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Weitere Ergänzungen zur Textsammlung Aufruhr & Revolte
   WOLFGANG LEFEVRE:
"JUNGFRAU, ZITTERND DES UNTERNEHMERS HARREND "

Am Vorabend des 1. Mai fand in der Hasenheide vor über 3000 Zuhörern ein "Sozialistisches Forum" statt, auf dem unter anderen Wolfgang Lefevre vom Westberliner SDS zur politischen Situation der Stadt sprach. EXTRA-Dienst dokumentiert nachstehend Lefevres Text: ZUR POLITISCHEN SITUATION WESTBERLINS

Wer die politische Situation dieser Stadt in den letzten zwei, drei Jahren beobachtet hat, der wird sich vor allem über einen Umstand verwundert haben, und zwar über die Unmäßigkeit, mit der das offizielle Berlin auf eine unbewaffnete nur locker organisierte und zahlenmäßig noch recht unbedeutende Oppositionsbewegung reagierte.

Diese Unmäßigkeit zeigte sich bereits zu einer Zeit, als die Studenten in der FU Auseinandersetzungen mit dem Rektorat führten, über deren Berechtigung heute niemand mehr Zweifel hegt. Schon damals bezeichnete man die Studenten als "Wirrköpfe" und "Söldner Ulbrichts". Schon damals forderten die CDU und einzelne Personen aus dem Parteivorstand der SPD den Staatseingriff in die Universität.

Inzwischen hat die Berliner Regierung das klassische Repertoire staatlicher Unterdrückung von Oppositionen fast lückenlos durchgespielt. Da wurde versucht - entgegen all« Rechtsgrundsätzen - die Innenstadt für Demonstrationen zu verbieten. Da wurde versucht - im Widerspruch zum geltenden Recht - den Studentenvertretungen den Geldhahn abzudrehen. Da wurde ohne Rücksicht auf alle Verhältnismäßigkeit vom Schlagstock der Gebrauch gemacht. Da wurden bei der politischen Polizei gigantische Karteien angelegt. Da ließ man die Polizei abenteuerliche Lügengeschichten an die Presse verbreiten. Da übergab der Regierende Bürgermeister der Universitätsgerichtsbarkeit schwarze Listen zur Aburteilung. Da wurden Privatklagen benützt, um die politische Polizei beim SDS Razzia machen zu lassen. Da wurde am 3. Juni 67 nach der verbrecherischen Kesselschlacht vor der Oper - ohne gesetzliche Grundlage der Ausnahme- und Notstandszustand deklariert. Da ließ man die Justiz Exempel statuieren. Da wurde im Februar dieses Jahres versucht, den Studenten jede legale Versammlungsmöglichkeit zu nehmen, um sie als illegale zerschlagen zu können, und da ließ sich schließlich die Regierung herbei, die bei ihr Beschäftigten auf einem Platz als ihre demokratische Legitimation zu versammeln und dort so zu verhetzen, daß es zu pogromartigen Ausschreitungen kam. Wir brauchen uns hier nicht darüber zu unterhalten, daß damit die Regierenden dieser Stadt gezeigt haben, daß sie die Feinde von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und die Verfechter von Gewalt sind, als die sie uns so gern hinstellen möchten. Wir brauche.^, uns hier auch nicht darüber zu unterhalten, daß der Rücktritt des Senats, so selbstverständlich dieser Rücktritt ist, nicht ausreicht. Denn es ist uns nicht damit gedient, daß derselbe korrupte Parteienapparat ein paar Personen auswechselt. Uns interessiert vielmehr, was mit einer Gesellschaft los ist, die dermaßen hysterisch und brutal auf Opposition antwortet. Es hilft uns bei dieser Frage wenig, auf die Macht des Springer-Konzerns hinzuweisen, denn wir müssen nach der Situation und den Verhältnissen fragen, die beide - Springer und den demokratie-feindlichen politischen Apparat - überhaupt möglich machen.

Immer wieder verweisen uns die offiziellen Kommentatoren dieses Systems auf die "besondere Situation" Westberlins, die durch die permanente Bedrohung der Stadt seitens der DDR und der UdSSR geschaffen werde, also auf die Situation einer belagerten Festung, in der man sich keine Uneinigkeit erlauben dürfe. Wenn das so einfach wäre, würde es ja wohl auch keine Uneinigkeit in dieser Stadt geben.

Warum sind wir, die außerparlamentarische Opposition, uneinig mit der Festungspolitik des Regierenden Apparats? Wir sind empört über den Verrat, den dieser politische Apparat an den Festungsbewohnern, an den arbeitenden Menschen dieser Stadt begangen hat und begeht.

Wenn es wirklich nur darum ging, einen anderen Weg als die DDR einzuschlagen, wären wir uns einig. Aber welchen Weg hat der Regierende Apparat eingeschlagen? Er ha; den Arbeitern, Angestellten und der Intelligenz weiszumachen versucht, wer nicht den Weg der DDR gehen will, müsse den Weg der Kapitalisten gehen. Er annullierte unter dem Druck der Alliierten alle wirklich sozialen Gesetze, die in Berlin zwischen 1946 und 1948 beschlossen worden waren:

Die Vergesellschaftung der wichtigsten Betriebe, die Abschaffung des Berufsbeamtentums, die Einrichtung einer umfassenden und einheitlichen Sozial-, Kranken- und Altersversicherung.

Er stoppte die demokratischen Reformpläne des Schul-und Universitätswesens. Er machte die Stadt, die traditionell für rot galt, zur schneeweißen Jungfrau, die zitternd der Initiative des freien Unternehmertums harrt.

Aber die Unternehmer hatten nicht so rechten Appetit auf diese Jungfrau, obwohl - Dank der vorbildlichen Berliner Gewerkschaftsspitze - die Berliner Arbeiter sich mit niedrigeren Löhnen zufrieden gaben als die westdeutschen Arbeiter, obwohl der Staat ihnen die schönsten Gelegenheiten bot, die Staatskasse auszuräubern.

Warum bemächtigten sich die Unternehmer nicht mit ganz anderem Elan dieser Stadt. Sie hatten früher als die Arbeiter und Angestellten, als die Professoren und Studenten begriffen, daß mit Westberlin als Vorposten des Westens langfristig keine sicheren Geschäfte zu machen sind. Sie hatten als erste die katastrophale Fehlkonstruktion der offiziellen Berlin- und Deutschlandpolitik begriffen. Das offizielle westliche Wiedervereinigungskonzept, für das Westberlin geradezu das Gütezeichen war, hatte den inneren Zusammenbruch der DDR und ihre Einverleibung ins westliche System zur Voraussetzung. Als sich herausstellte, und das war bereits vor 10, 12 Jahren, daß mit diesem Zusammenbruch nicht gerechnet werden kann, spätestens dann hätte diese Deutschlandpolitik und damit die Berlinpolitik der Revision unterworfen werden müssen. Der Regierende Apparat und das freie Unternehmertum dachten jedoch gar nicht ah eine öffentliche Revision. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Sie liegen in den Konsequenzen, die aus dieser verfahrenen Situation zu ziehen gewesen wären. Es hätten sich drei Grundsätze bei dieser Revision herausgestellt, von denen her die weitere Politik hätte geplant werden müssen: Erstens: Westberlin will einen anderen Weg als die DDR gehen. Zweitens: Westberlin ist offenkundig als Vorposten Westdeutschlands nicht lebensfähig. Drittens: Westberlin ist als eigenständige Insel nicht lebensfähig. Das heißt aber: Für Westberlin ist keine Lösung denkbar, ohne es entweder zu vergewaltigen oder austrocknen zu lassen, die mit den gegenwärtigen Verhältnissen zwischen den beiden deutschen Gesellschaften vereinbar ist. Um so leben zu können, wie die arbeitenden Menschen dieser Stadt es wünschen, ist Westberlin gezwungen, die gegenwärtigen deutschen Verhältnisse in Frage zu stellen. Es kann nicht länger auf die westliche Lösung der Deutschlandfrage hoffen. Es kann niemanden die militärische Änderung der Verhältnisse empfehlen.

Es muß also überlegen, wie die versteinerten Verhältnisse, unter denen es erstickt, zum Tanzen gebracht werden können. Es ist kein Zweifel, diese Verhältnisse werden zu tanzen beginnen, und zwar so, daß niemand von denen, die für die jetzige Situation verantwortlich sind, zu lachen hat, wenn die Arbeiter, Angestellten und die Intelligenz in Westberlin und in Westdeutschland beginnen, ihren eigenen Sozialismus zu machen, beginnen, die Bestimmung über ihr Leben und ihre Produktion in die eigenen Hände zu nehmen. Unter den gegenwärtigen Bedingungen hat Berlin keine Chance als die, ein Schrebergarten für Rentner und unfähige Politiker zu werden. Die Chance dieser Stadt liegt darin, daß sie zum Initiator und zum anstiftenden Lehrstück der deutschen sozialistischen Revolution wird, die all diese Verhältnisse von der Bühne fegen wird, die heute die Agonie der Stadt ausmachen.

Vor dieser langfristig allein realitätstüchtigen Perspektive fürchten sich der Regierende Apparat und das freie Unternehmertum zu recht. Sie haben dabei alles zu verlieren, weil sie die Nutznießer der gegenwärtigen Misere sind. So ist es nur konsequent, wenn sie die wirkliche Situation verschweigen und jeden, der darauf aufmerksam macht, terrorisieren, wenn sie ihre privaten Konsequenzen aus der Misere der Stadt ziehen, wenn die freien Unternehmer ans Kriminelle grenzende Spekulationen mit den Berlinhilfegesetzen treiben, wenn sich die Manager des politischen Apparats um Posten und Pensionen erbitterte Unterholzgefechte liefern. Der Unterweltscharakter, mit dem hier Politik und Geschäfte gemacht werden, verrät den wirklichen Zustand Bankrotteure prügeln sich um die Konkursmasse ihres gescheiterten Unternehmens.

Von Berlin aus die sozialistische Revolution in der Bundesrepublik Deutschland und darüber hinaus "anzuzetteln", vor dieser Aufgabe möchte einem der Mut sinken. Deswegen zum Abschluß noch etwas zu zwei augenfällig günstigen Bedingungen, die diese Stadt dafür bietet.

Zum einen hat sich der politische Apparat durch sein Festungsdenken weitgehend unfähig gemacht, unsere Opposition überhaupt richtig einschätzen zu können. Verfassungsschutz und CIA können den Politikern noch so oft versichern, daß unsere Fundamentalopposition offenkundig nicht vom Osten ferngesteuert ist. Der politische Apparat wird nur um so stärker vermuten, daß es sich dann eben um eine besonders raffinierte Fernsteuerung handelt, die halt nicht so leicht aufzudecken ist. Die gesamte staatliche und polizeiliche Maschine versagt zusehends an uns, weil sie nur darauf abgestellt ist, ferngesteuerte Subversion zu zerschlagen. Auf eine demokratische, von der politischen Verantwortung des einzelnen getragene Massenopposition ist dieser Apparat wenig vorbereitet. Er ist auf einen politischen Gegner eingestellt, der in der selben Weise Politik macht, wie er selbst: nämlich Menschen manipulierend und an Drähten ziehend. Der "harte Kern" der "Drahtzieher" in Senat, Parteien und DGB-Spitze sucht verzweifelt sein Ebenbild, wenn er nach dem "harten Kern" der "Drahtzieher" in der außerparlamentarischen Opposition sucht. Diese nicht ungefährliche Blindheit, die immer leicht in Blindwütigkeit umschlä^ , ist eine strukturelle Schwäche des Regierenden Apparats, die wir freilich nur dann wirklich ausnützen können, wenn wir mit allergrößter Sorgfalt auf den vollkommen demokratischen und unbürokratischen Charakter unserer Zusammenarbeit achten. Zum anderen hat das Versagen und Weglaufen der Kapitalisten für diese Stadt beinahe naturwüchsig eine Frage auf die Tagesordnung gesetzt: Ob nämlich alles Wirtschaften aufhören muß, wenn die Unternehmer damit aufhören, ob unbedingt erst ein Kapitalist aus der Ferne angelockt werden muß, bevor die Berliner Arbeiter den Produktionsapparat dieser Stadt weiter ausbauen können, ob diejenigen also, die tatsächlich bislang den Reichtum in dieser Stadt geschaffen haben, unbedingt verzweifelt nach einem profitmachenden Aufseher seufzen müssen, bevor sie weiterarbeiten können oder ob sie nicht viel mehr sich mit dem Gedanken vertraut machen müssen, unter eigener Anleitung und für die eigenen Bedürfnisse zu arbeiten und zu leben.

Das heißt: die Kapitalisten, die wie Ratten das für den Kapitalismus sinkende Schiff Westberlin verlassen, stellen die arbeitenden Menschen dieser Stadt vor die Alternative des Verkümmerns oder des Vergesellschaftens der Berliner Wirtschaft. In solcher Situation können wir Vertrauen haben, daß die Arbeiter, Angestellten und die Intelligenz die richtige Entscheidung fällen werden.

  • Erschien in BERLINER EXTRA-DIENST, 36-II, 4.5.1968, S.10ff

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