Gustav Adolf
Ein Fürstenspiegel zu Lehr und Nutzen der deutschen Arbeiter

von Franz Mehring (1908)

9. Der Gustav-Adolf-Kultus

Wie die geistliche, so braucht auch die weltliche Herrschaft ihre Legenden. Moltke, der es wissen musste wie wenige, hat es besonders für eine Pflicht der Pietät und der Vaterlandsliebe erklärt, militärische Legenden zu pflegen, selbst wenn man wisse, dass sie, zu Deutsch gesagt, Schwindel seien. Damit ist die erste Ursache des deutschen Gustav-Adolf-Kultus berührt. Das Ausland und die deutschen Fürsten – einschließlich der Habsburger, soweit sie Landesfürsten waren, denn in den österreichischen Erblanden blieb es bei dem Restitutionsedikt – waren als Sieger aus dem Dreißigjährigen Kriege hervorgegangen. Dem Auslande durfte es gleichgültig sein, wie sich das deutsche Volk mit dieser Tatsache abfand, nicht so den deutschen Fürsten. Sie brauchten ihre Legende, um die erbärmliche Souveränität, die sie auf den verkohlten Trümmern des Deutschen Reiches aufrichteten, als Gottes unerforschlichen Ratschluss und das Werk tapferer Heldenschwerter hinzustellen. Wie sich die katholischen Fürsten mit dieser Notwendigkeit abfanden, haben wir hier nicht zu untersuchen; in jedem Falle hatten sie den überreichen Legendenschatz der katholischen Kirche zur freien Auswahl.

In ungleich ungünstigerer Lage befanden sich die protestantischen Fürsten. Der „Gottesmann" Luther war nur eine Birne für den Durst; er deckte höchstens die religiösen Unkosten der notwendigen Legende. Aber wie konnte ihre militärische Seite gedeckt werden? Die protestantischen Fürsten, die vom Schlusse des Bauernkrieges bis zum Westfälischen Frieden gelebt hatten, waren eine so entsetzliche Rotte, dass ein Meer von Tünche kaum ausreichte, um die natürliche Hautfarbe dieser Mohren unter einem fahlen Weiß zu verstecken. Aus keinem dieser gräulichen Kobolde war eine legendenhafte Figur zu schnitzen. Blieb also nur Gustav Adolf, der sich als Schirmherr des deutschen Protestantismus aufgespielt hatte, zwar nur zum Schein, um Deutschland desto planmäßiger zu plündern, aber in sozusagen „heldenhafter" Positur. Waren ihm doch auch gerade die norddeutschen protestantischen Fürsten durch seinen wirklichen Zweck, die Zerrissenheit der norddeutschen Niederung aufrechtzuerhalten, zu aufrichtigem Danke verpflichtet! So pflegten die Hofprediger dieser Fürsten den Gustav-Adolf-Kultus, und ihre Hofprofessoren dichteten die Gustav-Adolf-Legende; seit dem Westfälischen Frieden wurde in Kirche und Schule ein beutelüsterner Flibustier als der Held Gideon der protestantischen Kirche verehrt.

Soweit ist die Sache begreiflich und leicht verständlich. Weniger einleuchtend erscheint der Gustav-Adolf-Kultus der Bourgeoisie. Sobald die bürgerlichen Klassen in Deutschland erstarkten, mussten sie die nationale Einheit verlangen und folglich gegen die Zwergdespoten und deren Legenden revoltieren. An Anfängen dazu fehlte es auch nicht. In seinem gewaltigen Drama „Wallenstein" zeigte Schiller mit genialem Verständnis, dass nicht Gustav Adolf, sondern Wallenstein der nationale Held des Dreißigjährigen Krieges ist, soweit in der damaligen Zeit überhaupt ein nationaler Held möglich war. Schiller stand schon in seiner klassizierenden Epoche und besaß nicht mehr die volle Frische seiner bürgerlich-revolutionären Anfänge, als er den „Wallenstein" schrieb. Aber in vielem, was er seinem Helden in den Mund legte, griff er mit höchst bewundernswertem Instinkte den historischen Aufschlüssen vor, die erst lange nach seinem Tode aus dem Staube der Archive über Wallenstein gewonnen worden sind.

Indessen es blieb bei den Anfängen. Das deutsche Bürgertum wurde die Fürstenfürchtigkeit nicht los, die ihm mit so furchtbarer Gründlichkeit eingepaukt worden war. Und als es sich, um überhaupt zur Macht zu gelangen, unter die Bajonette desjenigen deutschen Teilstaates flüchten musste, dem Joachim II. die „providentielle protestantische Mission" eingeimpft hatte, musste es auch den Gustav-Adolf-Kultus in sein geistiges Inventar aufnehmen. Natürlich modelte es ihn nun in seinem besonderen Klasseninteresse um. Hatten die lutherischen Orthodoxen den Schweden zum Beschützer der „Glaubens- und Gewissensfreiheit" gemacht, so machte ihn die liberale Bourgeoisie nun gar noch zu einem Beschützer der „Gedankenfreiheit". Ohne Gustav Adolf kein deutscher Protestantismus, ohne deutschen Protestantismus keine klassische Literatur und Philosophie, so dass am Ende der alte Schwede noch Hegels Phänomenologie aus der Taufe gehoben hat. Dabei haben die Lessing und Goethe, die Heine und Humboldt eher noch für den Jesuitismus als für das Luthertum eine gewisse Sympathie gezeigt, nicht aus religiöser Schwärmerei, sondern aus der natürlichen Wahlverwandtschaft gescheiter Menschen. Und wenn umgekehrt der brave Nicolai und seine geistigen Nachfahren die schon von Goethe gegeißelte „Jesuitenschnoperei" trieben und treiben, so hat das auch nichts mit „Geistesfreiheit" oder „Geistesknechtschaft" zu tun, sondern ist einfach der bissige Geschäftsneid bankrotter Kleinkrämer, die niemals zahlungsfähig gewesen sind, gegen einen zwar auch längst in Konkurs geratenen, aber doch einmal sehr zahlungsfähig gewesenen Großkaufmann.

Doch mit dieser berserkerhaften Logik würden selbst Götter vergebens kämpfen. Mag die englische Bourgeoisie die Königin Elisabeth, die französische Bourgeoisie den Kardinal Richelieu, die schwedische Bourgeoisie den König Gustav Adolf verherrlichen: Diese Schuster bleiben wenigstens bei ihren Leisten. Aber die deutsche Bourgeoisie beweist mit ihrem Gustav-Adolf-Kultus von neuem die altbekannte Tatsache, dass sie die bornierteste Bourgeoisie des Jahrhunderts ist. Die bornierteste und deshalb in ihrer Art auch wieder die perfideste. Dieselben liberalen Blätter, die am inbrünstigsten die Gustav-Adolf-Hymnen singen, lärmen am lautesten nach neuen Ausnahmegesetzen gegen die arbeitenden Klassen. Sie haben ihrem Heros glücklich abgesehen, wie er sich räusperte und spuckte: Es gilt, die Rettung der angeblich heiligsten Interessen zum Deckmantel zu nehmen, um die Massen bis aufs nackte Leben zu plündern. Auf diesen Gustav-Adolf-Kultus trifft auch zu, was Wallenstein von Gustav Adolf sagte: Man muss ihm auf die Fäuste sehen, nicht aufs Maul.

Indem sie einen der gewaltsamsten Umsturzmänner feiern, von denen die Geschichte zu erzählen weiß, schreien sie zum „Kampf gegen den Umsturz“; indem sie einen ausländischen Plünderer Deutschlands verherrlichen, entfalten sie das „nationale" Banner gegen das gesetzmäßige Ringen der deutschen Arbeiterklasse um ein menschenwürdiges Dasein. Brauchen wir danach noch ausführlich darzulegen, welches Interesse das deutsche Proletariat an der bevorstehenden Gustav-Adolf-Feier hat? Wir hoffen: es leuchtet genugsam aus unserer ganzen Darstellung hervor und es ist groß genug, das Erscheinen dieser kleinen Schrift zu rechtfertigen.

Seite 357-360