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Chronik der Wende Sonnabend, 7. Oktober 1989 Die DDR wird 40 Jahre alt. Das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland" erscheint als einzige Zeitung an diesem Tag mit einer Sonderausgabe. Über die ganze Titelseite prangt in großen Lettern: „Die Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik wird auch in Zukunft das Werk des ganzen Volkes sein". Dies sollte sich bewahrheiten. Doch anders als gedacht. Der Tag beginnt in Berlin mit Aufräumarbeiten. Seit 8 Uhr beseitigen Straßenkehrmaschinen die Überreste des propagandistisch hochgejubelten Fackelzuges der Freien Deutschen Jugend, bei dem am Abend zuvor 100 000 Jugendliche an Erich Honecker und den Ehrengästen vorbeigezogen waren, um „ihre Liebe und Treue zur Partei der Arbeiterklasse zu bekunden". Wenige Stunden später beginnt auf der Karl-Marx-Allee eine Militärparade. Am Nachmittag dann Volksfeste in allen Stadtbezirken. Doch Begeisterung will nicht recht aufkommen. Auf dem Land lastet ein bisher nicht gekannter Druck. Seit dem 10. September verlassen täglich Tausende vor allem junge Menschen die Deutsche Demokratische Republik. Sie nehmen den Weg über Ungarn und die Botschaften der Bundesrepublik Deutschland in Prag und Warschau. Unzufriedenheit über mangelnde Reisemöglichkeiten, eingeschränkte Rechte bei der Meinungsäußerung und politischen Betätigung, die Manipulation bei den Kommunalwahlen am 7. Mai. die offizielle Begrüßung der Gewalttaten in China und die Verlogenheit der Medien haben Verdruß erzeugt - und Entschlossenheit.
Gegen 17 Uhr finden sich, wie an jedem 7. der letzten Monate, einige
hundert Jugendliche auf dem Berliner Alexanderplatz ein. um „auf die
Wahlen zu pfeifen". Zunächst wird diskutiert, dann werden die ersten
Sprechchöre laut. Im Gegensatz zu früheren Kundgebungen, bei denen zu
hören war „Wir wollen raus", heißt es diesmal: „Wir bleiben hier!".
Schnell ist die Gruppe von Neugierigen umringt, westliche Kamerateams
werden von Sicherheitskräften stark behindert. Um 18 Uhr setzt sich ein geordneter Demonstrationszug mit mehreren tausend Menschen in Richtung des nördlichen Stadtbezirks Prenzlauer Berg in Bewegung. Hier findet seit einer Woche in der Gethsemane-Kirche eine Mahnwache für politische Gefangene statt. Auf Höhe der staatlichen Nachrichtenagentur ADN rufen die Demonstranten „Lügner, Lügner" und „Pressefreiheit -Meinungsfreiheit". Die ersten Mannschaftswagen fahren heran. Polizisten sperren die Seitenstraßen ab, um weiteren Zustrom zu verhindern. Es kommt zu Handgreiflichkeiten, zu Verhaftungen und zum Einsatz von Gummiknüppeln. „Keine Gewalt", ruft die Menge und strebt weiter vorwärts. Ein Fernsehreporter postiert sich vor dem heranrückenden Zug und kommentiert: „Dies ist die erste größere Protestdemonstration in Ost-Berlin seit dem Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953." Neben Polizisten werden jetzt auch zivile Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten eingesetzt, die untergehakt Keile in den Marschzug treiben, um den Block zu zersplittern sowie Abgedrängte auf Mannschaftswagen zu verladen und „zuzuführen", wie es später im offiziellen Bericht heißt. Anderthalbtausend Menschen erreichen schließlich die Gethsemane-Kirche an der Schönhauser Allee. Vordem Portal brennen Hunderte Kerzen für die zu Unrecht Inhaftierten in Leipzig, Potsdam und Berlin. Drinnen hat eine Fastenaktion für sie begonnen. An den Wänden hängen Berichte über die gewaltsamen Auseinandersetzungen an den Vortagen in Dresden. Vor der Tür wieder Sprechchöre für die Opposition: Neues Forum Neuses Forum. Unter diesem Namen hatte sich vier Wochen zuvor eine Bürgerinitiative gebildet, die dem bis dahin unartikulierten und unorganisierten Protest Stimme und Gestalt verlieh. Tausende Unterschriften standen inzwischen unter dem „Aufruf 89" zur Initiierung „eines demokratischen Dialogs über die Aufgaben des Rechtsstaates, der Wirtschaft und der Kultur". Wörtlich hieß es in der Erklärung vom 12. September: „Es kommt in der jetzigen gesellschaftlichen Entwicklung darauf an, daß eine größere Anzahl von Menschen am gesellschaftlichen Reformprozeß mitwirkt, daß die vielfältigen Einzel- und Gruppenaktivitäten zu einem Gesamthandeln finden. Wir bilden deshalb gemeinsam eine politische Plattform für die ganze DDR, die es Mensehen aus allen Berufen, Lebenskreisen, Parteien und Gruppen möglich macht, sieh an der Diskussion und Bearbeitung lebenswichtiger Gesellschaftsprobleme in diesem Land zu beteiligen." Die Straße ist ein erster Ort dafür. Während die Demonstranten weiter ihre Forderungen nach Demokratisierung der Gesellschaft rufen, rüsten Spezialeinheiten der Polizei und der Staatssicherheit zur gewaltsamen Zerschlagung dieser, wie sie finden, konterrevolutionären Ansammlung. Gegen 21 Uhr wird die Gegend um den Bahnhof Schönhauser Allee hermetisch abgeriegelt. Vergitterte Lastwagen und Wasserwerfer fahren auf, Fahrzeuge, die bis dahin in der DDR unbekannt waren. Gegen Mitternacht kommt der Befehl zum Losschlagen, genau wie in Potsdam, Leipzig, Dresden, Plauen, Jena, Magdeburg, Arnstadt. Ilmenau und Karl-Marx-Stadt, wo an diesem Feiertag politische Demonstrationen ebenfalls gewaltsam aufgelöst werden. Was sich dabei ereignet, verändert das Leben grundlegend. Zeugen geben später Details zu Protokoll, so auch Klaus Laabs aus Berlin: „Als ich gegen Mitternacht zum Bahnhof Schönhauser Allee kam, traf ich auf eine größere Mensehengruppe, die diskutierend zwischen Polizeikordons stand. Die gesamte Straße war abgeriegelt. Auf Befehl rückte die Sperrkette vor, um uns abzudrängen, obwohl wir bisher allen Aufforderungen, wie etwa zur Räumung der Fahrbahn, nachgekommen waren. Plötzlich und völlig unmotiviert sprangen dahinter Spezialeinheiten mit Gummiknüppeln hervor, die wahllos auf alle einschlugen. Mir galt offensichtlich ein besonderer Einsatz, da ich bis zu diesem Zeitpunkt versucht hatte, mit einem befehlskräftigen Offizier zu diskutieren. Wenigstens drei Polizisten stürzten gleichzeitig auf mich los. Sie schlugen auch noch auf mich ein, als ich bereits am Boden lag. Mehrere Schläge waren auf meinen Kopf gerichtet, die anderen trafen meine Rippen und meine rechte Hand, mit der ich versuchte, mich an einem Fußgängergeländer festzuhalten. Auf einen Freund, der schrie, sie mögen damit endlieh aufhören, gingen sie ebenfalls mit gezücktem Gummiknüppel los. Als ich der Zuführung zu entkommen suchte und von einem Bereitschaftswagen sprang, wurde ich von einem anderen Polizei-Lkw angefahren und überrollt. Insgesamt habe ich drei Wochen mit einem schweren Schädelhirntrauma, zwei Platzwunden am Hinterkopf und perforiertem Trommelfell in den Krankenhäusern zugebracht." Am gleichen Abend findet in dem kleinen Ort Schwante am nördlichen Rand von Berlin die Gründung einer Sozialdemokratischen Partei (SDP) für die DDR statt. In den Statutengrundsät-zen heißt es: „Die SDP bemüht sich um die Entmonopolisierung, Demokratisierung und Teilung der Macht in Staat und Gesellschaft mit dem Ziel des Aufbaus einer ökologisch orientierten sozialen Demokratie." Gleichzeitig verabschiedete Grundposilio-nen zur Erarbeitung des Parteiprogramms enthalten unter anderem die Forderungen nach strikter Gewaltenteilung, Trennung von Staat und Partei, ökologisch orientierter sozialer Marktwirtschaft mit demokratischer Kontrolle ökonomischer Macht, nach dem Recht auf freie Gewerkschaften nebst Streikrecht, Reisefreiheit und Auswanderungsrecht sowie Anerkennung der Zweistaatlichkeit Deutschlands bei gleichzeitiger Option für mögliche Veränderungen im Rahmen einer europäischen Friedensordnung. Die anwesenden Personen wählen einen Vorstand und bereiten alles für die schnelle Aufnahme weiterer Mitglieder vor. Staatliche Stellen werden nicht um Genehmigung gefragt, ihnen wird die Parteigründung mitgeteilt.
Quelle: Hannes Bahrmann, Christoph Links, Chronik der Wende, Berlin 1994, S. 5-11 |