zurück Septemberstreiks 1969
Materialsammlung zu den Filmveranstaltungen im September 2009
 


ZU DEN STREIKS AN DER SAAR

Als Ergänzung des in den letzten Nummern veröffentlichten Materials zu den wilden Streiks in Westdeutschland und Westberlin übernehmen wir einen Auszug aus den "Roten Kommentaren" der Betriebsprojektgruppe Heidelberg über "die Streiks an der Saar".

In den Neunkircher Eisenwerken wurde der Streik durch eine Unterschriften Sammlung eingeleitet. Das sicherte für den Streik selbst ein Minimum an Organisation und Einheitlichkeit, da auf diese Weise die 50 Pfennig Losung bereits vor dem Streik allgemein angenommen wurde und Kader der DKP-Betriebsgruppe von vornherein eine strukturierende Funktion übernehmen konnten. Der Streik wurde innerhalb des Betriebs durchgeführt und konnte sich in seiner Organisation auf das Prinzip der Abteilungen stützen. In den Abteilungen besteht ein gewisser Diskussionszusammenhang und ein hohes Vertrauensniveau unter den Arbeitern aufgrund gemeinsamer Arbeitserfahrungen, sodaß die Kader in Ruhe reden konnten. Der Erfolg dieser Agitation beruhte sicher darauf, .daß die Kader als Arbeiter agitierten, nicht als Mitglieder einer Partei. Dennoch gelang gerade dadurch eine gewisse Politisierung des Streiks. Es entstand eine starke Solidarität, an der 50-Pfenni^ Forderung wurde festgehalten - was wichtig ist, da Funktionäre und Unternehmer sie in den Verhandlungen durch Prozentforderungen, die die Interessen der verschiedenen "Leistungsgruppen" zersplittern, zu ersetzen versuchten - , im Betrieb wurde die rote Fahne aufgezogen, die auch an der Spitze der Demonstration in Neunkirchen mitgeführt wurde, und die Kader waren in der Lage, zwischen den Streikenden und Studenten, die sich mit ihnen solidarisierten, zu vermitteln. Die Konzernleitung versuchte mit ad-hoc zu wählenden Vertrauensmännern der Belegschaft zu verhandeln. Diese bestand aber darauf, dass die Verhandlungen vom Betriebsrat geführt werden, was nicht nur damit zu erklären ist, daß der Betriebsrat relativ progressiv ist, sondern aunch auf den Einfluß von DKP-Kadern hinweist.

Die Saarbergwerke AG befinden sich zu 74% in den Händen der Bundesregierung, 26% gehören der Landesregierung, in jedem Fall also der CDU. Auch die IGBE des Saarlandes und eine große Zahl von Betriebsräten ist ziemlich fest in CDU-Händen. Die Bergarbeiterlöhne an der Saar sind nur auf Tarifhöhe. - Die Bergleute arbeiten unter Tage zerstreut und können kaum am Arbeitsplatz diskutieren. Gewerkschaftlich sind sie nicht in einem Vertrauensleutekörper organisiert, sondern in Ortsgruppen. Andererseits ist die Solidarität unter ihnen durch die Gefährdung während der Arbeit, Berufskrankheiten und eine lange ständische Tradition besonders hoch. Die IGBE hatte ohne Ergebnis seit dem 15.8. um Lohnerhöhungen verhandelt. Als der Streik der Hüttenarbeiter bekannt wurde legte zunächst eine Schicht der Grube Luisenthal die Arbeit nieder. Aufgrund der allgemeinen Unzufriedenheit und der hohen Solidarität schlossen sich alle Gruben in kürzester Zeit spontan dem Streik an. Der Streik konnte sich auf keine Organisation stützen. Weder die Gewerkschaftsspitze noch die Ortsgruppenvorsitzenden noch die Betriebsräte hatten das Vertrauen der Streikenden. Die DKP spielte höchstens bei der Verbreitung von überbetrieblichen Informationen via Flugblatt eine Rolle. Sie war nicht auf den Streik vorbereitet. Die Streiklosungen waren uneinheitlich: 8, - DM pro Schicht, l 000 DM netto im Monat, usw. Immer waren es aber Pauschalforderungen. Die Unzufriedenheit der Bergleute war vor dem Streik privat geblieben. Der Streik war völlig spontan. Die Solidarität war sein einziges organisierendes Moment. Als Verhandlungspersonen stuppsten die Bergleute spontan einzelne aus ihren Reihen nach vorn. Wo einer in kleinen Gruppen als Arbeiter agitierte, konnte er Erfolg haben. Agenten, die als Gegenagitatoren auftraten, wurden fast so wenig gehört wie Kommunisten die "radikal" als Parteimitglieder agitierten. Eine ausdrückliche Politisierung des Bergarbeiterstreiks konnte so nicht gelingen. Deshalb war aber der Streik nicht unpolitisch.

Soweit explizite Standpunkte in Streikparolen vertreten wurden, zeigen sie zunächst das sozialdemokratische Bewußtsein vom "gerechten Lohn" : "Stundenlohn statt Hungerlohn", "Wir forr dem gerechten Lohn", "Kein Lohnverzicht zugunsten der Unternehmer", usw. Parolen wie "Ausbeuter" oder "wir lassen uns von Euch nicht verschaukeln" traten dem gegenüber in den Hintergrund und wurden vielleicht sogar von außen in den Streik getragen. Am nachdrücklichsten wurden dagegen Parolen vorgebracht, die auf Kritik der etablierten Arbeiterorganisationen zielen: "Unser Arbeitsdirektor ist ein Papiertiger", "Arbeiterverräter", "Wir vertreten unsere Interessen selbst" usw. Auch die Diskussionen beschäftigten sich vorwiegend mit der Kritik der Gewerkschaften. Die Bergarbeiter vor allem diskutierten ernsthaft die Alternative Druck - bis hin zum individuellen Terror - auf die Gewerkschaften auszuüben oder sie zu zerschlagen . Hatten sie doch jahrzehntelang Streikgelder in ihren Gewerkschaftsbeiträgen gespart und mußten gleich beim ersten Streik sehen, daß die Gewerkschaft keine Streikgelder auszahlte und damit einen langfristigen Streik faktisch verhinderte. Es war aber allen klar, daß .die Gewerkschaftsspitze das nicht nur aus Schofligkeit tut, sondern auch, weil es in den entsprechenden Statuten so vorgesehen ist, hinter denen die Funktionäre sich allerdings hervorragend verschanzen können. Da die Veränderung der Statuten von den meisten Arbeitern für unmöglich gehalten wird, sehen sie nur die Möglichkeit eines organisierten Austritts, ohne aber die Möglichkeit einer Neugründung von Streikkassen zu sehen. Da die Arbeiter andererseits die Einsicht in die Notwendigkeit der Maklerfunktion der Gewerkschaft haben, wird die Austrittsdrohung, die seit der Verabschiedung der Notstandsgesetze oft gefallen ist, vorerst folgenlos bleiben. In diesem Zusammenhang tauchte in den Bergarbeiterdiskussionen immer wieder die Gefahr der Anwendung der Notstandsgesetze auf. Während einige auf dem parlamentarischen Weg zur Veränderung der politischen Situation hinwiesen, war vielen klar, daß dieser zum Scheitern verurteilt sei, und daß nur eine Möglichkeit bliebe, nämlich "wie die Studenten " vorzugehen. Die kämpferische Tradition der Arbeiterklasse ist bei dieser selber vergessen und nur noch durch die Transmission der Studentenbewegung bekannt. Aber daraus ergibt sich schon die Möglichkeit ihrer Rekonstruktion.

Das zeigen die Fabrikbesetzungen, die sit-ins in den Verwaltungsgebäuden, die Besetzungen der Telefonzentralen und die Massendemonstrationen. Die Gewerkschaften reagieren darauf mit einem scheinbaren Linksrutsch. Demagogisch appelieren sie an die Selbstätigkeit der Basis, um ihre Herrschaft über die Basis nicht zu verlieren.

Das Bewußtsein, das die Streiks motiviert, ist das Bewußtsein der Ausbeutung. Das Bewußtsein, das sich in den Streiks explizit artikuliert, ist dessen Übersetzung ins Ökonomistische. Die Aufgabe einer Avantgarde wäre es gewesen, auf den Widerspruch zwischen dem sozialdemokratischen Bewußtsein und der praktischen Spontaneität und Militanz der Aktionen in den Fabriken und auf der Straße hinzuweisen und im Streik die Tradition der Arbeiterbewegung zu vermitteln. So hätte mit der Radikalisieung der aufgestellten Forderungen das sozialdemokratische Bewußtsein liquidiert und der Weg des Pariser Mai und der Arbeiter von Pirelli und Fiat beschriften werden können. Das ist in der Radikalisierung der Gewerkschaftskritik und dem Vorzeigen der roten Fahne nur ansatzweise gelungen.
 

  Editorische Anmerkungen

Der Artikel erschien in
Rote Presse Korrespondenz
DER STUDENTEN-SCHÜLER-UND ARBEITERBEWEGUNG
1969, 1. Jg, Nr. 35, 26.9.1969, S. 6-8
Redaktion: Solveig Ehrler, Günther Matthias Tripp, Betriebsbasisgruppen. Ad-hoc-Gruppen an den Hochschulen, Internationales Forschungsinstitut des SDS (INFI), Berufsbasisgruppen im Republikanischen Club Berlin, Zentralrat der Sozialistischen Kinderläden

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