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Der BVG-Streik

Ein Bericht aus der Roten Presse Korrespondenz 26.9.1969
entnommen einem Artikel aus der Arbeiterpresse
 

Am Donnerstag letzter Woche griff die Streikwelle auf Westberlin über. Am frühen Morgen beschlossen die Arbeiter der Müllabfuhr spontan, nicht auszufahren. Am Vormittag setzte sich der wilde Streik im Betriebsbahnhof der BVG "Cicerostr. " fort —und hatte sich in deni Nachmittagsstunden auf die Mehrzahl der Buslinien und für zwei Stunden lang auf den gesamten U-Bahnverkehr ausgedehnt.

Als Ursache des spontanen Streikausbruchs wurde öffentlich die am Tage zuvor geäußerte ministerielle Ablehnung einer Aufnahme von Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst noch vor den Bundestagswahlen bezeichnet. Diese Deutung wurde verstärkt durch die von der Gewerkschaft ÖTV erhobene Forderung nach Lohnerhöhung von DM 1OO, —.

Konnte die BZ in ihrer Ausgabe am Freitag die in der Arbeiterschaft verbreitete Sympathie mit den streikenden Arbeitern der BVG dadurch unterlaufen, daß sie die im Vergleich zur Berufsqualifikation verhältnismäßig hohen Löhne in der BVG veröffentlichte, die sie zudem tunlichst vergaß, nach Dienstalter, Kindergeld und betrieblichen Zulagen aufzuschlüsseln. BZ und ÖTV verschleierten beide auf ihre Weise die seit langem (mindestens einem Viertel Jahr) sich steigernde Unruhe, die mit den besonderen Arbeitsbedingungen in der BVG zusammenhängt und die zu einer Streikbereitschaft unter der Belegschaft geführt hatte. Den Streik auszulösen bedurfte es nur eines Anlasses: eine Streikwelle und eine zugespitzt verlaufene Personalversammlung auf dem Betriebsbahnhof Cicerostr.

DIE ARBEITSSITUATION BEI DER BVG (AUTOBUSVERKEHR)

1. DIE ARBEITSZEIT

Der Normalbeschäftigte (Fahrer/Schaffner) bei der BVG kann zwischen zwei Arbeitszeiteinteilungen wählen, dem "Großen Turnus" und dem "Nebenturnus" oder "Geteilten Turnus" (GT). Der Große Turnus umfaßt sieben Tage Arbeit und daran anschließend zwei freie Tage. Am ersten Arbeitstag beginnt der

Dienst mit einem Spätdienst (von etwa 17-18 Uhr bis 1-2 Uhr nachts) und endet am letzten Arbeitstag mit einem Früh- oder Nachtdienst (Arbeitsschluß etwa 12 Uhr, bei Nachtdienst etwa 5, 3o Uhr). Die Höchstdauer einer Schicht ist im Tarifvertrag auf acht Stunden 4O Minuten festgelegt; im allgemeinen beträgt die Schichtdauer etwa acht Stunden. Zwischen zwei Schichten muß eine gesetzlich vorgeschriebene Mindestruhe von zehn Stunden eingehalten werden. Hinzu kommen zwanzig Minuten Vorbereitungs- bzw. Abrechnungszeit für den Schaffner, entsprechende Zeit für Vorbereitung und Abstellung des Fahrzeugs für den Fahrer.

Diese Schichteinteilung hat erstens zur Folge, daß die Arbeiter einem ständig wechselnden Schlaf- und Mahlzeitenrythmus unterliegen, und daß zweitens tatsächliche Freizeit nur an den freien Tagen und vor dem ersten Spätdienst und nach dem letzten Dienst verbleiben.

DER "NEBENTURNUS" ODER "GETEILTE TURNUS" (GT)

Um den erhöhten Personalbedarf während des Berufsverkehrs zu decken, hat die BVG den sogenannten "Geteilten Turnus" eingerichtet. Die Arbeiter im "geteilten Turnus" fahren montags bis freitags zwei Dienstteile von zusammen acht Stunden im Früh- und Nachmittagsberufsverkehr. Sie haben jeden zweiten Samstag und jeden Sonn- und Feiertag frei. Der geteilte Turnus wird durch eine Zusatzzahlung honoriert. Der Tagesverlauf des im GT Beschäftigten ist durch seine Arbeit total festgelegt. Wenn er abends nach Hause kommt, ist er völlig erschöpft und muß bald schlafen, da sein Dienst bereits um 5 Uhr wieder beginnt (Die Aufstehzeit liegt je nach Anfahrtszeit 1 bis 1 1/2 Stunden früher). Die Zwischenzeit zwischen den Dienstteilen beträgt zwischen 2 1/2 und 6 Stunden und reicht gewöhnlich nicht für Freizeitunternehmungen aus, insbesondere deshalb nicht, weil jede Beschäftigung von der Angst vor Verspätung überschattet ist, die in der BVG besonderen Sanktionen unterliegt (s. u.). Viele Arbeiter verschlafen diese Zeit, um abends fernsehen zu können.

Trotz der dargestellten Nachteile ist der Andrang zum GT groß, weil viele Arbeiter gerne mit ihren berufstätigen Frauen und ihren Kindern wenigstens das Wochenende gemeinsam verbringen möchten, und weil die Arbeitszeit sich nicht ständig verändert Deshalb kann nur ein Teil der Bewerber im GT aufgenommen werden. Die Auswahl erfolgt im allgemeinen nach Dienstalter. In beiden Diensteinteilungen (Großer Turnus und Nebenturnus) ist die Zahl der arbeitsfreien Tage im Vergleich zurPrivatin-dustrie kleiner. (115 Tagen in der Industrie stehen nur SO freie Tage in der BVG gegenüber.)

2. DER ARBEITSPLATZ

Die Fahrzeuge des Autobusverkehrs - ausgenommen die Doppeldeckereinmannwagen - sind größtenteils überaltert (einige sind älter als 15 Jahre.) und technisch unzureichend ausgestattet. Die technische Ausstattung erfüllt an vielen Stellen nicht einmal die allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen. Die Nichterfüllung gesetzlicher Bestimmung ist dadurch möglich, daß die BVG viele kostensparende Sondergenehmigungen besitzt. So haben immer noch viele Wagen eine offene Plattform, so daß der Arbeitsplatz des Schaffners nicht nur gefährlich, sondern im Winter auch hinreichend kalt ist. Auch bei Wagen mit Plattformtür ist die Heizung völlig unzureichend und entspricht nicht den Möglichkeiten der Technik.

Obwohl es für Autobusse geeignete kupplungsfreie Automatikgetriebe schon lange gibt, haben viele Wagen noch ein Schaltgetriebe. Das Kupplungspedal hat in diesen Wagen einen Gegendruck von 4O kg. und muß im Linienverkehr l 5OO - 3 OOO mal in einer Schicht getreten und während des Stehens an Haltestellen und Ampeln durchgetreten gehalten werden. Aber nicht nur der Fahrer leidet unter dem Schaltgetriebe, der Schaffner hat das beim Schalten zwangsläufig entstehende Rucken des Wagens acht Stunden lang in den Beinen abzufangen, Die Wagen sind entgegen den gesetzlichen Bestimmungen auf Grund von Sondergenehmigungen nicht mit einer Lenkhilfe ausgestattet. Das Fehlen einer Lenkhilfe erhöht nicht nur den körperlichen Arbeitsaufwand des Fahrers, sondern macht auch das Festhalten des Lenkrades fast unmöglich, wenn der Fahrer versehentlich einen Ziegelstein überfährt oder die Bordsteinkante mit dem Vorderrad schleift. Dadurch verursachte Unfälle werden ausschließlich dem Fahrer angelastet und haben häufig eine Dienstdegradierung zur Folge.

Die meisten alten Wagen entwickeln im Inneren des Wagens Überlaute Fahrgeräusche, die bei den Veteranen noch durch allerlei Klappergeräusche verstärkt werden. Sind diese schon dem Fahrgast lästig, der nach 2O oder 3O Minuten den Wagen wieder verläßt, so sind sie ab Dauergeräusche während acht Stunden fast unerträglich.

Die BVG ist verpflichtet, dem Fahrpersonal an den Endstellen ausreichende Austretegelegenheiten zur Verfügung zu stellen. Dieser Pflicht kommt sie auf vielen Linien dadurch nach, daß sie mit Gaststätten einen Toilettenmitbenutzungsvertrag abschließt. Diese Toiletten sind dann nicht ganztägig und nicht an allen Wochentagen zugänglich. An einigen Endstellen (besonders Endstellen von Einsatzwagen mit verkürzter Linienführung) gibt es überhaupt keine Austretegelegenheit. Die BVG-eigenen Toiletten an den Endstellen und auf den Betriebshöfen zeichnen sich durch das Fehlen von Toilettenpapier und hygienisch unzumutbare Verschmutzung aus.

Die Kantinen auf den Betriebshöfen sind nur acht Stunden lang (8-16 Uhr) geöffnet, obgleich die BVG ein rund-um-die-Uhr-Betrieb ist. Sie sind zusätzlich personell unterbesetzt und der dort erhältliche l mbiß ist schlecht und nicht billig. Die durch die aus Kostenersparnis des Senats künstlich verschlechterten Arbeitsplatzbedingungen fördern Berufskrankheit und Berufsinvalidität besonders bei den älteren Arbeitern, die keine Möglichkeit mehr haben, den Arbeitsplatz zu wechseln. (Bandscheibenschaden und Senkmagen sowie Rheuma sind die typischen Krankheiten des Fahrers, Meniskusschäden die des Schaffners).  Da aber die Tätigkeiten als BVG-Fahrer und -Schaffner nicht als Berufe anerkannt werden, gibt es arbeitsrechtlich auch keine BERUFSkrankheiten oder BERUFSiInvalidität und daraus ableitbare Ansprüche auf entsprechende Sozialleistungen.

3. ARBEITSBEDINGUNGEN

Die Fahrzeiten sind auf den meisten Linien sehr knapp. Die BVG ist stolz darauf, einen besonders schnellen innerstädtischen Autobusverkehr zu haben. Die Folge ist eine hohe nervliche Anspannung des Fahrers. Er muß im dichten Verkehr den Sicherheitsabstand auf ein Minimum reduzieren, um möglichst schnell vorwärts zu kommen und den Fahrplan einhalten zu können. Jede Verlängerung der Fahrzeit geht auf Kosten der dringend benötigten Pausen an den Endhaltestellen. Beschwerden der Fahrer bei der Betriebsleitung über zu knapp bemessene Fahrpläne werden regelmäßig durch Aussagen von Verkehrsmeistern in Zivilkleidung, die die Fahrplaneinhaltung der Busse etwa aus Hauseingängen heraus beobachten, dementiert.

Das dichte Fahren wiederum hat ein häufigeres und plötzlich Bremsen zur Folge, die die Sicherheit der Fahrgäste gefährdet. Der Sturz eines Fahrgastes gilt als Unfall, muß der BVG gemeldet werden und wird wiederum dem Buspersonal schuldhaft angelastet.

Im Linienverkehr ist ein Sechstel der Arbeitszeit als Pausenzeit gesetzlich vorgeschrieben. Der BVG ist es in ihrer Fahrplangestaltung gelungen, zusätzliche Pausenzeit "einzusparen" und auf die gesetzlich vorgeschriebene Zeit einzuschränken. Um die Arbeitszeit möglichst vollständig zu füllen, wird das Personal innerhalb einer Schicht oft auf mehreren Linien nacheinander eingesetzt. Die Zeiten, um von einer Linie auf eine andere zu gelangen, sind genau berechnet und auf ein Minimum reduziert. Ein Computer hat inzwischen die durch den Turnus nicht ausgefüllten Zeiten, die zusätzliche Pausen und Reservedienste der Arbeiter ermöglichten, weitgehend ausgeschaltet, so daß ein im Berufsverkehr aus technischen Mängeln ausfallender Bus nicht ersetzt werden kann.

4. DIE LOHNSITUATION

Um Vergleichsmöglichkeiten mit den Löhnen in der Privatindustrie zu haben, seien hier kurz die Stundenlöhne und Zulagen für BVG-Fahrer und -Schaffner aufgeschlüsselt:

Stundenlöhne Fahrer Schaffner
     
Anfangsgehalt 5,18 4,52
nach 2 Dienstjahren 5,30 4,62
nach 4 5,32 4,64
nach 6 5,37 4,69
nach 8 5,42 4,73
nach 10 5,47 4,77
nach 12 5,55 4,85

Nach 12 Dienstjahren steigt der Lohn nicht weiter an. An Zulagen zum Stundenlohn verdient der Arbeiter an Sonn- und Feiertagen zusätzlich 1O % des nach Dienstalter festgelegten Stundenlohns. Wenn der Feiertag auf einen Sonntag fällt (ein Fall, der etwa dreimal im Jahr eintritt), erhält er zusätzlich pro Stunde 1OO % des Stundenlohns.)

Einmannfahrer mit Inkasso zusätzlich 12% des Stundenlohns. Der Nachtdienst, der nach 23 Uhr 3O endet oder vor 4 Uhr morgens beginnt, wird mit einer Zulage pro Schicht von 1,2O DM honoriert, der geteilte Dienst mit einer Zulage von DM 4,73.

5. BESONDERE UNTERDRÜCKUNGSMETHODEN UND VERGÜNSTIGUNGEN BEI DER BVG.

Tritt ein BVG-Arbeiter seinen Dienst verspätet oder gar nicht an, so wird in m nicht nur wie in der Privatwirtschaft die versäumte Arbeitszeit von seinem Lohn abgezogen (der abgezogene Lohn -wird auf eine halbe Stunde aufgerundet -wahrend zusätzliche Arbeitzeit nach Minuten vergütet wird), sondern er hat sich zusätzlich einer besonderen Zeremonie zu unterziehen: er wird zum Vorsteher seines Betriebshofes zitiert, bekommt ein Formular, auf dem seine Verspätung eingetragen ist, vorgelegt und hat sich zu rechtfertigen. Der Dienstschluß um 18 Uhr und die dazwischenliegende kurze Freizeit bis zur neuen Schicht um 4 Uhr 2O werden nicht als Grund akzeptiert. Der genannte Grund wird vom Vorsteher in das Formular eingetragen und dieses im Beisein des Delinquenten mit der fortlaufenden Nummer seiner Versäumnisse versehen und zur Personalakte gelegt. Dem Arbeiter ist klar, daß diese Zettel zu seinem Nachteil verwandt werden können, z. B. um seine durch Rationalisierung oder durch aufsässiges d. h, politisches Verhalten verursachte Entlassung zu begründen. Sie können aber auch dazu verwandt werden ihn von Vergünstigungen auszuschließen. Der terroristische Mechanismus besteht aber in der willkürlichen Handhabung. Niemand weiß, welche Anzahl an Versäumnissen als tragbar gelten.

Ähnlich wird bei verschuldeten Verkehrsunfällen der schuldige Fahrer verhört und ein entsprechender Aktenvermerk bei der Personalakte angelegt. Im günstigen Falle wird ihm eine Belehrung erteilt, die er quittieren muß, im ungünstigen Fall wird er zum Hofkehrer oder Kellenheber bei der U-Bahn degradiert. Umgekehrt wird besonderes Wohlverhalten durch Privilegien honoriert. Wohlverhalten besteht nicht nur aus pünktlichem und ordnungsgemäßen Versehen des Dienstes, sondern auch aus höflichem Grüßen von Vorgesetzten bis zur Denunziation von Kollegen. Die Privilegien reichen vom Einsatz im Hofdienst, der durch ruhigere Arbeit und gleichmäßige Arbeitszeiten ausgezeichnet ist, bis zur Empfehlung zur Ausbildung als Kassenschaffner, Dienstzuteiler etc. Der Aufstieg ist mit einer Anwartschaft auf den Angestelltenstatus verbunden.

6. DAS BESONDERE KORRUMPIERUNGSSYSTEM DER GEWERKSCHAFTSFUNKTIONÄRE.

Die gewählten Betriebsräte, die bei der BVG Personalräte genannt werden, werden von der Verwaltung dadurch korrumpiert, daß sie regelmäßig nach Ablauf ihrer Amtszeit, in der sie von der Arbeit freigestellt sind (der stellvertretende Personalrat hat zwei bis vier Stunden zu arbeiten), zur Ausbildung als Verkehrsmeister empfohlen werden. Damit rückt der Arbeiterfunktionär in den Angestelltenstatus und in die Rolle des Vorgesetzten auf. Es ist einsichtig, daß diese gewählten Arbeitervertreter ihre Möglichkeiten zum Widerstand gegen die Verwaltung grundsätzlich eng auslegen oder gar nicht wahrnehmen. So nimmt es auch nicht wunder, daß die Beschwerden der Arbeiter über die Arbeitsbedingungen grundsätzlich nicht über die Instanzen dieser Funktionäre hinausgelangen. Die Arbeiter wissen, daß ihre Funktionäre nichts für sie tun und haben sich auch nicht gewundert, als diese bei Ausbruch des Streiks zumeist fluchtartig die Betriebshöfe verließen.

7. DIE FOLGEN DER WIRTSCHAFTSZYKLEN AUF DIE ARBEITSSITUATION IN DER BVG.

Trotz der schlechten und repressiven Arbeitslage in der BVG besaß der "Beruf" noch ausreichend Anziehungskraft bis zur Rezession 1966/67. Die für einen ungelernten Arbeiter relativ hohen Löhne, die innerbetrieblichen Zulagen wie Kindergeld schon vom ersten Kind an und insbesondere die Sicherheit des Arbeitsplatzes verliehen dem Beruf eine Attraktivität. Die inflationäre Entwicklung minderte aber nicht nur die Reallöhne, in der Rezession erfuhren die Arbeiter auch, daß ihr Arbeitsplatz keineswegs gesichert ist. _ Die Rezession stellte eine aus der Industrie entlassene Reserve für die BVG, die es dieser ermöglichte, alle gesundheitlich schwachen, häufig zu spät kommenden oder sonst wie mißliebigen Arbeiter zu entlassen. Die Abwanderung aus der BVG in der steigenden Konjunktur durch Arbeitskräftebedarf in der Industrie suchte sie durch Rationalisierung im Betrieb wettzumachen. Seither stellt die Arbeitsplatzsicherheit keine Kompensation mehr für die schlechten Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten dar. Die wachsende Unruhe in der Arbeiterschaft war daher nicht primär durch die Lohnsituation verursacht, und die sich artikulierenden Forderungen richteten sich daher auch nicht auf Lohnerhöhungen, sondern auf Verlängerung der Freizeit zwischen den Schichten, auf großzügigere Gestaltung der Fahrpläne, auf Mitwirkung an der Schichteinteilung, auf die Nichtanrechnung der freien Sonnabende auf den Urlaub, und erst in letzter Linie auf die im Zuge von Inflation und steigenden Profiten selbstverständliche Anhebung der Löhne.

VERLAUF DES STREIKS:

Am 18.9. fand auf dem Betriebsbahnhof Cicerostr. eine Personalversammlung statt, auf der sich der Unmut der Belegschaft artikulierte. Als die Belegschaft aufgrund von Äußerungen der auf dieser Versammlung anwesenden Vorgesetzten, die nicht wörtlich festzustellen waren, begriff, daß sich kampflos an den bestehenden Arbeitsbedingungen nichts ändern würde, beschieß sie zu streiken. Dieser Streik kam spontan und ohne Mitwirkung der ÖTV zustande.

Zu dieser Zeit war der Frühberufsverkehr bereits vorbei und die Linienwagen auf der Strecke. In Selbstorganisation setzten daraufhin einige Betriebsangehörige ihre auf dem Kurfürstendamm fahrenden Kollegen von dem Streikbeschluß in Kenntnis. Diese fuhren zum Betriebsbahnhof zurück, so daß gegen Mittag der Autobusbetrieb auf dem Kurfürstendamm praktisch ruhte. Da der Streik jedoch spontan und völlig unorganisiert war und die Kommunikation unter den Betriebsangehörigen durch ihre Isolation am Arbeitsplatz schlecht ist, breitete sich der Streik trotz allgemeiner Streikbereitschaft nur ganz allmählich aus. Die Kommunikation über Funk, die für die Einmannwagen besteht, wurde nur unzureichend genutzt und außerdem durch Dementis der Funkzentrale wirkungslos.

Am späten Nachmittag hatte der Streik jedoch fast alle Linien erfaßt bis auf einige in den Außenbezirken, die auch am Abend von der Arbeitsniederlegung ihrer Kollegen noch nichts wußten.

MÄNGEL DER ORGANISATION UND WARUM DER STREIK AM FREITAG NICHT WEITERGEFÜHRT WURDE. ;

Die Mängel der Organisation wurden während des Streikverlaufs ganz offensichtlich. Die Arbeiter der Cicerostr. informierten zwar die Kollegen ihres eigenen Betriebsbahnhofs, dachten aber nicht dar.an, auch die Kollegen der sieben übrigen Berliner Betriebsbahnhöfe zu unterrichten. Die Forderungen an die Gewerkschaften wurden von der Belegschaft des Betriebsbahnhofs Cicerostr. formuliert, aber es wurde nichts unternommen, für Öffentlichkeit dieser Forderungen zumindest in anderen Betriebsbahnhöfen zu sorgen. Der Mangel an Organisation ermöglichte der ÖTV die noch am Donnerstag einsetzende erfolgreiche Abwiegelungsstrategie. Mit einem Aufruf zur Fortsetzung der Arbeit am, Freitag und der gleichzeitigen Ankündigung von Verhandlungen

am Montag zwischen der Berliner ÖTV und der BVG erreichte sie den Streikabbruch. Am Montagnachmittag war dann folgender Anschlag der ÖTV am Gewerkschaftsbrett zu lesen: "Liebe Kollegen, am Montag kamen die Vorsitzenden der Gewerkschaftskommissionen und der Personalräte aller Betriebsteile (Fahrdienst und Technik) im ÖTV-Haus zu einer Sondersitzung zusammen.

Es wurde nochmals über unsere Forderungen und die gegenwärtige Situation gesprochen. Die Sitzung wurde nach der durch Fernschreiben aus Stuttgart durchgegebenen Meldung, wonach die große Tarifkommission der ÖTV und der VKA (Verband Kommunaler Arbeitgeber) am Mittwoch zusammentreten werden,beendet. Damit sehen die Funktionäre ihre Forderung nach SOFORTIGEN Verhandlungen erfüllt. Im Interesse der Beruhigung der Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst hoffen wir, daß es am Mittwoch zu den von uns gewünschten Vereinbarungen kommt, " Entweder hatten die Funktionäre von der ÖTV die Forderungen der Belegschaft nicht verstanden, oder sie spekulierten auf die Unwissenheit der Arbeiter, auf welchen Ebenen welche Forderungen verhandelt werden können. Verhandelt wurden in Stuttgart nur die überregional festgelegten Tarife, nicht verhandelt werden können die innerbetrieblichen Regelungen, die von der ÖTV mit den jeweiligen Verwaltungen des öffentlichen Verkehrs ausgefochten werden müssen, und um diese Regelungen ging und geht es den Arbeitern der BVG.

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Der Artikel wurde entnommen der in Berlin erscheinenden ARBEITERPRESSE Nr. 2 vom 25. 9.1969

 

  Editorische Anmerkungen

Der Artikel erschien in
Rote Presse Korrespondenz
DER STUDENTEN-SCHÜLER-UND ARBEITERBEWEGUNG
1969, 1. Jg, Nr. 32, 26.9.1969, S. 2-4
Redaktion: Solveig Ehrler, Günther Matthias Tripp, Betriebsbasisgruppen. Ad-hoc-Gruppen an den Hochschulen, Internationales Forschungsinstitut des SDS (INFI), Berufsbasisgruppen im Republikanischen Club Berlin, Zentralrat der Sozialistischen Kinderläden

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