Vor 30 Jahren: Mauer kaputt.

Chronik der Wende

Mittwoch, der 1. November 1989

Einer der bekanntesten Wirtschaftsmanager der DDR. der Gene­raldirektor des Werkzeugmaschinenkombinats „7. Oktober", Heinz Warzecha, beklagt in einem Interview mit der „Berliner Zeitung" das bisherige Zustandekommen von weitreichenden Be­schlüssen für die Wirtschaft des Landes ohne Konsultation mit den tatsächlich Verantwortlichen. Er kritisiert in diesem Zusam­menhang die Fortsetzung derartiger Praktiken auch nach der „Wende" durch Egon Krenz. „Hunderte von Millionen Valuta­mark hätten nach meiner Meinung viel, viel wirkungsvoller ein­gesetzt werden können. Das betrifft auch die vor wenigen Tagen beschlossenen Importe technischer Konsumgüter und Lebens­mittel. Ich frage mich, ob die dafür zuständigen Generaldirekto­ren überhaupt gefragt worden sind."

Auf die Kontinuität nach der „Wende" geht Egon Krenz auch in seinen Äußerungen vor der internationalen Presse zum Ab­schluß der Gespräche in Moskau ein. Seine enge Verbindung zu Erich Honecker sei nichts Kritikwürdiges. Es gebe Zeiten, wo man gemeinsam, und solche, wo man allein gehen müsse. Unter Erich Hotiecker sei viel Gutes und Bleibendes entwickelt worden, so daß er sich nicht dafür schämen müsse. Auf die Grenze zur BRD angesprochen, meint Krenz, die Gründe für die Errichtung der Mauer bestünden weiter. Ihre Öffnung sei ein unrealistischer Gedanke. Zur Lage in der DDR erklärt er, die Demonstrationen dienten dazu, das Leben in der DDR schöner zu machen.

Anschließend versteigt er sich zu der Behauptung: „Alles was sich in der DDR vollzogen hat, ist das Ergebnis der Arbeit des Po­litbüros und des Zentralkomitees meiner Partei."

In Berlin spricht unterdessen der Staatssekretär für Kultur Diet­mar Keller davon, daß die SED eine schwere Schuld vor dem Volk abarbeiten müsse. Die Umgestaltung habe gerade erst begonnen, wichtige strukturelle Veränderungen stünden noch aus.

Der Vorsitzende der IG Metall im FDGB, Gerhard Nennstiehl, muß zurücktreten nachdem bekannt wird, daß er gerade dabei ist, sich aus unlauteren Quellen ein luxeriöses Eigenheim zu errich­ten. Vor der Baustelle kommt es zu empörten Protesten von Bau­arbeitern und Nachbarn, über die auch das Fernsehen in seiner Hauptnachrichtensendung berichtet.

Auf der Eröffnungsveranstaltung des Philosophiekongresses sind ebenfalls selbstkritische Töne zu hören. Cheftheoretiker Prof. Dr. Erich Hahn, Vorsitzender des wissenschaftlichen Rates für Marxistisch-leninistische Philosophie, bekennt, daß die Philoso­phie bisher dazu benutzt worden sei, „Politik zu realisieren, durch­zusetzen, weltanschaulich zu begründen, ja zu rechtfertigen". Die Gesellschaftswissenschaften haben daher kaum geistigen Vorlauf schaffen können. Wie sich im Verlauf des Kongresses heraus­stellt, gab es aber auch Ausnahmen, so die Projektgruppe junger Wissenschaftler an der Berliner Humboldt-Universität, die gegen viele Widerstände ein eigenes Konzept zur Überwindung des ad-ministrativ-zentralistischen Sozialismus erarbeitet hat. Prof. Die­ter Segert stellt die Grundthesen vor, die einen radikalen Bruch mit den bisherigen Strukturen zum Ziel haben. Es geht um die Herausbildung pluralistischer Verhältnisse zur Freisetzung indi­vidueller Kreativität. Das Land könne nicht mehr von einer Zentrale aus geführt werden. Es müßten sich unterschiedliche Eigen­tumsformen und vielfältige Interessengruppen herausbilden kön­nen, die auf dem Boden realer Demokratie Entfaltungsmöglich­keiten haben.

Am Abend machen Zehntausende von den bereits erkämpften Rechten Gebrauch: Massendemonstrationen gibt es in Neubran­denburg. Frankfurt/Oder, Freital und Ilmenau. Gefordert werden spürbare Veränderungen, ein deutliches Abrücken von der Ver­gangenheit.

Quelle: Hannes Bahrmann, Christoph Links, Chronik der Wende,  Berlin 1994, S. 70-72

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