9. Der Gustav-Adolf-Kultus
Wie
die geistliche, so braucht auch die weltliche
Herrschaft ihre Legenden. Moltke, der es wissen
musste wie wenige, hat es besonders für eine
Pflicht der Pietät und der Vaterlandsliebe erklärt,
militärische Legenden zu pflegen, selbst wenn man
wisse, dass sie, zu Deutsch gesagt, Schwindel
seien. Damit ist die erste Ursache des deutschen
Gustav-Adolf-Kultus berührt. Das Ausland und die
deutschen Fürsten – einschließlich der Habsburger,
soweit sie Landesfürsten waren, denn in den
österreichischen Erblanden blieb es bei dem
Restitutionsedikt – waren als Sieger aus dem
Dreißigjährigen Kriege hervorgegangen. Dem Auslande
durfte es gleichgültig sein, wie sich das deutsche
Volk mit dieser Tatsache abfand, nicht so den
deutschen Fürsten. Sie brauchten ihre Legende, um
die erbärmliche Souveränität, die sie auf den
verkohlten Trümmern des Deutschen Reiches
aufrichteten, als Gottes unerforschlichen
Ratschluss und das Werk tapferer Heldenschwerter
hinzustellen. Wie sich die katholischen Fürsten mit
dieser Notwendigkeit abfanden, haben wir hier nicht
zu untersuchen; in jedem Falle hatten sie den
überreichen Legendenschatz der katholischen Kirche
zur freien Auswahl.
In ungleich ungünstigerer Lage befanden sich die
protestantischen Fürsten. Der „Gottesmann" Luther
war nur eine Birne für den Durst; er deckte
höchstens die religiösen Unkosten der notwendigen
Legende. Aber wie konnte ihre militärische Seite
gedeckt werden? Die protestantischen Fürsten, die
vom Schlusse des Bauernkrieges bis zum
Westfälischen Frieden gelebt hatten, waren eine so
entsetzliche Rotte, dass ein Meer von Tünche kaum
ausreichte, um die natürliche Hautfarbe dieser
Mohren unter einem fahlen Weiß zu verstecken. Aus
keinem dieser gräulichen Kobolde war eine
legendenhafte Figur zu schnitzen. Blieb also nur
Gustav Adolf, der sich als Schirmherr des deutschen
Protestantismus aufgespielt hatte, zwar nur zum
Schein, um Deutschland desto planmäßiger zu
plündern, aber in sozusagen „heldenhafter" Positur.
Waren ihm doch auch gerade die norddeutschen
protestantischen Fürsten durch seinen wirklichen
Zweck, die Zerrissenheit der norddeutschen
Niederung aufrechtzuerhalten, zu aufrichtigem Danke
verpflichtet! So pflegten die Hofprediger dieser
Fürsten den Gustav-Adolf-Kultus, und ihre
Hofprofessoren dichteten die Gustav-Adolf-Legende;
seit dem Westfälischen Frieden wurde in Kirche und
Schule ein beutelüsterner Flibustier als der Held
Gideon der protestantischen Kirche verehrt.
Soweit ist die Sache begreiflich und leicht
verständlich. Weniger einleuchtend erscheint der
Gustav-Adolf-Kultus der Bourgeoisie. Sobald die
bürgerlichen Klassen in Deutschland erstarkten,
mussten sie die nationale Einheit verlangen und
folglich gegen die Zwergdespoten und deren Legenden
revoltieren. An Anfängen dazu fehlte es auch nicht.
In seinem gewaltigen Drama „Wallenstein" zeigte
Schiller mit genialem Verständnis, dass nicht
Gustav Adolf, sondern Wallenstein der nationale
Held des Dreißigjährigen Krieges ist, soweit in der
damaligen Zeit überhaupt ein nationaler Held
möglich war. Schiller stand schon in seiner
klassizierenden Epoche und besaß nicht mehr die
volle Frische seiner bürgerlich-revolutionären
Anfänge, als er den „Wallenstein" schrieb. Aber in
vielem, was er seinem Helden in den Mund legte,
griff er mit höchst bewundernswertem Instinkte den
historischen Aufschlüssen vor, die erst lange nach
seinem Tode aus dem Staube der Archive über
Wallenstein gewonnen worden sind.
Indessen es blieb bei den Anfängen. Das deutsche
Bürgertum wurde die Fürstenfürchtigkeit nicht los,
die ihm mit so furchtbarer Gründlichkeit eingepaukt
worden war. Und als es sich, um überhaupt zur Macht
zu gelangen, unter die Bajonette desjenigen
deutschen Teilstaates flüchten musste, dem Joachim
II. die „providentielle protestantische Mission"
eingeimpft hatte, musste es auch den
Gustav-Adolf-Kultus in sein geistiges Inventar
aufnehmen. Natürlich modelte es ihn nun in seinem
besonderen Klasseninteresse um. Hatten die
lutherischen Orthodoxen den Schweden zum Beschützer
der „Glaubens- und Gewissensfreiheit" gemacht, so
machte ihn die liberale Bourgeoisie nun gar noch zu
einem Beschützer der „Gedankenfreiheit". Ohne
Gustav Adolf kein deutscher Protestantismus, ohne
deutschen Protestantismus keine klassische
Literatur und Philosophie, so dass am Ende der alte
Schwede noch Hegels Phänomenologie aus der Taufe
gehoben hat. Dabei haben die Lessing und Goethe,
die Heine und Humboldt eher noch für den
Jesuitismus als für das Luthertum eine gewisse
Sympathie gezeigt, nicht aus religiöser
Schwärmerei, sondern aus der natürlichen
Wahlverwandtschaft gescheiter Menschen. Und wenn
umgekehrt der brave Nicolai und seine geistigen
Nachfahren die schon von Goethe gegeißelte
„Jesuitenschnoperei" trieben und treiben, so hat
das auch nichts mit „Geistesfreiheit" oder
„Geistesknechtschaft" zu tun, sondern ist einfach
der bissige Geschäftsneid bankrotter Kleinkrämer,
die niemals zahlungsfähig gewesen sind, gegen einen
zwar auch längst in Konkurs geratenen, aber doch
einmal sehr zahlungsfähig gewesenen Großkaufmann.
Doch mit dieser berserkerhaften Logik würden selbst
Götter vergebens kämpfen. Mag die englische
Bourgeoisie die Königin Elisabeth, die französische
Bourgeoisie den Kardinal Richelieu, die schwedische
Bourgeoisie den König Gustav Adolf verherrlichen:
Diese Schuster bleiben wenigstens bei ihren
Leisten. Aber die deutsche Bourgeoisie beweist mit
ihrem Gustav-Adolf-Kultus von neuem die altbekannte
Tatsache, dass sie die bornierteste Bourgeoisie des
Jahrhunderts ist. Die bornierteste und deshalb in
ihrer Art auch wieder die perfideste. Dieselben
liberalen Blätter, die am inbrünstigsten die
Gustav-Adolf-Hymnen singen, lärmen am lautesten
nach neuen Ausnahmegesetzen gegen die arbeitenden
Klassen. Sie haben ihrem Heros glücklich abgesehen,
wie er sich räusperte und spuckte: Es gilt, die
Rettung der angeblich heiligsten Interessen zum
Deckmantel zu nehmen, um die Massen bis aufs nackte
Leben zu plündern. Auf diesen Gustav-Adolf-Kultus
trifft auch zu, was Wallenstein von Gustav Adolf
sagte: Man muss ihm auf die Fäuste sehen, nicht
aufs Maul.
Indem sie einen der gewaltsamsten Umsturzmänner
feiern, von denen die Geschichte zu erzählen weiß,
schreien sie zum „Kampf gegen den Umsturz“; indem
sie einen ausländischen Plünderer Deutschlands
verherrlichen, entfalten sie das „nationale" Banner
gegen das gesetzmäßige Ringen der deutschen
Arbeiterklasse um ein menschenwürdiges Dasein.
Brauchen wir danach noch ausführlich darzulegen,
welches Interesse das deutsche Proletariat an der
bevorstehenden Gustav-Adolf-Feier hat? Wir hoffen:
es leuchtet genugsam aus unserer ganzen Darstellung
hervor und es ist groß genug, das Erscheinen dieser
kleinen Schrift zu rechtfertigen.
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