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Weitere Ergänzungen zur Textsammlung Aufruhr & Revolte
 

Osteraktionen

11.-15. 4.1968
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Auf dem Kurfürstendamm in Berlin wird Rudi Dutschke durch ein Revolverattentat des neonazistisch beeinflußten Josef Bachmann lebensgefährlich verletzt. Da die Tat gemeinhin als Folge der systematischen Hetzkampagne des Berliner Senats und der Springer-Presse angesehen wird, kommt es im Verlauf der Ostertage in der gesamten Bundesrepublik zu massenhaften Versuchen, die Auslieferung der Springer-Zeitungen zu verhindern. Schon am Abend nach dem Attentat beginnen 2000 Studenten das Springer-Hochhaus an der Berliner Mauer zu stürmen. Nachdem der Versuch durch Polizeikräfte vereitelt worden ist, werden die Fahrzeughalle in Brand gesetzt und mehrere Transportfahrzeuge zerstört. Innerhalb der fünf Tage dauernden Straßenschlachten an den Auslieferungstoren der Springer-Druckereien beteiligen sich über 60000 an den Blockaden. Erstmals ist der Anteil der nichtintellektuellen Jugendlichen, vor allem von Lehrlingen, besonders hoch. Die 21000 eingesetzten Polizisten verhaften über 1000 Demonstranten, mitunter auch unbeteiligte Hausfrauen und Rentner. Bei den schwersten Straßenschlachten in Deutschland seit der Weimarer Republik kommen zwei Menschen - in München - ums Leben, 400 werden zum Teil schwer verletzt.In Washington, New York, Toronto, London, Amsterdam, Brüssel, Paris, Mailand, Tel Aviv, Belgrad, Oslo, Prag und Wien kommt es zu Solidaritätsdemonstrationen vor den deutschen Botschaften und Springer-Büros. In Rom werden Molotow-Cocktails in Porsche- und Mercedes-Vertretungen geschleudert." Von den 827 Beschuldigten, gegen die Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden, wird - am 16. 4. - in München der erste «Osterdemonstrant» wegen Aufruhrs und Auflaufs zu sieben Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt. Auf einer Bundestagssondersitzung «zu den Osterunruhen» bezeichnet Innenminister Benda den SDS als verfassungsfeindliche Organisation.
" (Quelle: Aufruhr & Revolte)


Quelle: Diskus, linke Zeitung, die 1968 vom AStA der Frankfurter Uni finanziert wurde.

Zu den Oster-Aktionen
Erklärung von Karl Dietrich Wolff / Frank Wolff als Bundesvorsitzende des SDS

I.

Die Springer-Blockaden haben die politische Polarisierung produziert, die wir schon vorher für diesen Sommer erwartet hatten. Die Ungleichzeitigkeit der westdeutschen im Verhältnis zur Berliner Entwicklung hat sich dabei gleichermaßen bestätigt und verändert. Daß der Mordanschlag jetzt in Berlin geschah, ist eher akzidentell, als es die organisierte Polizeischlacht am 2. Juni und der Tod Ohnesorgs waren. Damals war der Schah-Besuch zwar schon im nationalen Maßstab als Notstandsmanöver angelegt, hatte jedoch nur in Berlin den politischen Charakter, daß die radikale Opposition physisch zerschlagen werden sollte. Unsere Analyse des neuen autoritären Staates orientierte sich mit Recht an diesem fortgeschrittenen Stadium der Reaktion. Das Machtkartell von Senat, Springer-Presse, Unternehmerverbänden und Gewerkschaften entspricht der Tendenz, die ebenso in Westdeutschland sidi durchsetzt. Die Massen werden nicht wie am Ende der Weimarer Republik in der faschistischen Bewegung gegen den Parlamentarismus geführt, sondern von diesem selbst in eigene Regie genommen. Die Herrschenden imitieren sich bis in die einzelnen Sprachfiguren; sie sind die neuen kollektiven Führer. Jedoch sind sie trotz ihrer täglichen Brutalität eine bloße Karikatur. Die klägliche Konter-Demonstration am 21. Februar belegt den Widerspruch, die Massen gleichzeitig passiv halten zu müssen und sie gegen den inneren Feind mobilisieren zu wollen.

Während in Berlin derweil die Unterstützung durch Nichtstudenten zunahm, und die Kooperation mit ihnen, wurde in Westdeutschland die offizielle Propaganda gegen die oppositionelle Minderheit gewissermaßen nachgeholt. Hier wie dort wurde sie nach dem Muster organisiert, den politischen Protest als kriminell und asozial, nicht der Gemeinschaft der Anständigen zugehörig, zu qualifizieren. Die latente Gewalt war damit zur Pogromstimmung artikuliert worden. Jetzt, nachdem wir gegen diese Gewalt unseren Widerstand spontan organisiert haben, haben wir sie freilich nicht gebrochen, vielmehr hat sich das institutionelle und lebendige Potential an Gewalt gefährlich gesammelt. Der verfassungswidrige Einsatz von Bundesgrenzschutz und Technischem Hilfswerk in Esslingen, die freiwillige staatsbürgerliche Mithilfe von Schäferhundvereinen geben einen Geschmack davon ebenso wie der untergründige Aufruf zur Selbstjustiz und die Erwägung der Vorbeugehaft durch den Bundesinnenminister.

Die Konfrontation von herrschender Gewalt und unserer Opposition hat sich auf erweiterter Stufenleiter wiederholt. Die Studentenbewegung ist damit auch in der Bundesrepublik im ambivalenten Sinn wirksam geworden. Sieht man von den Differenzen ab — daß etwa in dieser Dimension lokale und primär politische Gegner nicht stets zusammenfallen —, so zeigen sich folgenreiche Analogien zur Berliner Entwicklung. Die Konfrontation mit dem Monopol Springer hatte dort dieselben Formen angenommen wie jetzt auf der neuen Ebene: Die Staatsgewalt identifizierte sich uneingeschränkt mit dem Konzern und ebenso ein großer Teil der Konkurrenzpresse, d. h. ein Entscheidungsdruck ist entstanden, der formal-liberale Positionen liquidiert und damit die Herrschaftsverhältnisse offenlegt. Die liberale Forderung nach einer demokratischen Öffentlichkeit kann inhaltlich sich nur revolutionär umsetzen. Das Institut des Privateigentums an Produktionsmitteln ist direkt zum Teil der Machtauseinandersetzung geworden.

Diese Auseinandersetzung ist der Entwicklung bis zum vergangenen Faschismus keineswegs völlig parallel, jedoch auch nicht von ganz neuer Qualität. Die These, daß der Faschismus sich heute im Zentrum der parlamentarischen Institutionen selber entwickle, etwa durch Notstandsgesetze, trifft abstrakt auch auf die Weimarer Republik zu — vgl. Präsidialdiktatur, Hugenberg-Konzern usw.; die wesentliche Differenz kommt darin zur Erscheinung, daß mit dem Trauma des offenen Faschismus die systeminterne Radikalisierung im ,Kampf gegen Rechts- und Linksradikalismus' verschleiert werden kann. Es ist ein Komplement zur ökonomischen Krisenverschleppung. Die Frage steht zur Diskussion, ob die Verschärfung von Konflikten, ökonomischen wie politischen, eine umfassende, offene Brutalisierung der Machtverhältnisse erwarten läßt oder eine Fortentwicklung des manipulativen Instrumentariums im Rahmen schleichend sich verändernder Institutionen.

II.

Daß der SDS schlecht auf die kommenden Konfrontationen vorbereitet ist, wissen wir. Zwar ist die These der Isolation sowohl in der Universität als auch außerhalb widerlegt; die inhaltliche Solidarisierung scheint haltbarer als früher zu sein. Aber vielfach ist der SDS nur die nominelle Spitze der Opposition, ein Warenzeichen, und weniger die praktisch organisierende Kraft. Noch ist es unklar, wie die Zusammenarbeit mit den jungen Angestellten und Arbeitern organisiert werden soll, die erstmals zu einer Aktionseinheit mit uns gekommen sind. Clubs zu gründen ist ein pragmatischer, improvisatorischer Weg. Richtig ist daran, daß wir jetzt nicht wie nach dem 2. Juni als moralisch engagierte Studenten in einer Mini-Narodniki-Bewegung in dem Abstraktum Bevölkerung Aufklärung betreiben können, sondern daß die Zusammenarbeit mit Betriebsund Lehrlingsgruppen und Gewerkschaftern organisiert werden muß. Mit welchem Ziel? Keinesfalls, um kritiklos Koalitionen zu bilden. Der Gefahr, daß sich die radikale Opposition integriert, ist nur mit inhaltlich konsequenten Bündnissen zu entgehen; sie allein geben uns auch die Möglichkeit neuer praktischer Erfahrungen.

Der SDS hat seine Grenze als Studentenverband mit den letzten Aktionen überschritten. So wenig sie die Einleitung des Bürgerkriegs bedeuten, so sehr haben sie doch die SDS-Gruppen überfordert, die sich häufig unfähig gezeigt haben, die Demonstrationen praktisch zu organisieren. Der organisierten Staatsgewalt gegenüber haben nicht nur unerfahrene Demonstranten, sondern auch manche Genossen sich völlig irrational und unpolitisch verhalten. Mit der Wut der Verzweiflung sind sie in die Konfrontation gegangen, sie folgten weniger einer revolutionären Strategie als einer der psychisch — durch Angst — vermittelten Gewalt. Haben wir aber den Schwindel der bloß sprachlichen Kommunikation als eine Ideologie der herrschenden Gewalt durchschaut, müssen wir um so klarer unsere Strategie der Abschaffung von Gewalt formulieren. Sie ist durch bloße Konfession zur Gewalt nicht zu ersetzen. Vielmehr müssen wir den primitiven und fetischisierten Begriff von Gewalt, wie er vorherrscht, permanent durchbrechen. Oskar Negt hat in seiner Rede über .Politik und Gewalt' Wesentliches dazu gesagt; gerade weil als Terror, Krawall und Gewalt prinzipiell alles verstanden wird, was dem Normalen, der alltäglichen Normenerwartung zuwiderläuft, dürfen wir diesen Begriff nicht stur erfüllen und ihn nur privat negativ interpretieren. Die Parole, sich gegen die Polizeigewalt zu bewaffnen, z. B. am Ostermontag auf Flugblättern auszugeben und damit die direkte Aggressivität zu stärken, statt sie zu politisieren, war falsch. Nichts hätte man schlechter durchstehen können als eine direkte Kraftprobe mit der in groteskem Verhältnis militärisch überlegenen Polizei. Ebenso hilflos erscheinen auch manche Reaktionen, nachdem der Tod zweier Menschen in München bekannt wurde, den niemand entschuldigen kann. Gerade wenn über den Hergang noch wenig bekannt ist, ist es schlichter Unsinn, die politische Gewaltsituation, in der wir stehen, mit der Gefahrenzone des Straßenverkehrs öffentlich und nachdrücklich gleichzusetzen. Die Klischees warteten nur auf den geringsten Auslöser.

Welche Aufgabe wir in den kommenden Aktionen haben, ist aus der veränderten Situation abzuleiten: Nicht ständig die Demonstrationen quasi existentiell zu radikalisieren, sondern sie zu organisieren und sie praktisch, auf der Straße, und politisch mobil zu machen. Das leistet kein Ordnerdienst, sondern nur die intensive und massenhafte Diskussion vor jeder Demonstration (und die interne Vorarbeit im SDS). Unmittelbar sind wir angewiesen auf die demonstrative Verbindung von Aktion und Diskussion. Würden sich alle die neuen Demonstranten nur an den Aktionen beteiligen, wäre ihre Teilnahme nur statistisch interessant. Auf den organisierten Kontakt zu ihnen ist nicht zu verzichten. Was sich gegenwärtig in Berlin als Basisgruppen organisiert, ist eine mögliche Form, diesen Kontakt herzustellen. Er ist um so eher zu halten, je selbständiger die Gruppen der jungen Arbeiter und Lehrlinge arbeiten. Sie können verbunden werden, indem kontinuierlich arbeitende Projektgruppen im SDS die verschiedenen Erfahrungen praktisch auswerten und der ganzen Gruppe vermitteln.

Gerade mit Modellen der Zusammenarbeit ist aber wenig gelöst. Im SDS muß jetzt eine Selbstschulung einsetzen, die wir bald nicht mehr nachholen können. Unter dem permanenten Aktionsdruck ist es meistenteils zu intensiver Ausbildung nicht mehr gekommen. Theoretische Positionen und Argumente werden von einigen Prominenten monopolisiert und über die bürgerliche Presse oder Massenveranstaltungen verbreitet. Wir kommen aber in ein Stadium, in dem es mit der Selbständigkeit der einzelnen Genossen ernst wird. Die Verschärfung der Auseinandersetzung an der Hochschule und außerhalb nimmt uns den Garantieschein des Symbols SDS. Letzlich kann eine solche Selbstschulung nur mit der bewußten gemeinsamen Organisation des Alltagslebens und des Studiums gelingen. Die familiäre und faktisch autoritäre Struktur vieler Gruppen müssen wir permanent mit dem Ziel solidarischer Zusammenarbeit in Frage stellen.

Quelle:

NEUE KRITIK -Zeitschrift für sozialistische Theorie und Politik Nr. 47, April 1968, 9. Jahrgang

Herausgegeben vom Bundesvorstand des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) in Zusammenarbeit mit dem Verlag Neue Kritik KG Herausgeber: Wolfgang Abendroth, Hans-Jürgen Krahl, Herbert Lederer, Klaus Mesdikat, Oskar Negt, Bernd Rabehl, Helmut Schauer, Klaus Vack, Frank Wolff, Karl-Dietrich Wolff. Redaktion: Bernhard Blanke, Reimut Reiche, Wolf Rosenbaum, Ursula Schiniederer (verantwortlich) Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion Verlag und Redaktion: 6 Frankfurt l, Wilhelm-Hauff-Straße 5 Telefon 776068/778670

NEUE KRITIK erscheint jeden zweiten Monat. Jahresabonnement (6 Ausgaben): DM 18,— zuzüglich DM 1,50 Porto, Einzelheft DM 3,— zuzüglich Porto Postscheckkonto: Ff m 150774. Dresdner Bank Ff m 282680 Umschlagen t wurf: Eberhard Fiebig. Druck: Alfred W. Dunker, Frankfurt/M.

  • Karl Dietrich Wolff / Frank Wolff - Brüder, gemeinsam 67/68 Bundesvorsitzende des SDS

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