Vor 30 Jahren: Mauer kaputt.

MfS, ZAIG, Nr. 458/89 Berlin, 16.10.1989
Information an Hager, Krenz, Schabowski, Mittig, MfS intern.

Information über beachtenswerte Aktivitäten bestimmter studentischer Kreise der Humboldt-Universität Berlin

Am 12. Oktober 1989 fand in der Humboldt-Universität Berlin eine von Studenten der Sektionen Kulturwissenschaft und Kunstwissenschaft initiierte Veranstaltung statt, an der ca. 500 Studenten und Wissenschaftler verschiede­ner Sektionen der Universität teilnahmen, darunter auch zahlreiche von der Kreisleitung der SED eingesetzte gesellschaftliche Kräfte.

Zu Beginn der Veranstaltung wurde sehr offen, z.T. kontrovers über Resolutionen, die von den Initiatoren dieser Zusammenkunft und der Sektion Medizin erarbeitet und in die Diskussion eingebracht worden waren, beraten und abgestimmt. Dabei standen solche Forderungen im Mittelpunkt des Meinungsaustausches wie „öffentliche Darstellung der am 7/8. Oktober 1989 stattgefundenen Demonstrationen", „Effektivierung der sozialistischen Demokratie", „Reformierung des Wahlsystems in der DDR", „Legalisierung des NEUEN FORUMS" und Schaffung von Voraussetzungen für eine neue Medienpolitik sowie Informations-, Rede- und Versammlungsfreiheit. Im weiteren Verlauf wurden folgende Forderungen erhoben und diskutiert:

  • Schaffung eines Studentenparlamentes an der Universität als Vereinigung von Studentenvertretern aller Sektionen außerhalb der FDJ; Freistellung vom Studienbetrieb (2 Tage bis zu einer Woche), um Statut und Programm hierfür auszuarbeiten;

  • Abschaffung des marxistisch-leninistischen Grundlagenstudiums;

  • Abschaffung des Lehrfaches Geschichte der SED, keine Erteilung von Noten in diesem Fach, bis es auf ein wissenschaftliches Niveau gehoben werde;

  • Schaffung von Voraussetzungen für das Anbringen von unkontrollierten Wandzeitungen für die freie Diskussion;

  • Analyse der Ereignisse vom 7/8. Oktober 1989, Einsetzung einer Kommis­sion und Bestrafung der Verantwortlichen unter UNO-Aufsicht;

  • Abschaffung des demokratischen Zentralismus.

Zum Zwecke der weiteren Diskussion über diese Probleme wurde des weiteren gefordert, an Wochenenden Räume der Universität für alle Interes­sierten zur Verfügung zu stellen und am 21./22. Oktober 1989 die gesamte Universität hierfür zu öffnen.

Während der Diskussion blieben die eingesetzten gesellschaftlichen Kräfte weitestgehend wirkungslos. So reagierten beispielsweise anwesende Vertreter der Leitung der Sektion Rechtswissenschaften nicht auf eine Resolution von Studenten dieser Sektion, die bei dieser Veranstaltung unter Teilnehmern in Umlauf gebracht wurde und in der u.a. Forderungen nach „Rücknahme von undifferenzierter Kriminalisierung friedlich-demokratischer Meinungsäuße­rung durch die Massenmedien", „Öffentlicher Diskussion der Aufgaben unserer Sicherheitsorgane und der Methoden bzw. Strategien ihres Einsatzes", „Diskussionen über neue Formen demokratischer Willensbildungen" erhoben wurden.

Der 1. Sekretär der FDJ-Kreisleitung, dem es trotz mehrfacher Bemühun­gen nicht gelang, das Wort während der Veranstaltung zu ergreifen, hat den Anwesenden mitgeteilt, daß die Diskussion am 17 Oktober 1989, 17.00 Uhr, fortgesetzt werde.

Interessenten (gerechnet wird mit ca. 1 000 Teilnehmern) sollten sich auf dem Innenhof der Universität einfinden. Es ist vorgesehen, sie dann auf verschiedene Räume aufzuteilen.

Die zur Diskussion gestandene Resolution von Studenten der Sektionen Kulturwissenschaft und Kunstwissenschaft wird von den Verfassern ab 16. Oktober 1989 in der Sektionsbibliothek ausgelegt. Alle Sektionen wurden aufgefordert, Vertreter dorthin zu schicken, die Resolution abzuschreiben, in ihren Sektionen zu verbreiten und darüber zu diskutieren.

zitiert nach: Armin Mitter, Stefan Wolle (HG), "Ich liebe Euch doch alle...", Befehle und Lageberichte des MfS, Januar- November 1989, Berlin 1990, S.223f

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