zurück Septemberstreiks 1969
Materialsammlung zu den Filmveranstaltungen im September 2009
 


EINIGE LEHREN AUS DEN STREIKS

Die Arbeiterkonferenz, die routinemäßig am 6. /7. September zusammentrat, stand unter dem Eindruck der spontan ausgebrochenen und immer mehr um sich greifenden Streikwelle. Unter den Genossen der Betriebsgruppen wurde kontrovers diskutiert, ob aus Solidarität oder als auslosendes Moment für Agitationen in Westberliner Betrieben, vor allem der Metallverarbeitung, Aktionen und Demonstrationen organisiert werden sollten.

 

Auf Grund der Einsicht, daß die adäquate Form der Unterstützung der streikenden Genossen in eigenen Streiks bestanden hätte, diese aber nicht durch Demonstrationen auszulösen wären, wurde beschlossen, durch Bericht und Auswertungen der Streiks Agitation in die Betriebe zu tragen. Flugblätter und die erste Nummer einer monatlich geplanten gesamtberliner "Arbeiterpresse" (4 Seiten; Auflage 20000) wurden vor den wichtigsten Betrieben verteilt.

 

Auf einer am letzten Freitag (12.9.1969 - khs) stattgefundenen Informationsveranstaltung in der Technischen Universität, auf der Genossen der Projektgruppe "Ruhrkampagne" und ein Genosse der Klöckner-Werke (Bremen) sprachen, wurde die folgende Analyse der Streiks in Westdeutschland und "einige Konsequenzen" für die sozialistische Bewegung in Westberlin von Wolfgang Lefèvre vorgetragen:

 

ZU EINIGEN KONSEQUENZEN DER STREIKBEWEGUNG FÜR UNSERE ARBEIT

 

Um beantworten zu können, ob wir schon jetzt aus den Streikereignissen in Westdeutschland auf einige Konsequenzen für unsere Arbeit hier in Westberlin schließen können, soll zunächst versucht werden, die für uns wichtigsten Punkte der Streikereignisse in vorläufiger Form zusammenzufassen.

 

Aus zwei Gründen ist es im Augenblick schwer einzuschätzen, ob die Streiks vorwiegend einem einfachen gewerkschaftlichen Bewußtsein der,Arbeiter Ausdruck geben oder ob sie aber darüberhinausgehende, revolutionär zu nennende Ansätze zeigen. Der eine Grund ist, daß ganz offenkundig grundverschiedene Streiktypen an den einzelnen Orten auftraten - so kann man z. B. den Kampf der bremer Klöckner-Arbeiter kaum mit den vielen Ausständen vergleichen, die sich von Gewerkschaften und Unternehmern fast mühelos durch vage Zusicherungen auf einen rückwirkenden Tarifvertrag beenden ließen. Die Einschätzung des revolutionären oder nur trade-unionistischen Charakters der westdeutschen Arbeitskämpfe ist zum zweiten deswegen schwer, weil die Kämpfe praktisch nirgends bislang auf wirklich harten Widerstand der betroffenen Kapitalisten und ihrer Manager und ebensowenig auf die Reaktion der kapitalistischen Staatsmaschine gestoßen sind.

 

Die Gründe für die Günstigkeit des Streikzeitpunktes wurden vorhin in einem Beitrag aufgezeigt: der gegenwärtige Konjunkturhöhepunkt, insbesondere der Exportorientierten Industriegiganten, der den Kapitalisten keinen längeren Produktionsausfall ohne Gefährdung der Marktposition gegenüber der internationalen Konkurrenz gestattet; zum anderen die politische Situation der Wahlkampf Wochen, in der die Konkurrenz der systemtragenden Parteien um Sitze und Posten jede entschiedene Reaktion der Regierungsapparate unmöglich macht. Diese günstige Situation, die mit den raschen ersten Erfolgen, vor allem der Hoesch-Arbeiter, das Überspringen und Grassieren der Streiks ermöglichte, ließ andererseits die Streikaktionen - eben weil es bisher kaum zu schwerwiegenden Konfrontationen kam - in einer gewissen Unentschiedenheit, was den reformistischen oder aber revolutionären Charakter dieser Streiks angeht.
Wir haben deswegen, wie es scheint, im wesentlichen nur drei Kriterien, um den Charakter der Streiks einzuschätzen; nämlich 1.) die angewandten Kampfformen, 2.) das Verhalten der streikenden Belegschaften gegenüber den Gewerkschaften und gegenüber der bürokratischen Form der Konfliktbeilegung (also vor allem gegenüber den vorgezogenen offiziellen Tarifverhandlungen) und 3.) die eventuell in den Aktionen gemachten Fortschritte für die Selbstorganisation - so wenig wir auch zu diesem dritten Punkt beim jetzigen Informationsstand sagen können. Nach diesen Kriterien müssen wir wohl drei hauptsächliche Typen von Streikaktionen unterscheiden:

 

TRADITIONELL GEWERKSCHAFTLICHE KAMPFFORM PER ARBEITSNIEDERLEGUNG

 

1.) Bei wohl den meisten Ausständen, die sich der erfolgreichen Hoesch-Aktion anschlossen, sehen wir lediglich die traditionelle Kampfform der Arbeitsniederlegung, können wir zudem keine offenen Unstimmigkeiten zwischen diesen Belegschaften und den Gewerkschaften bemerken; dagegen gehen in diesen Fällen die Belegschaften fast widerstandslos auf die von Unternehmern und Gewerkschaften schon bei der Hoesch-Aktion fieberhaft propagierte Abwiegelungslinie ein, nämlich die geltenden Tarifverträge vorzeitig zu kündigen und rückwirkend für den 1. September neue Tarifsätze auszuhandeln. Über in der Aktion entstandene Ansätze zur Selbstorganisation bei diesen Belegschaften wissen wir nichts - und werden wir, mit großer Wahrscheinlichkeit, auch nichts erfahren können. Dieser - wie es bis jetzt den Anschein hat - wohl vorwiegende Streiktyp verrät also deutlich, daß er vollständig im traditionellen, systemkonformen Rahmen stecken geblieben ist; genauer und für die Absteckung unserer Aufgaben zugeschnitten gesagt: diese Belegschaften konnten offenbar aus dem Stand, unvorbereitet und allein, ihren Streik nicht dazu nützen, auch nur einen praktischen Schritt über das eindressierte gewerkschaftliche Bewußtsein und über die mit der nurgewerkschaftlichen Organisierung gesetzte Unorganisiertheit und praktische Unfähigkeit der Belegschaft, die sich in ihren Kampfformen verrät, hinauskommen.

 

Bei dieser kritischen Einschätzung dürfen wir jedoch folgendes nicht übersehen: Zweifellos hat es auch dieser erste, kaum revolutionäre Ansätze zeigende Streiktyp mit den entwickeltsten Streikaktionen - also etwa bei Klöckner - gemeinsam, daß die Aktionen spontan und ohne jedes Zutun der Gewerkschaften begonnen werden. Daran müssen wir den objektiven Widerspruch zwischen der Belegschaft, die spontan solchen Streik beginnt, und den Gewerkschaften festhalten. Dieser im spontanen Kampfbeginn ausgedrückte objektive Widerspruch zwischen solchen Belegschaften und den etablierten Arbeitervertretungen - das haben uns insbesondere die vorjährigen Mai-Ereignisse in Frankreich gezeigt - entwickelt sich in der Anfangsphase solcher Kämpfe meist zu überhaupt keinem offenen, bewußt ausgetragenen Konflikt. Selbst die Hoesch-Arbeiter, die sich mit ihrer Forderung, daß der verlangte Stundenzuschlag vollständig unabhängig von den kommenden Tarifverhandlungen zu geben sei, ausdrücklich außerhalb der gewerkschaftlichen Abwiegelungslinie bewegten, bekundeten trotzdem bei Wiederaufnahmen der Arbeit ihre Übereinstimmung mit der Tarifstrategie der IG Metall. D. h. aber nichts anderes, als daß selbst das praktische Ausscheren von Belegschaften aus der Gewerkschaftslinie nicht bedeuten muß, daß die Arbeiter sich den darin enthaltenen Widerspruch zwischen ihrer Praxis und der Strategie der Gewerkschaften vergegenwärtigen und daraus Konsequenzen herleiten. Daß dieser Lernprozeß aus dem tatsächlichen Charakter der eigenen Praxis nicht zustandekommt, weil Ansätze zu einer alternativen Organisierung zu der bürokratisch-gewerkschaftlichen nicht entwickelt sind, liegt auf der Hand.

DER STREIK IN DEN HOESCH-WERKEN

Der 2. Streiktyp - vor allem bei Hoesch dargestellt - ist damit schon zu einem Großteil bezeichnet: Er geht in den Kampfformen (bei Hoesch z. B. das sit-in) in der Schroffheit des objektiven Widerspruchs zu den Gewerkschaften und in seiner Widerstandskraft gegen die systemkonforme Abwiegelung weit über den traditionellen, im wesentlichen von den Gewerkschaften bestimmten Praxisrahmen hinaus. (Wenn hier von Widerspruch zu den Gewerkschaften die Rede ist, so widerspricht dem nicht, daß z. B. bei Hoesch der Streik von der Vertrauensleuteversammlung beschlossen wurde; denn wir meinen zunächst den Widerspruch solcher spontanen Arbeitskämpfe zu dem gesamten außerbetrieblichen Gewerkschaftsapparat; inwieweit dagegen dieser Apparat die innerbetriebliche gewerkschaftliche Vertretung vollständig beherrscht, ist von Fall zu Fall zu prüfen; bei Klöckner Bremen z. B. ist es, wie wir hörten, kurioser Weise, eben wegen der Auseinandersetzungen im Frühsommer, umgekehrt als man erwarten de: dort ist noch der Vertrauensleutekörper zu einem Großteil vom Gewerkschaftsapparat beherrscht, nicht dagegen der Betriebsrat, )

Wenn also auch dieser zweite Streiktyp den von den Gewerkschaften bestimmten Praxisrahmen weit überschreitet, bringt er es dennoch nicht zu einem Bewußtsein davon, das für die Weiterentwicklung der Praxis bestimmend würde. Die Größe des objektiven Widerspruchs zwischen der systemkonformen Gewerkschaftslinie und diesen Streiks macht es jedoch wahrscheinlich, daß diese Kämpfe bewußt antikapitalistische und antigewerkschaftliche Ausdrucksformen und selbstorganisatorische Ansätze entfaltet hätten, wären sie auf entschiedeneren Widerstand der Kapitalisten gestoßen. (Über den tatsächlichen Stand der Selbstorganisationsansätze bei Hoesch und ähnlich liegenden Betrieben haben wir bislang leider so gut wie keine Information,)

Auch hier ist eine Anmerkung anzuschließen, die eine Tendenz zu wachsenden Widersprüchen zwischen Gewerkschaften und Belegschaften aufzeigen soll. Die Wahlkampfmatadoren und Leitartikler führen uns in diesen Tagen zum Übelwerden vor. daß sich Streiks wie der bei Hoesch scheinbar widerspruchslos als systemkonforme Korrektur eines Ungleichgewichts zwischen Lohn- und Profitentwicklung innerhalb der Konzertierten Aktion darstellen lassen; das bedauerliche Entstehen dieses Ungleichgewichts scheint dann lediglich die mangelnde Feinheit in der Symmetriesteuerung durch Tarifverträge zu zeigen. Was es mit der "sozialen Symmetrie" der letzten drei Jahre auf sich hat, darüber ist vorhin gesprochen worden. In unserem Zusammenhang wichtig an . . . dieser Argumentation ist jedoch folgendes:

Tatsächlich haben die regional gegliederten und durch lokale Bewertungseinstufungen verfeinerten Tarifverträge kaum etwas mit der tatsachlichen Frontlinie zwischen Arbeit und Kapital zu tun. Als am Ende der fünfziger Jahre in der Bundesrepublik die Vollbeschäftigung erreicht wurde, d. h. der inländische Arbeitsmarkt erschöpft war, führte in jeder Hochkonjunkturphase die Konkurrenz zwischen den Kapitalisten um Arbeitskräfte dazu, daß die betriebsinternen Leistungen, natürlich vor allem der kapitalstarken Konzerne, weit dem Lohnniveau davoneilten, das in den Tarifverträgen der Gewerkschaften ausgehandelt worden war. Und umgekehrt konnte gerade deswegen in den Rezessionszeiten und beim Aufschwungsbeginn der Konjunktur von den Unternehmern, wiederum vor allem der großen Konzerne, offener und versteckter Lohnabbau vorgenommen werden, ohne daß davon die Tarifverträge im geringsten berührt wurden. D.h. aber, die Tarifstrategie der Gewerkschaften hat nur indirekt und minimal etwas mit dem wirklichen Klassenkampf auf dem Lohnsektor zu tun; oder anders ausgedrückt: die für den Kampf im Zusammenhang mit den traditionellen Tarifverhandlungen strukturierte Gewerkschaftsorganisation ist ungeeignet, die tatsächlich wichtige Auseinandersetzung mit den Kapitalisten auf dem Lohnsektor zu fuhren (vgl. V. Mosler in "Neue Kritik" 48/49).

Dies in Betracht gezogen, erhält der Streik bei Hoesch wie Klöckner und die ähnlich gelagerten Fälle eine ganz außerordentliche strategische Bedeutung, sowenig das auch allen Akteuren bewußt gewesen sein mag. Offenkundig haben die beteiligten Arbeiter spontan die Konsequenz aus einer kapitalistischen Strukturänderung gezogen, die dem betriebsspezifischen Lohnkampf in den Großbetrieben einen Vorrang über die gewerkschaftliche Tarifpolitik verschafft. Daß die Arbeitskämpfe, die in den letzten Tagen daraus die praktische Konsequenz gezogen haben, sich von Anfang an in objektivem Widerspruch zu den Gewerkschaften entfalten mußten und zudem, wie das Beispiel Klöckner zeigt, zur erfolgreichen Durchführung dieser Sorte von Lohnkampf die selbstorganisatorischen Fähigkeiten der Belegschaft entwickeln müssen, dies ist nach dem Dargelegten also kein glücklicher Zufall, Vielmehr verlangen offenbar die in der Großindustrie geführten betriebsspezifischen Lohnkämpfe ein Maß der Beteiligung der Belegschaft, das diese Lohnkämpfe qualitativ von den bisherigen der Gewerkschaftsapparate unterscheidet.

DIE SELBSTORGANISATION DER ARBEITER IN DEN KLÖCKNER-WERKEN (Bremen)

Für den 3. Streiktyp steht im wesentlichen Klöckner-Bremen Modell. (Über den zweideutigen Charakter der saarländischen Bergarbeiterstreiks steht in der heutigen RPK das Nötige. Die gestern begonnen, und offenbar sehr weitgehenden zweiten Bergarbeiterkämpfe an der Ruhr konnten wir bei dieser Ausarbeitung dieses Beitrags noch kaum berücksichtigen.) Dieser dritte Streiktyp unterscheidet sich von den ersten beiden durch radikalere, das übliche Arsenal von Arbeitskämpfen weit überschreitende Kampfformen (vor allem die partiellen Werkbesetzungen bei Klöckner und bei m jetzigen Bergarbeiterstreik an der Ruhr); auch finden wir hier größere Widerständigkeit gegen abwiegelnde Kompromisse und klares Bewußtsein darüber, welche wirkliche Kluft zwischen der eigenen Praxis und der Gewerkschaftslinie liegt. Zudem zeigt sich deutlich, wie die radikaleren Kampfformen und das klare Bewußtsein über den nicht-trade-unionistischen Charakter der eigenen Praxis zusammenfallen mit einer großen selbstorganisatorischen Fähigkeit der Belegschaft. Von den jetzigen Bergarbeiterkämpfen an der Ruhr kennen wir die Vorgeschichte nicht; von Klöckner haben wir jedoch vorhin gehört, daß die Belegschaft dort keineswegs nur spontan und aus dem Stand gehandelt hat. Ihre vorausgegangenen Kämpfe, vor allem die im Frühsommer um die Listenwahlen zum Betriebsrat, haben offenbar Voraussetzungen geschaffen, die der Belegschaft jetzt zugute kamen,

KONSEQUENZEN FÜR DEN KAMPF IN WESTBERLIN

Für alle betrachteten Streikarten gilt also zunächst, daß über den revolutionären Charakter im wesentlichen das Maß entscheidet, in dem die Aktionen die selbstorganisatorische, von der Gängelung der Gewerkschaftsapparate befreite aktive Kampfbeteiligung und Handlungsfähigkeit der Belegschaften hervorzubringen vermochte. Dementsprechend ist das erste, ganz abstrakte Resultat für eine an diese Streikbewegung anknüpfende Arbeit oder gar Kampagne hier in Berlin, daß dabei vor allem der Zusammenhang herauszustellen ist, der . zwischen der eigenständig von der Belegschaft organisierten, aus der Umklammerung durch die Gewerkschaftsapparate gelösten Kampfführung und der Portemonnaie-Auffüllung besteht. Eine abstrakte Agitation und Arbeit z. B. für die Angleichung des westberliner Lohnniveaus an das westdeutsche wäre deswegen falsch, weil sie nicht die von den westdeutschen Kämpfen lernbare Einsicht in das einzig taugliche Mittel solcher Kämpfe vermitteln würde: eben die Einsicht in die Notwendigkeit der Selbstorganisation. Für dieses, an Binsenwahrheiten grenzende Resultat hätten wir freilich dieses teach-in kaum nötig. Ein einfaches Gedankenexperiment hilft vielleicht einen Schritt weiter.

Stellen wir uns vor, am Montag begännen hier in Westberlin -sagen wir bei Siemens und A EG-Telefunken - wegen einer Lohnforderung wilde Streiks. Wenn wir den gegenwärtigen Arbeitszustand unserer Kräfte realistisch einschätzen unter der Frage, ob wir dann den kämpfenden Arbeitern von irgendeinem wirklichen Nutzen sein würden, so müssen wir wohl eingestehen, daß wir das so wenig wären wie angesichts der  westdeutschen Streikbewegung. Wahrscheinlich würde unsere Aktivität im Solidarisierungs-seligem Erscheinen vor den betreffenden Fabriktoren und im Verteilen schlecht und recht gezimmerter, hauptsächlich abstrakte Aufrufe zur Selbstorganisation enthaltender Flugblätter bestehen; anschließend würden wir uns vier Wochen bemühen, den genauen Hergang und die initiierenden Gruppen herauszubekommen und einige Kontakte anzuknüpfen. Diese Kontakte würden jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit abstrakte Eingemeindungsversuche bleiben, d. h. unpraktische Kontakte, weil wir tatsächlich kaum imstande wären, etwas Brauchbares und Nützliches für die Praxis der betreffenden Arbeiter beizusteuern. Wenn die streikenden Arbeiter in Westdeutschland nicht nur jeden Anbiederungsversuch der etablierten Parteien zurückwiesen, sondern sich auch der APO gegenüber sehr mißtrauisch zeigten, so ist uns allen klar, daß sich darin nicht etwa zu überwindende Vorurteile der Arbeiter ausdrückten, sondern das durch historische Erfahrungen gewitzte, die Selbständigkeit in der Praxis hütende Bewußtsein, das seine Partner nach deren wirklichen Beiträgen zum Kampf beurteilt.

Wenn dieses Gedankenexperiment, vielleicht zwar ein bißchen übertrieben, im wesentlichen jedoch zutreffend ist, so liegt offenbar die eindringlichste und wichtigste Belehrung, die wir von der gegenwärtigen Streikbewegung erhalten, zunächst simpel darin, daß die Art und Weise, in der wir gegenwärtig unsere Kräfte zur Unterstützung der revolutionären Entwicklung der Arbeiterklasse einzusetzen und zu nutzen verstehen, bereits von dem geringen Wiederbeginn der Klassenkämpfe dahingehend kritisiert wird, mit der tatsächlichen historischen Bewegung in keiner Weise Schritt halten zu können. An diese wenig schöne Belehrung anknüpfend, wäre also auf Besserung unseres Arbeitsstils zu sinnen.

Vorweg jedoch noch einige Bemerkungen, die einem Mißverständnis dieses Beitrages vorbeugen sollen, das unsere heutige Diskussion leicht in eine vollständig unfruchtbare Richtung führen könnte. Ein solcher Beitrag für dieses teach-in hat weder das Recht, die bisher geleistete Arbeit mit Zensuren zu versehen, und nur durch einen Taschenspielertrick könnte dieser Beitrag den Versuch unternehmen, ein Patentrezept für die kommende Arbeit aus der Tasche zu ziehen. Kritik an und Reorganisationsvorschläge für unsere Arbeit sind notwendig Gegenstand und Resultat kollektiver Anstrengungen, Was jedoch einem solchen Beitrag nicht nur zusteht, sondern was er auch leisten sollte, das ist die Untersuchung der Frage, ob die westdeutsche Streikbewegung uns Mittel in die Hand gespielt hat, die als längst fällig diskutierte Reorganisation unserer Arbeit auf soliderer Grundlage als bisher anpacken zu können.

Es gibt unter den arbeitenden Gruppen, die lange vor der jetzigen Streikbewegung die Reorganisationsdebatte führten, wohl kaum gravierende Auffassungsunterschiede darüber, daß die Unzulänglichkeit der Arbeitsorganisation vor allem in der naturwüchsigen Zersplitterung der arbeitenden Kräfte begründet ist. Dies beginnt damit, daß man wohl kaum behaupten kann, daß die Betriebsgruppenarbeit im engeren Sinn nach wirklich diskutierten Schwerpunkten erfolgt - wenn z. B. die beiden berliner Industriegiganten Siemens und AEG-Telefunken beinahe jenseits unserer Anstrengungen liegen, so ist das gewiß ein schwerwiegendes Symptom. Zum anderen zeigt das mit dem Wort Basisgruppen-Arbeit nicht ganz gedeckte Betätigungsfeld der verschiedenen Zubringerarbeiten für Betriebsgruppen (also von Struktur-, Branchen-, Konzern-, Arbeitsbewertungssystem-Analysen, über die kaum begonnene Organisierung von Schulung bis hin zu Agit-Prop-Hilfen) nicht nur mangelnde Koordination, sondern vor allem, daß es uns nur mangelhaft gelingt, die potentiell dafür mobilisierbaren Kräfte für diese Arbeit heranzuziehen, noch auch gelingt, - da diese Kräfte natürlich nicht alles auf einmal bearbeiten können -, diese Aufgaben der Dringlichkeit nach zu ordnen und entsprechend die Arbeit zu organisieren.

Es ist in diesem Zusammenhang nicht nötig zu wiederholen, daß sich die Betriebs- und Basisgruppen-Arbeit aus der im wesentlichen studentischen Rebellion historisch überhaupt nicht anders als eben so naturwüchsig und zersplittert herausbilden konnte. Im Zusammenhang mit der westdeutschen Streikbewegung wichtiger scheint vielmehr die schon hundertmal diskutierte Tatsache, daß die mangelnde strategische Verständigung der in dieser Basisarbeit engagierten Akteure über ihre Arbeit es auch gar nicht zulassen konnte, diese Arbeit nach Stand unserer Kräfte und nach Stand der historischen Bewegung optimal zu organisieren.

Und genau für diesen wichtigen Punkt kann es doch den Anschein haben, daß die westdeutsche Streikbewegung uns soweit den strategischen Zusammenhang der notwendigen Aufgaben vor Augen führen kann, daß jetzt eine die arbeitenden Gruppierungen vereinigende Verständigung über die strategischen Schwerpunkte möglich geworden ist und damit eine nicht formal-organisatorische, sondern aus dem inhaltlichen Zusammenhang der Aufgaben entwickelte, zentralisierende Reorganisation.

Als wir vorhin versuchten, eine vorläufige und grobe Zusammenfassung der westdeutschen Streikbewegung zu geben, schienen uns vor allem zwei Punkte für unsere Arbeit wichtig:

1. ) Das offenkundige Auseinanderklaffen der von den Streikenden in ihrer Praxis begonnenen Abweichung von der systemtragenden Gewerkschaftslinie und ihrem systemkonformen Mißverständnis dieser ihrer eigenen Praxis.

2. ) Die durch die Streiks z. B. bei Hoesch und Klöckner von einem theoretischen in ein praktisch strategisches Problem verwandelte Bedeutungszunahme der betriebsspezifischen Konflikte in der Großindustrie, die zugleich, so trade-unionistisch sie auch erscheinen mögen, die von der Gängelung durch den Gewerkschaftsapparat befreite, selbstorganisierte Praxis der Belegschaft als notwendigen praktischen Inhalt mit sich führen.

Diese beiden, freilich durch eingehendere Analyse zu präzisierenden Punkte, können vielleicht doch zu einer Fortschritt bedeutenden strategischen Verständigung über unsere Arbeit führen und damit zu Kriterien der Organisierung derselben. So könnte der strategische Bedeutungswandel der betriebsspezifischen Konflikte in den konzentriertesten Industriegebilden gerade für die Entwicklung selbstorganisierter Praxis der Belegschaften vielleicht dazu führen, daß wir die Betriebsgruppenarbeit im engeren Sinne zum einen kräfteökonomisch auf strategisch wichtige Betriebe und zum anderen auf die danach herleitbaren wichtigsten Konfliktsituationen konzentrieren könnten. Zugleich würde von hieraus dem Feld der Zubringer-Analysen wohl eine Prioritätenliste von analytischen, schulenden, agitatorischen und technischen Aufgaben zu geben sein.

Auf der anderen Seite zeigt die unter 1) genannte Tatsache, daß gegenwärtig bereits erstaunlich weit verbreitet Arbeitskämpfe praktisch die systemtragende Gewerkschaftslinie verlassen, ohne daß die Akteure sich dessen ganz bewußt würden und dadurch fähig, praktische Konsequenzen daraus zu ziehen, wie sehr das Feld der Zubringerarbeiten auch für den anderen Zweck zentralisiert werden muß, nämlich, Kontakte und Informationen weit über Berlin hinaus aufnehmen und verarbeiten zu können (d. h. vor allem: allen Beteiligten handlich verfügbar machen zu können) und darüber hinaus ein jeweiliges Minimum für solche Praxis wichtiger Kenntnisse in der Weise zu erarbeiten, daß diese Kenntnisse wie nützliche Handschuhe oder Mollys auch verschickt und örtlichen Gruppen zur Verfügung gestellt werden können,

Um es zum Schluß verkürzt zu sagen: die große Chance, die unserer Arbeit aus der westdeutschen Streikbewegung erwachsen kann, liegt in den um einen qualitativen Sprung verbesserten, und gegen Dogmatismus gefeit machenden Bedingungen für eine unakademische, auf die Praxis gerichtete Strategieverständigung, und zwar Strategieverständigung zwischen allen an der Basis arbeitenden Gruppierungen; die Organisation einer solchen breiten, öffentlichen, und auf praktische Resultate gerichteten Strategieverständigung würde wahrscheinlich selbst der erste Schritt zur Reorganisation unserer Arbeit sein können.

 

 

Editorische Anmerkungen

Der Artikel erschien in
Rote Presse Korrespondenz
DER STUDENTEN-SCHÜLER-UND ARBEITERBEWEGUNG
1969, 1. Jg, Nr. 31, 12.9.1969, S. 1-5
Redaktion: Solveig Ehrler, Günther Matthias Tripp, Betriebsbasisgruppen. Ad-hoc-Gruppen an den Hochschulen, Internationales Forschungsinstitut des SDS (INFI), Berufsbasisgruppen im Republikanischen Club Berlin, Zentralrat der Sozialistischen Kinderläden, Aktionsgruppe Hannoverscher Lehrlinge

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