Vorwort zur zweiten Auflage
Als vor vierzehn Jahren der dreihundertste
Geburtstag des schwedischen Königs Gustav Adolf die
herrschenden Klassen in Deutschland zu feurigen
Hymnen auf diesen Verheerer und Verwüster des
deutschen Landes begeisterte, während dieselben
Klassen zugleich ein heiseres Geschrei nach
Ausnahmegesetzen gegen die Arbeiterklasse
anstimmten, glaubte ich der historischen Wahrheit
durch diese kleine Schrift einigermaßen zu ihrem
Rechte verhelfen zu sollen. Sie wurde damals in
einigen dreißigtausend Exemplaren verbreitet, ist
aber seit längerer Zeit aus dem Buchhandel
verschwunden, so dass die Verlagsbuchhandlung, da
sich in letzter Zeit wieder vielfache Nachfrage
nach ihr bekundet hat, einen neuen Druck für
angezeigt hält.
Die äußeren Anlässe, die sie ihrerzeit ins Leben
gerufen haben, fallen heute fort, und so lag die
Frage nahe, ob ich die Spuren ihres Ursprungs ganz
beseitigen und sie zu einer ausführlichen
Geschichte des Dreißigjährigen Krieges erweitern
sollte. Allein nach reiflicher Überlegung habe ich
diese Frage verneinen zu sollen geglaubt. Ohne
Zweifel hat der Dreißigjährige Krieg ein lebhaftes
Interesse für die Arbeiterklasse als der endgültige
Abschluss der deutschen Revolution, die in dem
großen Bauernkriege ihren Gipfel erreichte, aber
gerade deshalb scheint es mir nützlicher zu sein,
die historischen Zusammenhänge zwischen den Jahren
1525 und 1648 in ihren großen Grundzügen darzulegen
und damit das innere Geflecht der ganzen Tragödie
aufzudecken, als eingehend ihren letzten Akt zu
schildern; zumal da die furchtbare Katastrophe
dieses letzten Aktes als solche zwar erschütternd
und lehrreich, aber in ihren grauenvollen
Einzelheiten eintönig ist, namentlich nachdem
Gustav Adolf und Wallenstein von der historischen
Bühne abgetreten sind.
Wenn meine Schrift bei ihrem ersten Erscheinen auch
gegen die damals geplante Umsturzvorlage mit
gerichtet war, so wurde sie vom Ersten Staatsanwalt
in Potsdam zu einem Versuchskaninchen eben für die
Schärfe der reaktionären Waffen ausersehen, die
gegen das Proletariat geschmiedet werden sollten.
Er klagte das Brandenburger Parteiblatt wegen
Verstoßes gegen Paragraph 131 des Strafgesetzbuches
an, weil es einige meiner Sätze abgedruckt hatte,
worin von den Hohenzollern nachgewiesen worden war,
dass sie die „reine Lehre" als Vorwand benützt
hätten, um Kirchengüter einzusacken. Nach Paragraph
131 soll mit Geld- oder Gefängnisstrafe bis zu zwei
Jahren bestraft werden, „wer erdichtete oder
entstellte Tatsachen, wissend, dass sie erdichtet
oder entstellt sind, öffentlich behauptet oder
verbreitet, um dadurch Staatseinrichtungen oder
Anordnungen der Obrigkeit verächtlich zu machen".
Der Erste Staatsanwalt in Potsdam behauptete, der
Verstoß des Angeklagten gegen diesen Paragraphen
sei sonnenklar. Die Tendenz der Sozialdemokratie
gehe dahin, die Monarchie abzuschaffen; nun werfe
die Tatsache, dass tote Hohenzollern unter
religiösen Vorwänden Kirchenraub betrieben hätten,
ein schlechtes Licht auf die lebenden Hohenzollern,
also habe der Angeklagte die Staatseinrichtung der
Monarchie verächtlich machen wollen. Die Tatsache
selbst aber sei erdichtet oder entstellt, was ein
vom Staatsanwalt geladener Sachverständiger eidlich
erhärten werde. Dieser Sachverständige, ein
Professor Heidemann vom Grauen Kloster in Berlin,
bekam es in der Tat fertig, unter seinem Eide zu
versichern, es sei bei der Heimramschung der
märkischen Kirchengüter durch Joachim II.
vollkommen ehrlich und sauber zugegangen.
So schien die Sache für den Angeklagten, den
verantwortlichen Redakteur der Brandenburger
Zeitung, dem der hochverräterische Ernst des Falles
durch hochnotpeinliche Haussuchungen in der
Redaktion und in seiner Privatwohnung eingeprägt
worden war, um so schlimmer zu stehen, als sich in
der alten Kur- und Hauptstadt Brandenburg kein
Rechtsanwalt gefunden hatte, der anders als auf
„mangelhafte Bildung" des Angeklagten hin plädieren
wollte. Im letzten Augenblick übernahm dann aber
noch ein Justizrat aus Potsdam die Verteidigung,
ein älterer Herr aus jenen glücklichen Zeiten, wo
die bürgerliche Bildung noch eine Tatsache und
nicht eine Phrase war. Er warnte den Gerichtshof,
sich durch eine Entscheidung über historische
Fragen bloßzustellen, über die ihm weder formell
noch materiell ein Urteil zustände, und zerzauste
unbarmherzig das sogenannte Gutachten des
sogenannten Sachverständigen. So sprach die
Strafkammer den Angeklagten frei, „da sie aus dem
Gutachten den Eindruck gewonnen habe, dass die
Forschungen über diese historischen Fragen noch
nicht abgeschlossen seien, übrigens aber auch dann
nicht gegen den Paragraphen 131 verstoßen worden
sei, wenn der Sachverständige die reine historische
Wahrheit bekannt hätte". Seitdem hat bekanntlich
die Leipziger Justiz den für das Ansehen der
deutschen Rechtspflege entschieden notwendigen
Fortschritt gemacht zu erkennen, dass historisch
unanfechtbare, aber moralisch unerfreuliche
Tatsachen über tote Majestäten auszusprechen eine
Majestätsbeleidigung ihrer Nachfahren sei.
Einen harmloseren, jedoch nicht geistreicheren
Angriff auf meine Schrift unternahm gleichzeitig
ein ehrwürdiger Geistlicher der Landeskirche, der
in irgendeinem Kirchen- oder Kreisblatt eine
endlose Artikelreihe gegen sie veröffentlichte und
das alte Geschwätz über den „Glaubenshelden" Gustav
Adolf, der nach Deutschland gekommen sei, um die
protestantische Religion zu retten, dadurch zu
beweisen suchte, dass er es zum zehntausendsten
Male breittrat. Dem Amsterdamer Professor Kernkamp
hatte es wieder die historisch-materialistische
Methode angetan, die er 1901 in seiner
Antrittsrede: „Over de materialistische Opvattung
van de Geschiedenis" an meiner Schrift zu
widerlegen suchte; ich habe mich darüber in der
„Nieuwe Tijd", dem Wochenblatt unserer
holländischen Genossen, gern mit ihm
auseinandergesetzt, doch sind seine Einwände den
deutschen Lesern zu geläufig, als dass ich hier
nochmals dabei zu verweilen brauchte.
In Deutschland hat sich die bürgerliche Kritik,
soweit sie ernsthaft sein wollte, namentlich daran
gestoßen, dass ich aus Wallenstein einen
„nationalen Helden" hätte machen wollen. Ohne ein
bissele Falschheit geht es auch dabei nicht ab; ich
hatte mich ausdrücklich dagegen verwahrt, einen
„nationalen Helden" im landläufig-modernen Sinn des
Wortes gemeint zu haben, durch die Einschränkung:
„soweit ein nationaler Held in der damaligen Zeit
überhaupt möglich war". Ich vermag mich auch jetzt
nicht mit der landläufigen Weisheit der
bürgerlichen Geschichtschreibung abzufinden, wonach
Wallenstein ein „heimatloser Kondottiere", ein
„historischer Abenteurer" gewesen sein soll.
Wallenstein hat für Deutschland dasselbe erstrebt,
was gleichzeitig Richelieu für Frankreich
erreichte: die Begründung der absoluten Monarchie
auf nationalem Boden als einer weltlichen Einheit,
die über den kirchlichen Gegensätzen stand. Man
muss auch hier den Mann nach den Dingen, nicht aber
die Dinge nach dem Mann beurteilen. Wallenstein war
kein Abenteurer und Phantast, der mit großen Dingen
nur zu spielen wusste, sondern weil die großen
Dinge, die er in tief geschöpften und weit
gefassten Plänen verfolgte, in Deutschland
unmöglich waren, geriet er in eine abenteuerliche
und phantastische Politik, die ihn in einen
tragischen Untergang verstrickte.
Richelieu war so wenig eine ideale Gestalt wie
Wallenstein, und als „Verräter" im Sinne der
loyalen Geschichtsschreibung konnte er sich mit
diesem reichlich messen. Er hielt wie Wallenstein
einen prächtigen Hof und besoldete auch eine eigene
Leibgarde, an deren Spitze er vor dem Könige
erschien. Freilich war sein Angestammter ein viel
trübseligeres Individuum als der Angestammte
Wallensteins, allein dafür hatte Richelieu an der
energischen Mutter des schwachköpfigen Königs eine
um so grimmigere Gegnerin, und die Beichtväter des
Pariser Hofes intrigierten gegen ihn nicht minder
als die Beichtväter des Wiener Hofes gegen
Wallenstein. Auch war Richelieu wie Wallenstein
trotz seiner priesterlichen Würde Generalissimus
des Heeres, das er im Harnisch und mit den Pistolen
im Halfter anführte, nach seinem Willen und nicht
nach dem Willen des Königs. Wenn aber dennoch die
beiden Männer ein so verschiedenes Schicksal
hatten, so aus dem Grunde, dass Richelieu eine halb
schon vollendete, tief in den ökonomischen
Verhältnissen Frankreichs wurzelnde Zentralisation
nur abzuschließen brauchte, während Wallenstein
eine halb schon vollendete, tief in den
ökonomischen Verhältnissen Deutschlands wurzelnde
Dezentralisation nicht mehr rückgängig machen
konnte.
Bis zu einem gewissen Grade hängt damit ein anderer
Tadel zusammen, der mir auch von befreundeter Seite
gemacht worden ist, dass ich nämlich den
Protestantismus gegenüber dem Katholizismus mit all
zu düsteren Farben gemalt haben soll. Ich will
nicht unbedingt die Grundlosigkeit dieses Tadels
behaupten; wenn man in rein protestantischen
Gegenden aufgewachsen und in protestantischen
Schulen erzogen worden ist, so urteilt man, sobald
man zur Einsicht in diese religiösen Gegensätze
gelangt, leicht milder über die Schläge, die man
nicht selbst gefühlt hat. Insoweit ist es auch wohl
kein Zufall, dass diejenigen Parteigenossen, die
mir eine zu große Voreingenommenheit gegen den
Protestantismus vorwerfen, in rein katholischen
Gegenden aufgewachsen und in katholischen Schulen
erzogen worden sind, also ihrerseits vielleicht zu
günstig über den Protestantismus urteilen. Indessen
will ich mich gegen diesen Vorwurf nicht lange
sträuben, zumal da das Lob der Gegner mich noch
mehr überzeugt als der Tadel der Freunde: Mein
Schriftchen ist von den österreichischen
Ultramontanen verbreitet worden, um damit die
Los-von-Rom-Bewegung zu bekämpfen, ein Erfolg, den
ich nicht erstrebt habe und den ich lebhaft
bedaure, und ich habe gern die Sünden der
katholischen Gegenreformation in diesem neuen
Drucke mit einigen kräftigeren Strichen
hervorgehoben.
Im Wesen der Sache freilich kann ich meine
Auffassung nicht ändern. Der Protestantismus ist
einst in die Geschichte getreten als die religiöse
Verkleidung einer bürgerlichen und selbst schon
plebejischen Revolution; insofern bedeutete er
zweifellos einen historischen Fortschritt, den zu
verdunkeln oder zu verkleinern ungerecht und unklug
sein würde. Aber er war eben nur der ideologische
Überbau einer ökonomischen Entwicklung, die sich in
der mannigfaltigsten Weise vollzog, nicht ohne arge
Rückschläge und Rückschritte, und dementsprechend
auch ihre Gedankenwelt umgestaltete. Umgekehrt
bewährte der Katholizismus sein alt erprobtes
Geschick, sich den verschiedensten ökonomischen
Zuständen anzupassen und auch historisch
fortschreitenden Entwicklungen das Gedankenmaterial
zu liefern, dessen sie bedurften. Um diese
jahrhundertelangen Kampfe zu verstehen, kommt man
nicht mit der kahlen Schablone aus: Hie
Katholizismus! Hie Protestantismus! Es genügt
nicht, den einen oder den anderen zu loben oder zu
tadeln, sondern man muss nach dem spinozistischen
Wort den einen und den anderen zu verstehen suchen,
und ebendarum habe ich mich in meiner Schrift
bemüht. Das mag mir nur in mehr oder minder
bescheidenem Maße gelungen sein, allein die Methode
halte ich nach wie vor für richtig, und ich kann
nicht zustimmen, wenn einer meiner
sozialdemokratischen Kritiker, Genosse Hugo Schulz
in Wien, in seinem trefflichen und höchst
lesenswerten Werke: Blut und Eisen, sich gerade bei
der Darstellung des Dreißigjährigen Krieges in
Ausführungen darüber ergeht, dass der
Protestantismus zweifellos Elemente der Freiheit in
sich berge, die dem Katholizismus völlig abgingen;
die Bildungstendenzen des Protestantismus hätten
doch bei aller Geistesarmut seiner leitenden Köpfe
einen volkstümlichen, in die Breite gehenden Zug;
die Jesuiten hätten die Volksbildung absichtlich
vernachlässigt, während das protestantische Ideal,
dass jedermann die Bibel lesen können müsse, sie
immerhin relativ begünstige.
Als Maßstäbe des historischen Urteils reichen diese
allgemeinen Sätze meines Erachtens nicht aus; sie
treffen unter gewissen historischen Voraussetzungen
mehr oder minder zu, unter anderen historischen
Voraussetzungen aber ganz und gar nicht. Wo hat
denn die bürgerliche Aufklärung ihre gewaltigsten
Schlachten geschlagen und ihre glänzendsten Siege
erfochten? Nicht in dem protestantischen
Deutschland und nicht einmal in dem
protestantischen England, sondern in dem
katholischen Frankreich. Erklärlich wird die
Auffassung des Genossen Hugo Schulz dadurch, dass
er einseitig vom österreichischen Standpunkt aus
urteilt und dem Katholizismus wie dem
Protestantismus als religiösen Weltanschauungen
Wirkungen zuschreibt, die sie nicht als solche
gehabt, sondern die sie nur als religiöse
Feldzeichen äußerst weltlicher Kämpfe gedeckt und,
wenn man den allzu schmeichelhaften Ausdruck
gebrauchen darf, verklärt haben. Die an sich
unbestreitbare Tatsache, dass die bürgerliche
Aufklärung, soweit sie in Deutschland überhaupt ins
Leben getreten ist, in den protestantischen, aber
nicht in den katholischen Gegenden des Landes
gewurzelt hat, kann leicht zu großen
Missverständnissen führen, obgleich schon ein Blick
auf Frankreich zeigt, dass diese Erscheinung doch
eine andere Ursache gehabt hat als die freiere
Weltanschauung des Protestantismus.
Die letzte Möglichkeit, Deutschland als eine
weltliche Monarchie über den konfessionellen
Gegensätzen zu errichten, war im Dreißigjährigen
Kriege für immer gescheitert. So blieb der
religiöse Hader sozusagen als konstituierendes
Element der deutschen Anarchie; auf die Kirche
stützte sich der weltliche Despotismus, und es
waren kirchliche Machtmittel, durch die er sich in
den unzähligen souveränen Staaten, in die
Deutschland nach dem Westfälischen Frieden
zersplittert war, zu befestigen suchte. Das war in
den protestantischen Territorien nicht anders als
in den katholischen, nur mit dem Unterschiede, dass
die katholische Weltkirche ganz andere Machtmittel
zur Verfügung stellte als die protestantischen
Landeskirchen und dass der österreichische
Großstaat mit den katholischen Machtmitteln ganz
anders wirtschaften konnte als die mittleren und
kleinen Staaten mit den Bannflüchen ihrer
Pfäfflein. Die katholische Reaktion in Österreich
war eine Maschine der Unterdrückung, die an
Scheußlichkeit, aber auch an Wirksamkeit weitaus
alles überbot, was von der protestantischen
Reaktion geleistet werden konnte, und es ist
vollkommen begreiflich, wenn geborene Österreicher
heute noch voll heftigen Zornes an diese
schmachvolle Zeit denken.
Aber deshalb darf doch nicht übersehen werden, dass
es den protestantischen Despoten und ihren
geistlichen Helfershelfern in Deutschland nicht am
Willen, sondern nur an der Macht gefehlt hat, um
dem katholischen Vorbild erfolgreich nachzueifern.
Die Nachfahren Luthers waren ja noch viel
gehorsamere Fürstenknechte als die katholischen
Prälaten, und an fanatischer Unduldsamkeit standen
sie diesen so wenig nach wie an pfäffischer
Borniertheit. Während einsichtige Jesuiten, wie
Friedrich Spee, bereits gegen die Hexenprozesse
auftraten, hat eine berühmte Leuchte der
protestantischen Universität Leipzig noch 20.000
Hexen auf den Scheiterhaufen gesandt, dabei
allerdings dreiundfünfzigmal die ganze Bibel
durchgelesen, was auf die intellektuelle und
moralische Wirkung dieser Lektüre immerhin ein
nicht ganz einwandfreies Licht wirft. Später ist
freilich ein anderer Leipziger Professor, Christian
Thomasius, der wirksamste Bekämpfer der
Hexenprozesse geworden, aber auch er hat noch
erklärt, es sei das gute Recht der Fürsten, alle
nach ihrer Ansicht ketzerisch gesinnten
Landeskinder über die Grenze zu jagen, womit dann
gerade die nichtswürdigsten Schandtaten der
österreichischen Jesuiten gerechtfertigt wurden.
Praktisch war dieses edle Wettlaufen zwischen
katholischer und protestantischer Verfolgungssucht
nur deshalb nicht mit gleichem Schritte
durchzuführen, weil die protestantischen Eiferer
sich nicht den Luxus gestatten durften, die mehr
oder minder eng begrenzten Besitzungen der
protestantischen Despoten zu entvölkern, wie die
Jesuiten das Salzkammergut und andere
österreichische Landschaften entvölkert haben.
Derartige zwingende Gründe hatte ihre „Toleranz"
auch sonst; weil der preußische König in den
geistlichen Staaten ein Hauptrekrutierungsgebiet
besaß, durfte in seinen Staaten „jeder nach seiner
Fasson" selig werden. Auch die gegenseitige
Eifersucht zwischen diesen Winkeldespoten spielte
dabei eine große Rolle; als Thomasius aus Leipzig
von den lutherischen Orthodoxen hinaus gebissen
wurde, siedelte ihn der preußische Nachbar in dem
benachbarten Halle an, um die Leipziger Studenten
über die Grenze zu locken, und nicht etwa aus
aufklärerischer Gesinnung. Denn bald nachher wurde
der Professor Christian Wolff in noch viel
schimpflicherer Weise als Thomasius aus Leipzig –
nämlich bei sofortiger Strafe des Stranges – aus
Halle vertrieben, wegen eines harmlosen, aber von
dem preußischen Könige missverstandenen
philosophischen Satzes.
Genug also, wenn die bürgerliche Aufklärung nur in
die protestantischen, aber nicht in die
katholischen Gegenden Deutschlands, und namentlich
nicht nach Österreich vordringen konnte, so ist das
nicht irgendwelchen „Elementen der Freiheit"
geschuldet, die der Protestantismus vor dem
Katholizismus voraus hat, sondern die Tatsache,
dass die protestantische Unduldsamkeit die Grenzen
der Gebiete, über die sie herrschte, nicht so
hermetisch absperren konnte, wie es der
katholischen Unduldsamkeit möglich war. Wie im
Übrigen der Protestantismus die bürgerliche
Aufklärung misshandelt hat, von Thomasius und Wolff
bis auf Kant und Lessing, ist hinlänglich bekannt.
Der protestantische Menschenverkäufer Braunschweigs
hat Lessings Alter ebenso verwüstet wie der
protestantische Menschenverkäufer Württembergs
Schillers Jugend; die protestantischen Zeloten aber
haben nicht weniger geleistet im Denunzieren
Herders und Kants; einem unserer Klassiker,
Winckelmann, haben sie sogar so zugesetzt, dass er
sich nur in den Schoß der katholischen Kirche zu
retten wusste, die ihm denn auch ermöglicht hat,
seine genialen Fähigkeiten zu entfalten.
Doch es mag an diesen Andeutungen genug sein. Sie
zeigen wohl schon zur Genüge, wie wenig dem
Protestantismus an sich und ein für allemal ein
Vorzug vor dem Katholizismus gebührt; es kommt
immer nur auf die Klassen oder die
Klassenfraktionen an, die unter diesem religiösen
Feldzeichen miteinander kämpfen, und die deutschen
Fürsten, die zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges,
wie vor und nach ihm miteinander rangen, waren in
ihrer katholischen wie in ihrer protestantischen
Fraktion einander ebenbürtig, wenn sich sonst auch
nicht leicht in der Geschichte ein Gesindel
aufweisen lässt, das beiden ebenbürtig wäre.
So habe ich in allem wesentlichen den Text
unverändert gelassen, ihn aber stilistisch
sorgfältig durchgesehen und auch sachlich in
manchen Einzelheiten erweitert oder verbessert.
Steglitz-Berlin, im März 1908. F. M.
Seite 299-301
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