Aufstand der Ausgestoßenen
Umfassende Marginalisierung, drakonische Sozialkürzungen, Perspektivlosigkeit und allgegenwärtiger Rassismus trugen zur der blindwütigen Gewaltexplosion der vergangenen Tage in Großbritannien bei.

von Tomasz Konicz

7-8/11

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Nachdem eine massive landesweite Polizeimobilisierung und nächtlicher Dauerregen den tagelangen Ausschreitungen und Plünderungen in mehreren britischen Städten ein vorläufiges Ende setzen, ging Ministerpräsident David Cameron daran, seine Schlussfolgerungsweisen aus den schwersten Unruhen zu ziehen, die Großbritannien seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts erschütterten. Der konservative Regierungschef kündigte eine Politik der harten Hand gegenüber den marginalisierten Bevölkerungsschichten in den Ghettos Großbritanniens an, die mit einen „Gegenschlag“ eingeleitet würde. Zudem sollen die Sicherheitskräfte künftig mit Wasserwerfern und Plastikgeschossen ausgestattet werden. „Teile unserer Gesellschaft sind nicht einfach nur kaputt, sondern krank,“ dozierte Cameron am vergangenen Mittwoch.
Zu den Ursachen dieser „Krankheit“ äußerte sich der als Hardliner posierende Cameron lieber nicht, denn sonst müsste seine bisherige Regierungspolitik einer kritischen Analyse unterzogen werden. Die Regierung Cameron hat kurz nach ihrem Amtsantritt eines der schwersten Austeritätsprogramme der britischen Geschichte beschlossen, das Haushaltseinsparungen in Höhe von 83 Milliarden Pfund  bis 2015 realisieren soll. Ein großer Teil der Ausgabenkürzungen bei diesem gigantischen Sparprogramm, mit dem das britische Haushaltsdefizit von mehr als zehn Prozent des BIP in 2010 abgebaut werden soll, entfällt auf den Sozialsektor.

Die tiefen Einschnitte bei den Sozialausgaben - bei denen unter Anderem die Aufwendungen für Kindergeld, Jugendförderung oder Wohnzuschüsse gekürzt wurden - treffen die verarmten und unter hoher Arbeitslosigkeit leidenden Stadtteile und Regionen besonders hart: „Es wird Unruhen geben“, warnte ein Jugendlicher aus Tottenham gegenüber dem britischen Guardian schon im vergangenen Juli, nachdem nahezu alle Jugendclubs in dem Stadtteil aus Geldmangel geschlossen wurden. Von dem rabiaten Kahlschlag im Öffentlichen Dienst, dem binnen der nächsten vier Jahre mehr als 400.000 Arbeitsplätze zum Opfer fallen sollen, sind landesweit Jungendhilfsprojekte überdurchschnittlich hart betroffen, führte der Gewerkschaftler Kerry Jenkins aus: „Jede vierte Jugendeinrichtung (youth service) in England sieht sich mit katastrophalen Kürzungen zwischen 21 bis 30 Prozent konfrontiert.“ Dies sei dreimal so hoch wie des allgemeine Kürzungsniveau im Kommunalbereich. An die 3.000 Jugendbetreuer werden ihre Arbeitsplätze verlieren.
Es fehlte auch nicht an Warnungen vor einer Gewaltexplosion. Noch am 2. August mahnte der Kriminologe John Pitts, der Kommunen bei Gewaltprävention berät, dass die Kürzungen zu einer Zunahme gewalttätiger Straftaten in „diesem Sommer“ führen werden. Der Vorsitzende des britischen „Nationalen Kinderbüros“, Sir Paul Ennals, prognostizierte, dass die Kombination aus grassierender Arbeitslosigkeit und Sozialkürzungen die Bindungen der marginalisierten Jugendlichen an ihre Stadtviertel „lösen“, und zu einer grundlegenden „Entfremdung“ führen werde. „Da Draußen ist eine Generation ohne Hoffnung, ohne Aspirationen,“ erläuterte die in Tottenham lebende Lara Oyedel unter Verwies auf die grassierende Jungendarbeitslosigkeit in diesem Ghetto gegenüber Medienvertretern: „Diese Gesellschaft brütet eine ganze Generation von jungen Menschen aus, die nicht mehr erwarten können, irgendetwas produktives in ihrem Leben erreichen zu können.“

Die jugendlichen in den Ghettos Großbritanniens, deren Vorfahren zumeist aus den Kolonien des ehemaligen Empire stammen, sind aufgrund der Wechselwirrung von anhaltender Konjunkturflaute, Sozialkahlschlag und Rassismus tatsächlich am stärksten von der Krise betroffen. Die Jugendarbeitslosigkeit in Großbritannien ist von 12,2 Prozent in 2000 auf knapp 20 Prozent in 2010 angestiegen. Die einer ethnischen Minderheit zugehörenden Bürger Großbritanniens bilden auch den größten Teil der britischen Unterschicht. In London etwa gehören rund 70 Prozent der in „Einkommensarmut“ lebenden Menschen ethnischen Minderheiten an. In vielen verarmten Bezirken, in denen sich die Ausgegrenzten des kreiselnden britischen Kapitalismus konzentrieren, lebt rund ein Drittel der Bevölkerung von den Sozialtransfers, die nun gekürzt werden.

Die weitverbreitete Plünderungen bei den jüngsten Unruhen führte auch der Kriminologe Pitts auf die „soziale Exklusion“ der überwiegend jugendlichen Täter zurück, die von frühesten Alter an mit „Werbung bombardiert“ würden. Es einen „junge Menschen, die nichts zu verlieren haben.“ Hoffnung auf irgendeine Art von sozialen Aufstieg können sich diese marginalisierten Jugendlichen kaum machen, da laut einer OECD-Studie von 2010 Großbritannien die niedrigste soziale Mobilitätsrate aller Industrienationen aufweise. Die immer noch von Standesdünkel durchsetzte britische Gesellschaft weist auch insbesondere in der Hauptstadt eine krasse soziale Spaltung auf, bei der die Bewohner der Hochhausghettos in Sichtweite der gläsernen Banktürme des Londoner Finanzdistrikts leben. Die Reichsten zehn Prozent der Einwohner Londons besitzen 275 Mal mehr Vermögen als das ärmste Zehntel. In ganz Großbritannien erreicht dieser Gradmesser der sozialen Spaltung den Faktor 100.

Das Anwachsen einer ghettoisierten Klasse der „Ausgestoßenen“ steht auch im Zusammenhang mit einer schleichenden Deindustrialisierung, die den Anteil der warenproduzierenden Industrie an dem BIP Großbritanniens auf 16 Prozent sinken ließ, was in etwa dem Niveau der südeuropäischen Krisenländer Griechenland und Spanien entspricht. Bis zum Ausbruch der Finanzkrise konnte der dominierende britische Finanzsektor durch die Generierung einer schuldenfinanzierten Defizitkonjunktur die Wirtschaft des Vereinigten Königreichs anheizen, doch mit den nun eingeleiteten Haushaltskürzungen scheint der konjunkturelle Abwärtssog weiter zuzunehmen: Die Anzahl offiziell registrierter Arbeitsloser soll Prognosen zufolge noch in diesem Jahr von 2,5 auf 2,7 Millionen anwachsen, während die Bank of England am vergangenen Mittwoch ihre Wachstumsprognose für 2011 von 1,75 auf magere 1,4 Prozent reduzieren musste. Die britische Regierung zieht übrigens ihre ganz eigenen Konsequenzen aus diesen trüben Aussichten und erwägt, zumindest bei den Polizeikräften auf Sparmaßnahmen zu verzichten.

Editorische Hinweise

Den Text erschien am 12.8.2011 bei Indymedia, von wo wir spiegelten. Weitere Artikel mit Schwerpunkt Osteuropa gibt es auf der Seite des Autors: http://www.konicz.info