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Weitere Ergänzungen zur Textsammlung Aufruhr & Revolte
  EXTRA-DOKUMENTATION
VERFASSUNGSSCHUTZ: ÜBER "LINKSEXTREME SCHULER" IN WESTBERLIN.

Die Abteilung IV der Senatsverwaltung des Inneren, der Landesverfassungsschutz, hat wieder ein Papier über die Außerparlamentarische Opposition fertig gestellt. Diesmal mit dem Titel "Linksextreme Tendenzen in der Berliner Schülerschaft". Da diese Papiere offenbar nur für den internen Gebrauch hergestellt werden und denen, die es angeht, offiziell nicht bekannt gemacht werden, erfüllt EXTRA-Dienst diese Informationspflicht: Wir veröffentlichen die neue Fleißarbeit des Landesamtes für Verfassungsschutz im Wortlaut, obwohl sie wenig Neues bringt und bereits im August dieses Jahres abgeschlossen wurde:

LINKSEXTREME TENDENZEN IN DER BERLINER SCHÜLERSCHAFT

1) Der Bundesvorstand des Sozialistischen Deutschen Studentenbündes (SDS) gab 1966 eine Anleitung zur Gründung eines Sozialistischen Schülerbundes heraus, in der u.a. die Gruppe der Schüler als eine rechtlose, unterdrückte, von undemokratischen Instanzen - Elternhaus und Schule - abhängige Gruppen dargestellt wurde.

Am 26. Februar 1967 bildeten Schüler und Schülerinnen aus 17 Städten mit organisatorischer Unterstützung des SDS ein "Aktionszentrum Unabhängiger und Sozialistischer Schüler" (AUSS) in Frankfurt/Main. Als Ziele dieses Aktionszentrums wurden eine "Demokratisierung von Schule und Erziehung" sowie die "politische Bewußtseinsbildung unter den Schülern" herausgestellt. Konkret forderten die Schüler die Schaffung unabhängiger Schülerräte. Mitbestimmung in bestimmten Fächern wie Biologie und Geschichte, die sexuelle Aufklärung im Schulunterricht und die Abschaffung jeglicher Zensur von Schülerzeitungen.

2) Anfang Februar 1967 wurde mit Unterstützung des Berliner SDS - unter maßgeblicher Beteiligung des Berufsschülers Michael Lukasik sowie des Oberschülers Peter Brandt -die Unabhängige Schülergemeinschaft (USG) gegründet. Diese Organisation wurde auf das Programm der AUSS ausgerichtet und war als Alternative zu der bestehenden und als unwirksam empfundenen Schülermitverantwortung (SMV) gedacht. Kurz nach ihrer Gründung organisierte die USG unter Mitwirkung des Medizinstudenten Hubert Bacia (SDS) eine Vortragsreihe, in der die Schüler sexuell aufgeklärt werden sollten. Diese Veranstaltungen machten die USG innerhalb kurzer Zeit in Schülerkreisen populär, so daß die ZabX der aktiven Mitglieder schnell auf 50 Schüler anwuchs. In den folgenden Monaten konntJ diese Aktivität nicht aufrecht erhalten werden. Die USG sah kaum eine Möglichkeit, mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln ihre konkreten Forderungen in d«r Schule durchzusetzen. Außerdem waren nur wenige Schüler bereit, in ihren Schulen für die Sache der USG offen zu agitieren, da sie Nachteile während ihrer Schulausbildung befürchteten. Als Michael Lukasik im Juni 1967 in den Bundesvorstand des AUSS gewählt wurde und nach Frankfurt/Main übersiedelte, verlor die USG ihren aktivsten Mitarbeiter. Die Gruppe löste sich nach und nach auf und besteht jetzt nicht mehr.

3) Nach diesem gescheiterten Versuch, die oppositionellen Schüler zu organisieren, bemühten sich die treibenden Kräfte der sog. Außerparlamentarischen Opposition (APO) -SDS und Republikanischer Club Berlin (RC) - selbst unmittelbar Einfluß auf die Schülerschaft zu nehmen. So versuchten beispielsweise SDS- und RC-Mitglieder, irn September 1967 an 4 Berliner Gymnasien unangemeldet in den Unterricht einzudringen, wobei sie vorgaben, mit den Schülern über die Untersuchungshaft des Kommune-I-Mitgliedes Fritz Teufel diskutieren zu wollen.

Die vom SDS geprägte sog. Kritische Universität (KU) versuchte, in verstärktem Maße Schüler zur Mitarbeit heranzuziehen. Dafür wurden 4 Arbeitskreise eingerichtet, di. sich speziell mit Schulfragen befassen, u.a. Herr Schafts Struktur der Schula, Kontrolle des Lehrers, Mitbestimmungsmöglichkeit für Schüler, Theorie und Praxis politischer Bildung, Kritik und Analyse West-Berliner Lehrpläne und Lehrbücher zur politischen Bildung.

Anfang Februar d. J. veranstaltete der AStA der FU Berlin im Rahmen der KU ein Wochenendseminar über das Thema "Demokratisierung der Schule". Kurz darauf wurde zur Gründung eines "Aktionszentrums für Schüler" aufgerufen, das vom Initiativausschuß der KU finanziell unterstützt werden soll. Es ist geplant, in diesem Aktions Zentrum Diskussionsräume, eine psychologische Beratungsstelle für sexuelle Fragen und Fragen, die sich aus Konflikten in Elternhaus und Schule ergeben, und einen Informationsraum, in dem Materialsammlungen zu wichtigen gesellschaftspolitischen Fragen aus liegen, einzurichten.

In den vergangenen Monaten bemühte sich die APO besonders um die Gruppe der Berufsschüler, die sie gleichzeitig als Vertreter der Arbeiterschaft betrachtet. Nach Äußerungen von SDS-Funktionären bestehen an einigen Berufsschulen bereits kleinere Gruppen, die u.a. für die Verteilung von Flugblättern eingesetzt wurden.

Ende Februar diskutierte der SDS nach einem Treffen mit etwa 70 Berufsschülern auf einer Generalratstagung die Aufstellung einer sog. antiautoritären Gruppe in den Berufsschulen. Unter Mitarbeit* ehemaliger USG-Mitglieder fand daraufhin am 15. März 1968 ein Treffen mit etwa 300 Berufsschülern in der TU Berlin statt, das jedoch nicht zur Gründung einer neuen Schülerorganisation führte. Indessen wurde im RC Berlin der Arbeitskreis "Berufsschule und Gesellschaft" gegründet, der sich u.a. zum Ziel gesetzt hat, Aktionskomitees in den Berufsschulen zu bilden.

4) Die Einflußnahme der APO auf die Schülerschaft blieb in der vergangenen Zeit nicht ohne Wirkung. Sie fand zunächst ihren sichtbaren Ausdruck darin, daß sich an allen grös-seren Demonstrationen der APO eine erhebliche Zahl von Schülern beteiligte, die auch Auseinandersetzungen mit der Polizei nicht auswich. Unter den Personen, die bei Ausschreitungen in polizeilichen Gewahrsam genommen wurden, befanden sich bis zu 20 % Schüler.

Zahlreiche Oberschüler und Berufsschüler arbeiten in den Basisgruppen der APO mit. Die Basisgruppe Reinickendorf besteht nach Angaben ihres Leiters beispielsweise zu 50 % aus Schülern. Vor kurzer Zeit wurde in Steglitz eine Schüler-Basisgruppe gegründet. In den vergangenen Monaten wurden einige Fälle bekannt, in denen Schüler mehr oder weniger erfolgreiche Aktionen in den Schulen inszenierten. So traten zum Beispiel anläßlich der zweiten Lesung der Notstandsgesetzgebung am 15. Mai 1968 200 Schüler der Karl-Friedrich-von Siemens-Schule in einen Unterrichtsstreik und versammelten sich auf einem nahegelegenen Sportplatz, um über die Notstandsgesetze zu diskutieren. Der Schulleiter sah sich daraufhin gezwungen, den Unterricht abzusagen.

Ein sog. "Aktionskomitee der Schüler" plante mit Unterstützung des SDS und anderer "progressiver Studenten", das "Sportfest der Schulen", das am 25. Mai d. J. im Olympia-Stadion stattfinden sollte, zu stören. U.a. war vorgesehen, mit einer Gruppe von etwa 200 - 300 Personen den Rasen zu besetzen, um dadurch die Schüler zu ähnlichen Aktionen zu ermutigen. Das Sportfest wurde nach Bekanntwerden dieser Planung abge sagt.

Schüler der Frithjof-Nansen-Schule zogen am 24. 5. d. J. auf dem Schulhof ihre Mitschüler in Diskussionen über die Notstandsgesetzgebung und den Ausfall des Stadion-Sportfestes und versuchten, sie vom weiteren Unterricht fernzuhalten.

Auf der 194. Sitzung des Berliner Schülerparlaments im Juni d. J. wurde dessen Auflösung beantragt. Der Antrag, über den erst im September d. J. abgestimmt wird, wurde von Mitgliedern des "Aktionskreises Schülerselbsthilfe" (ASH) eingebracht und von einem großen Teil der Schüler mit Beifall aufgenommen. Der ASH setzt sich nach eigenen Angaben aus etwa 70 Schülern und Lehrern zusammen. Einer seiner Initiatoren, C. Con-stantin Bartning, sprach als Schülervertreter auf der Kundgebung der APO am 1. Mai d. J. Darüber hinaus bildeten sich an zahlreichen Schulen Gruppen, die enge Verbindung zur APO, insbesondere zum SDS und zu den Studentenvertretungen der FU und TU, halten. Dazu gehören z. B. der Kreis um die Schülerzeitungen "Roter Turm" an der Schadow-Schule und "Rote Sophie" an der Sophie-Charlotten-Schule; ferner die "Kritische Schülergruppe" am Goethe-Gymnasium, ein sog. Anti-Notstands-Komitee der Freiherr-vom-Stein-Schule und das "Aktionskomitee" der Hermann-Hollerith-Schule.

5) Die Zahl der Schüler, die in mehr oder weniger organisierter Form aktiv in der APO mitarbeitet oder noch zu deren Anhänger gerechnet werden kann, ist auf Grund der nur lückenhaft vorliegenden Erkenntnisse nicht zu schätzen. Da es auch innerhalb der APO und des SDS keine echte Führungsspitze, sondern eine Vielzahl von Ausschüssen, Komitees, Arbeitskreisen usw. gibt und eine zentrale Steuerung der Arbeit mit den Schülern offenbar nicht erfolgt, konnte auch aus diesen Kreisen kein klares Bild über den Umfang linksextremer Tendenzen in der Schülerschaft gewonnen werden.

Zweifellos sind Themen der Sexualaufklärung für Schüler stets attraktiv, ebenso würden sie Freude an den zahlreichen vom SDS und der APO durchgeführten Happenings haben. Es dürfte auf der anderen Seite aber auch feststehen, daß ein großer Teil besonders der älteren Schüler mit dem nach ihrer Auffassung autoritären Schulsystem unzufrieden ist und den revolutionären Vorstellungen des SDS leicht unterliegt.

Der Einfluß, den die APO auf die Lehrerschaft, insbesondere auch auf die jungen, die Pädagogische Hochschule verlassenden Lehrer, auszuüben bemüht ist, dürfte in letzter Zeit nicht geringer geworden sein. Die Position der APO an der Pädagogischen Hochschule, bestärkt durch die Haltung einiger Professoren und Dozenten (Professor Dr. Wil-fried Gottschalch, Professor C. Wolfgang Müller), zeigt, daß die extremen Pläne des SDS sich offensichtlich weiter durchsetzen könnten.

Quelle: Berliner EXTRA Dienst 5.10.1968, Nr. 80/II, S.5-7

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