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Weitere Ergänzungen zur Textsammlung Aufruhr & Revolte
 

 

BUNDESNACHRICHTENDIENST: MATERIALIEN ZU COHN-BENDIT

Der Bundesrepublik aufwendigster Geheimdienst, der Bundesnachrichtendienst (BND), hat in seinen - natürlich nicht publizierten - "Informationen", Ausgabe Juni 1968 (Nr. 23) ein Papier über den französischen Studentenführer Cohn-Bendit gefertigt. Zum Informationsdienst erschiendas Papier als "Beilage". EXTRA-Dienst ist in der Lage, das Papier im Wortlaut abzudrucken:

DANIEL COHN-BENDIT - ANARCHIST UND PHANTAST

Der 1945 in Montauban (Frankreich) geborene Sprecher der ultra-linken Studenten von Paris, Daniel (eigentlich Markus) Cohn-Bendit, entstammt einer 1933 nach Frankreich emigrierten jüdischen Familie. Für das politische Engagement in seinem Elternhaus spricht die Tatsache, daß sich sein Vater aktiv innerhalb der trotzkistischen IV. Internationale betätigte.

Cohn-Bendit, seit 1964 an der Sorbonne immatrikuliert, wechselte wiederholt die Studienrichtung; z. Z. bezeichnet er sich als Student der Soziologie. Obwohl er von den vorgeschriebenen vier Zwischenprüfungen bisher nur eine absolvierte, erhält er weiterhin aus dem Wiedergutmachungsfonds des Landes Hessen ein Stipendium. Ideologisch ist Cohn-Bendit als Anarchist anzusehen. Gewisse Elemente seiner Weltanschauung entstammen den Lehren Marcuses, andere dem Trotzkismus, dem Maoismus und dem Castrismus. In der Diktion der Kommunisten Moskauer Prägung wird ein derartiges ideologisches Gemisch als linker Eklektizismus bezeichnet. Charakteristisch ist Cohn-Bendits Stellung zur Gewalt, die er, sofern sie von den Revolutionären ausgeübt wird, als heilsam ansieht. Als Anarchist propagiert er den individuellen und kollektiven Terror. Vom ursprünglichen Grundgedanken des Anarchismus - der Abschaffung jedes gesellschaftlichen Zwanges und der Errichtung einer herrschafts- und autoritätslosen Gemeinschaft - hat sich bei Cohn-Bendit nichts erhalten. In der Bejahung des "Zwanges zum Fortschritt" erweist sich Cohn-Bendit jedoch als Leninist. In seiner Argumentation knüpft er an die anarchistische Tradition der Pariser Kommune (1871) an. Wenn jedoch die Neo-Anarchisten der Pariser Sorbonne den alt-anarchistischen Theoretiker Proudhon ("Eigentum ist Diebstahl") zu ihrem geistigen Vater rechnen, muß dies absurd erscheinen. Proudhon kämpfte zu seiner Zeit erbittert gegen den Kommunismus und warf Marx vor, anstelle des Reiches der Freiheit ein kollektivistisches Zwangssystem anzustreben. Die heutigen Sorbonne-Anarchisten hingegen scheinen objektiv als Vorhut einer ultralinken Bewegung, deren Zentrum und Kommandozentrale die Kommunistische Partei Frankreichs bildet, zu fungieren.

Das subjektive Verhältnis Cohn-Bendits zum Leninismus ist kompliziert. Obgleich er in letzter Zeit betonte, die Führung der Revolution liege bei der Arbeiterklasse und ihrer Partei, ist er von der Mission der radikalen Intelligenz durchdrungen wie früher die russischen Narodniki und Anarchisten um Bakunin und Kropotkin von der Oktober-Revolution. Nach Vorstellungen Cohn-Bendits und seiner Anhänger sollen die Arbeiter eine Massenbasis für die Durchsetzung der Ziele einer Elite-Bewegung bilden. Hierin und in der intellektuellen Arroganz ergeben sich bei Cohn-Bendit Analogien zu Dutschke und anderen SDS-Theoretikern. In ihrer im Grunde verächtlichen Haltung gegenüber den "verspießerten Proleten" klassifizieren sich sowohl Sorbonne-Anarchisten als auch SDS-Extremisten als Links-Faschisten.

Die Reformbedürftigkeit der französischen Universitäten wurde von Cohn-Bendit und seinen Anhängern als Vorwand genommen, eine "direkte Aktion" trotzkistischen Musters auszulösen. Die linksradikale Gruppe an der philosophischen Fakultät in Nanterre bereitete einen Aufstand seit Ende März d. J. vor. Aktions- und Guerilla-Trupps wurden gebildet, Molotow-Cocktails angefertigt und der Barrikadenbau geprobt. Anfang April begann der Terror der Links radikalen in Nanterre und an der "Ecole Normale Superieure". De Gaulle nannte dies in offensichtlicher Unterschätzung einen "Karneval", der dann allerdings die Initialzündung zu einer revolutionären Bewegung werden sollte. Die "direkte Aktion" sollte nach Vorstellungen Cohn-Bendits zum Guerillakampf gesteigert und bis zum Sturz des gaullistischen Regimes - ohne Rücksicht auf den Ausgang der Wahlen - fortgesetzt werden. Dabei seien die revolutionären Studenten bereit, für eine gewisse Zeit eine Ubergangsregierung zu "tolerieren". Der völlige Sturz des Kapitalismus dürfe jedoch nur um Wochen verzögert werden. In dieser Phase könnte ein studentischer Druck auf die "zur Verbürgerlichung neigenden" KPF-Führer erforderlicn werden. Als Vollstrecker der "direkten Aktion" bieten sich in letzter Zeit neben den radikalen Studenten immer mehr kriminelle und asoziale Elemente an.

Nach Lenin erfüllen in einem gewissen frühen Stadium der Revolution "Anarchisten, Sozialrevolutionäre und Sozial-Utopisten" eine durchaus nützliche Funktion bei der Zerstörung der kapitalistischen Gesellschaft. Später, nach Errichtung der Diktatur des Proletariats, werden diese radikalen Verbündeten nach kommunistischer Lesart als "schädliche Sektierer" abgewertet. (Vgl. Lenins Schrift: "Der Linksradikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus"). Dieses Stadium ist in Frankreich bisher nicht erreicht worden. Daher dienen Cohn-Bendit und seine Anhänger als Rammbock der KPF, die sich nicht exponieren muß und die Rolle der "staatserhaltenden" Partei weiter spielen kann. Indem Waldeck Röchet die studentischen Exzesse verurteilt, präsentiert er seine Partei den erschreckten Franzosen geradezu als Alternative zur Anarchie.

Sogar nichtkommunistische Publikationsorgane erweisen den Revolutionären einen unschätzbaren Dienst, indem sie die taktischen und ideologischen Unterschiede zwischen der KPF und den linken Ultras hochspielen und von den Anarchisten, Maoisten und Castristender Sorbonne als "eigentlichen Revolutionären" sprechen. Tatsächlich aber verhält es sich genau umgekehrt: Die studentischen Revolutionäre können zwar demonstrieren, randalieren, Terror ausüben und Initialzündungen auslösen, aber einen echten Umsturz nicht herbeiführen. Dies läge in der Macht der KPF, und sie konnte sich, dank Cohn-Bendit und anderer, bisher im Hintergrund halten.

Trotz seines erheblichen Einflusses auf die radikale Studentenschaft sollte der 23-jährige Cohn-Bendit nicht als revolutionärer Führer von großem Format bezeichnet werden. Rhetorisch ist er kein Danton, eher ein primitiver Agitator, der die Emotionen seiner fanatisierten Zuhörer mehr aufputscht als lenkt.

  • Erschien in BERLINER EXTRA-DIENST, 52-II, 29.6.1968, S.3f

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