zurück Septemberstreiks 1969
Materialsammlung zu den Filmveranstaltungen im September 2009
 


Die spontanen Streiks 1969
Leseauszug aus: Staatsdiener im Klassenkampf

von Gerhard Armanski, Boris Penth, Jörg Pohlmann

Die Septemberstreiks 1969 in der Industrie griffen bald auf den öffentlichen Dienst über. Auch die staatlichen Lohnarbeiter forderten — wie ihre Kollegen aus der Industrie — Teuerungszulagen bzw. vorgezogene Tarifverhandlungen. Inder Version der Gewerkschaftsführung:

„Die Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes erwarteten etwas von ihrer Gewerkschaft. In zahlreichen, von Tag zu Tag sich mehrenden Entschließungen verlangten sie sehr bestimmt und dringend mehr Geld. Sie wußten, daß ihre Gewerkschaft das Erforderliche tun würde, aber sie waren ungeduldig. Es kam zu Protestversammlungen während der Arbeitszeit und auch zu spontanen Arbeitsniederlegungen. Die ÖTV aber nahm rasch und entschieden die Führung in die Hand, setzte sich mit den Arbeitgebern in Verbindung, stellte die Forderungen und bestimmte nun die Entwicklung" (399).

Keinesfalls sei die Gewerkschaft von der Entwicklung überrascht worden. Sie habe „keinen Vorwand liefern wollen, die Gewerkschaft der vertragswidrigen Störung des Arbeitsfriedens zu bezichtigen", erkläre aber „den aktiv gewordenen Mitgliedern ihre ganze Sympathie" (400).

Der Ablauf der Ereignisse (401) zeigt allerdings eher das Bild von einer ÖTV-Führung, die keineswegs an der Spitze der Bewegung stand, wohl aber das Heft fest in der Hand hatte.

Nach der Ablehnung sofortiger Tarifverhandlungen durch den Bundesinnenminister kommt es zu spontanen Arbeitsniederlegungen. In Duisburg nehmen die Arbeiter der Müllabfuhr und der Stadtreinigung die Arbeit nicht auf. Die Arbeiter der Essener Betriebswerkstatt (Fuhrpark) treten in einen spontanen Streik. In München und Nürnberg kommen Beschäftigte der Verkehrsbetriebe zu Protestversammlungen während der Arbeitszeit zusammen; in einzelnen Fällen wird die Arbeit niedergelegt. Die Streiks sollten der Großen Tarifkommission der ÖTV den Rücken stärken. Während sie zusammentritt, treffen unaufhörlich neue Meldungen über Arbeitsniederlegungen, Arbeitsunterbrechungen, Protestversammlungen und Vorbereitungen für größere Streiks ein.

Am folgenden Tag greifen die spontanen Streiks weiter um sich. In Westberlin legen am 18. September rund 1 200 Angehörige der städtischen Müllabfuhr die Arbeit nieder. Später schließen sich ihnen die Busfahrer und -Schaffner der BVG und viele Arbeiter der Stadtreinigung an. Danach bricht der Busverkehr in Teilen der Stadt im Laufe des Nachmittags völlig zusammen. Auch das U-Bahn-Personal tritt in einen 1 1/2-stündigen Warnstreik und kündigt für den folgenden Tag einen Vollstreik an, wenn ihre Lohnforderungen nicht erfüllt würden. Senat und örtliche ÖTV sind von den Ereignissen überrumpelt. Das Vertrauen darauf, daß die gleichzeitige Sitzung der großen Tarifkommission und des Hauptvorstandes der ÖTV in Westberlin „wenigstens auf die städtischen Bediensteten dieser Stadt beruhigend wirken würde" (402), trog. Delegationen der Verkehrsarbeiter, der Gaswerker und der Arbeiter bei der Stadtentwässerung erscheinen im Gewerkschaftshaus, um ihre Forderungen vorzutragen. Die ÖTV-Forderung beträgt zu diesem Zeitpunkt 10—15% Lohnerhöhung und die Nichtanrechnung des Samstags als Urlaubstag.

In Duisburg, Witten und Nürnberg streiken Müll- und Stadtwerker weiter bzw. treten in den Streik ein. Dabei werden Zwischenergebnisseals Abschlag auf die zu erwartenden Tariferhöhungen erzielt. Die ÖTV präzisiert ihre Forderungen: DM300 bis 31.12.1969, Nichtanrechnung der arbeitsfreien Samstage als Urlaubstage, Kündigung des Tarifvertrags zum Jahresende. Nach Meinung des Deutschen Industrieinstituts der Unternehmer, das die Streiks scharf verurteilt, „sind die wilden Ausstände im öffentlichen Dienst von den zuständigen Gewerkschaften geradezu herausgefordert worden" (403). Eine negative Anstoßwirkung für die gesamte Wirtschaft müsse befürchtet werden.

Nach der Forderung des DGB, auch den Beamten, Versorgungsempfängern und Richtern des Bundes und der Länder eine Überbrückungszulage in gleicher Höhe auszuzahlen und nach der Zusage des Berliner Innensenators und des VKA für baldige Tarifverhandlungen, ruft die Berliner ÖTV zur Wiederaufnahme der Arbeit auf. Die Vertreter von Bund und Ländern lehnen aber weiterhin Tarifverhandlungen vor den Bundestagswahlen ab.

Während die Arbeiter der BVG und der Müllabfuhr in Westberlin dem Aufruf der ÖTV folgen, kommt es in mehreren westdeutschen Städten erneut zu Arbeitsniederlegungen, die stellenweise zur Zahlung von Vorschüssen führen. Mit dem Hinweis auf die anstehenden Tarifverhandlungen gelingt es teilweise auch, Streiks zu verhindern. Die zentrale Funktionärskonferenz der ÖTV beschränkt sich zunächst darauf, mit der Kampfbereitschaft im öffentlichen Dienst zu drohen, und forderte die sofortige Aufnahme von Tarifgesprächen. Die anstehende Wahl könne nicht als Vorwand für deren Verzögerung genommen werden. Die DPG, die DAG und mehrere ständische Verbände schließen sich diesen Forderungen an.

Nach einer hinhaltenden Erklärung des Bundeskabinetts schert die VKA angesichts der zunehmenden Streiks in den Kommunen aus und einigt sich mit der ÖTV auf 300 DM Überbrückungszulage. Während der Verhandlungen treten Arbeiter der Müllabfuhr in München und Nürnberg erneut in den Streik. Nach weiterer Weigerung des Bundes und der Länder, ein Angebot vorzulegen, veranstaltet der DBB in Hamburg eine große Kundgebung und Demonstration. Am 9. Oktober geben auch Bund und Länder nach und erklären sich zur Zahlung der gleichen Überbrückungszulage bereit. Für die Beamten, Richter und Soldaten sollte eine ebensolche Regelung folgen. Die Urlaubsfrage wird allerdings vertagt.

Die große Tarifkommission hatte gleichzeitig beschlossen, für 1970 eine Erhöhung der Ecklöhne und Grundvergütungen um 6% sowie einen einheitlichen Betrag von 70 DM für alle zu fordern (sowie mehrere Zulagen und Steigerungsbeträge). Unter dem Druck der Streiks lehnte sie ein niedriges Angebot ab und forderte am 19.12.69 ultimativ bis 9. Januar 1970 mindesten 100 DM für alle. Nach verbaler Zugeständnisbereitschaft der Arbeitgeber wurde die für den 21./22. Januar vorgesehene Urabstimmung abgesetzt. Schließlich, als „sich die Verhandlungsführer der ÖTV davon überzeugt hatten, daß keine weiteren Verbesserungen zu erzielen waren, legten sie das Erreichte zur endgültigen Abstimmung vor" (404). Das Erreichte betrug: Ecklohnerhöhung, zusätzliche Pfennigbeträge für die unteren Lohngruppen und die Erhöhung der allgemeinen Lohnzulage zusammengerechnet, monatlich zwischen 87 DM und 114 DM. Die geforderten 100DM auch für die unteren Lohngruppen wurden allerdings nur unter Einberechnung zusätzlicher vermögenswirksamer Leistungen in Höhe von 13 DM monatlich erreicht.

Fußnoten

398) Vgl. Frankfurter Rundschau vom 30.1.1969 und Industriekurier vom 1.2.1969.

399) ÖTV-Magazin 10/1969, S. 2

400) a. a. O., S. 4

401) Das Folgende nach Gewerkschaftsspiegel 30/1969, S. 22 ff. Vgl. IMSF-Studie: Die Septemberstreiks 1969, Frankfurt a. M., 1969, S. 203 f.

402) Die Welt, 19.9.1969

403) Schnelldienst des Deutschen Industrieinstituts, 74/1969

404) ÖTV-Magazin 2/1970, S. 8

 


 

 

Editorische Anmerkungen

Gerhard Armanski, Boris Penth, Jörg Pohlmann
Staatsdiener im Klassenkampf
Gaiganz 1975, S. 271ff

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