliche Verhältnisse, die derzeit von Sarrazin und Konsorten als Projektionsfläche auserkoren wurden, um den alltäglichen Rassismus als eine argumentative Fassade zu pflegen, hinter der die wirtschaftlichen Umverteilungen zu Gunsten des mit Krisen behafteten Kapitals und auf Kosten der LohnarbeiterInnenklasse erfolgen.

Als eine in ihrem Berufsleben immer in Reformprojekten engagierte Lehrerin ist für die Autorin die Schule selbstverständlich nicht nur Ausgangspunkt sondern auch Blickwinkel für ihre gesellschaftspolitischen Betrachtungen. Mit Bitterkeit formuliert sie in dem Abschnitt "Eine Gesellschaft im Anerkennungswahn" über den Zustand der heutigen Staatsschule in der BRD:

"In der Lernkonkurrenz eignen sich die Schüler das Rüstzeug für die anschließende Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt an. Sie lernen, dass sie nicht zu den Verlierern gehören, wenn sie andere zu Verlierern machen, sie anschwärzen, Neid und Missgunst säen, dem »Schein« den Vorrang vor dem »Sein« geben. Schüler ergänzen heute diese Leistungskonkurrenz mit der Anerkennungskonkurrenz. ...  Die Erwachsenenwelt lebt das vor - in teilweise bizarren Formen." (S.48)

Solche und andere Einschätzungen stützen sich bei Brigitte Pick nicht nur auf eigene Erfahrungen, sondern auch auf einen ausführlichen Fußnotenapparat. Durch diese Darstellungsweise werden gleichsam Finger in gesellschaftliche Wunden gelegt und die LeserInnen motiviert - (vielleicht) liebgewonnene  - Sichtweisen zu revidieren. So - wenn Brigitte Pick zum Beispiel über Schule und Integration schlussfolgert:

"Die Diktatur der Integration ist mittlerweile so stark vorangetrieben worden, dass auch MigrantInnen selbst mitmachen und von Staat und Regierung auch durch bestimmte Integrationsprogramme zum Mitmachen motiviert werden." (S.85)

Eine der stärksten Abschnitte in Brigitte Picks Buch ist zweifellos jener über die Armutsindustrie, der mit dem provokanten Satz endet: "Die Armutsindustrie macht reich, fragt sich nur wen." (S.79)

Insgesamt liegt die Stärke des Buches darin, dass die Autorin gezielt mit so genannten Gewissheiten aufräumt, wie etwa mit dieser:

"Jedoch sind die Werte von damals, die Lehrer und andere heute reklamieren, nichts mehr wert. In rückeilendem Gehorsam findet man nun die Zeiten schön, als alles noch parierte (wozu das gut war, fragt allerdings auch keiner mehr), als man noch fühlte, ein Lehrer zu sein. Nun funktionieren Diktate nicht mehr, und das ist sehr beunruhigend." (S.107)

Auf den ersten Blick ist die Anordnung der einzelnen Textabschnitte zu einander ein wenig verwirrend . Doch beim Lesen dieses patchworkartigen Ensembles wird bald deutlich, dass es dort sehr wohl einen "roten Faden" gibt, der alle Teile verbindet. Die LeserInnen finden ihn komprimiert im letzten Abschnitt "Schule und Muße" (S. 190). Es handelt sich gleichsam um eine Präambel  für die zuvor von der Autorin gelisteten "Thesen über Schule und Gewalt" (S. 188f).

In dieser "Präambel" - die eigentlich ein Epilog ist - fragt Brigitte Pick, ob die Schule nicht ein Ort der Muße sein könne, wo den SchülerInnen die Zeit gelassen wird, "die sie zum Lernen individuell brauchen", und wo über Zusammenhänge aufgeklärt wird, damit sich "gesellschaftlich etwas bewegen" kann. In jenen Skizzierungen drückt sich der Wunsch der Autorin nach einer anderen Schule als der BRD-Staatsschule aus. Leider endet das Buch an dieser Stelle, nachdem es die LeserInnen zu diesem Punkt geführt hat. Allerdings lässt sich durch die vorstehenden Thesen  in etwa erahnen, welche gesellschaftlichen Strukturen grundlegend verändert werden müssen, um solch eine "Schule der Muße" möglich zu machen: "

"Schule ist heute eine Stätte ideologischer Indoktrination und eine doppelte Konkurrenzveranstaltung. Sie besteht aus einer dauerhaften Lernkonkurrenz, in der Lehrer über zukünftige Lebenschancen junger Menschen befinden. Schüler satteln ihre Konkurrenz um Anerkennung drauf, die manchen wichtiger ist als die gute Zensur. Nicht selten deshalb, weil sie mit ihrer Perspektive ohnehin schon abgeschlossen haben, da sie der Konkurrenz nicht standhalten. Neu ist das nicht, aber heftiger wird es. Gewalt hat Anlässe, Gründe, Ursachen. Die Entstehung antagonistischer Interessen hat immer mit Herrschaft, Eigentum und Konkurrenz zu tun.....Auch Lehrer erleiden Niederlagen und gestehen die sich nicht gerne ein. Wer gehört schon gern zu den Versagern? Disziplinlosigkeit und schlechte Unterrichtsergebnisse sind solche Niederlagen. Die Begründung wird dann eilfertig bei den dummen Schülern, den erziehungsunfähigen Eltern gesucht und nicht im System der Schule selber. Das führt schon mal zu Zynismus und Gewalttätigkeit, liegt doch die Erziehungsgewalt - vom Staat delegiert - auch in der Schule." (Unterstreichungen von khs)

Brigitte Pick
Kaktusküsse
Wer ÜBERFLÜSSIGE in der Schule aussortiert, darf sich über HARTZ IV nicht beklagen
184 Seiten   (2011)
EUR 14.80   sFr 0.00
ISBN 978-3-89965-450-9


VSA-Verlag