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Notwendige Ergänzungen zur Textsammlung Aufruhr & Revolte

Sozialistische Politik, 1. Jhg., Nr.4, Dezember 1969, Westberlin, S. 114-118
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H. C. F. Mansilla
Akzentverschiebung in der revolutionären Strategie in Lateinamerika?

Im Rückblick läßt sich konstatieren, daß Guevaras Guerilla-Krieg in Bolivien der letzte große Versuch gewesen ist, das kubanische Beispiel in Lateinamerika zu wiederholen. In der Tat haben die revolutionären Bewegungen seit 1967 allmählich andere Wege eingeschlagen, den Befreiungskrieg gegen Imperialismus und nationale Oligarchien voranzutreiben. Freilich wurde dabei weder «n der Intention des Befreiungskrieges noch am Prinzip des bewaffneten Kampfes gerüttelt; die Mittel aber der Revolution in Argentinien, Uruguay und Brasilien weisen einen anderen Charakter auf, der sich sowohl vom kubanischen Modell als auch von den chinesischen und vietnamesischen Erfahrungen qualitativ abhebt.

Im Großen und Ganzen kann man die neue Methode charakterisieren als eine Hinwendung zur Stadt und als eine Absage an die traditionelle Vorstellung, daß der bewaffnete Kampf vornehmlich auf dem Lande zu führen sei. Nicht daß die neuen Bewegungen nun ins andere Extrem gefallen seien und den Landguerilla-Kampf vollends abgeschrieben hätten; in den entwickelteren Ländern Lateinamerikas scheint jedoch die Möglichkeit, das revolutionäre Potential der Städte auszuschöpfen und die abhängigen Massen dort zu politisieren, aussichtsreicher als der Guerilla-Kampf auf dem Lande. Dazu muß man berücksichtigen, daß es in Argentinien und Brasilien beispielsweise nicht an Experimenten mit dem traditionellen Landguerilla-Kampf gefehlt hat; wir erinnern an die von offizieller kubanischer Seite stets lobend hervorgehobenen Guerilleros unter der Führung Jörge Ricardo Massettis in Nordargentinien. Diese Erfahrungen, sowie die in Peru und Bolivien (obwohl beide Länder keineswegs den Entwicklungsstand Argentiniens erreicht haben) waren durchweg negativen Charakters.

Die wichtigsten Ursachen für jene negativen Erfahrungen sind seit 1967 von den revolutionären Kampfgruppen selbst theoretisch verarbeitet worden; sie wurden zusammenhängend bei der Kritik an der Konzeption Regis Debrays dargelegt, der das kubanische Modell des Landguerilla-Kampfes auf einen theoretischen Begriff gebracht und es als den revolutionären Weg Lateinamerikas propagiert hatte. Bedeutsam ist diese Kritik an Debray deshalb, weil seine Theorie relativ genau die Konzeption und Verfahrensweise der meisten Guerilla-Bewegungen Lateinamerikas bis 1967 widerspiegelt (und von diesen beinahe all«, die gescheitert sind).

Marcelo de Andrade (1), einer der Führer der brasilianischen "Vanguarda Populär Revolu-cionaria", verdichtete seine Erfahrungen zu einer, Kritik, die an dem Guerilla-Focus als dem Keim der Befreiungsarmee festhält und somit die traditionelle Konzeption eigentlich wirksamer gestalten möchte. Trotzdem deckt seine Kritik viele Momente auf, die — bei Debray theoretisch und bei den G ueri 11 a-Bewegungen praktisch - zu schweren Mißerfolgen geführt haben. Nicht nur die Tatsache, daß bei der Entscheidung für den Landguerilla-Kampf als revolutionären Weg die notwendigen ökonomischen und politischen Analysen weitgehend gefehlt haben, wird von Andrade festgestellt, sondern auch die Überbewertung des bewaffneten Kampfes gegen den staatlichen Repressionsapparat als des besten Mittels zur Gewinnung der ausgebeuteten Massen für die. proletarische Revolution (2). Der Spontaneismus, der fälschlicherweise annimmt, daß die Massen in den Guerilleros quasi-automatisch ihre eigene Avantgarde erkennen und ihnen die notwendige Unterstützung leisten würden, wurde oft von der historischen Erfahrung desavouiert Er unterschätzt obendrein die Tatsache, daß es an einer Massenorganisation fehlt, die in der Lage wäre, eine gründliche "Bearbeitung" der Massen vor dem Beginn der militärischen Operationen (wie es jetzt Andrade und andere lateinamerikanische Revolutionäre fordern) zu leisten, sowie die Koordination mit den Revolutionären außerhalb des Focus und deren Unterstützung sicherzustellen. Die aus zahlreichen Rückschlägen erkannte Notwendigkeit einer solchen Organisation steht im Widerspruch zu Debrays zentraler Forderung, daß die politische Organisation aus der Guerilla-Truppe hervorzugehen habe, und keinesfalls umgekehrt. Wegen der tatsächlichen Unfähigkeit der jetzigen kommunistischen Parteien, eine revolutionäre Alternative anzubieten und die Organisationsarbeit dafür zu leisten, lehnt Debray jede Form von Partei und Massenorganisation ab, die sich nicht aus dem Guerilla-Focus entwickelt. Diese Betrachtungsweise ist nicht nur schematisch und undifferenziert, sondern führt auch dazu, politische Aufgaben unter die rein militärischen zu stellen. Die kubanischen Revolutionäre Simon Torres und Julio Aronde (3) werfen Debray vor, daß dessen Subsumierung aller Aufgaben des revolutionären Kampfes unter militärtaktische Gesichtspunkte zur völligen Militarisierung und Technifizierung des Befreiungskampfes führt. Revolutionärer Kampf jedoch, der rein militärisch geführt wird und soziopolitische Komponenten als quantite negligeable auffaßt, bleibt sich selbst überlassen und findet keinen Widerhall in der Bevölkerung.

Anhand einer detaillierten Untersuchung weisen die Kritiker nach, daß Debrays Anspruch, seine Theorie sei die Manifestation des kubanischen Befreiungskampfes, völlig zu Unrecht besteht (4). Gerade auf dem umstrittenen Gebiet der Organisationsfrage vergesse Debray alle Begleitumstände, die sich in Kuba außerhalb des Guerilla-Focus abgespielt haben und die von eminenter Bedeutung für den Sieg der GuerHIeros gewesen sind. Torres und Aronde weisen auch darauf hin, daß die kubanische Revolution unter relativ günstigen Bedingungen vor sich gegangen ist und ihre daraus resultierende Einzigartigkeit schwerlich vorbildlichen Charakter für die anderen Länder Lateinamerikas beanspruchen kann.

Eine falsche Einschätzung der kubanischen Revolution (und der frühen Guerilla-Kriege in Asien) hat Debray und viele Revolutionäre dazu bewegt, die Beziehung Stadt - Land, oder genauer, Stadtgebiet — Guerillagebiet, mittels eines strengen Dualismus zu begreifen. Dieser Beziehung wird ein unüberbrückbarer Interessengegensatz unterstellt, — zwischen der "bourgeoisen Stadt" (Debray) und den "proletarischen Landgebieten", ein Gegensatz, der beinahe den Charakter eines (nicht existierenden) Klassenkampfes zwischen den beiden Größen annimmt (5). Debrays Vorstellungen über "die Stadt", die leider von vielen Revolutionären geteilt werden, lassen nicht nur Unkenntnis der neueren Geschichte durchblicken, sondern auch einen reaktionären Beigeschmack, der sich in der Konzeption der Stadt als "Friedhof der Revolutionäre" (Debray) und als Stätte dekadenter, privilegierter und verweichlichter Menschen ausdrückt. Das Gegenbild dazu stelle die Guerilla-Tätigkeit auf dem Lande und in den Bergen dar, die nach Debray die Eigenschaft besitzen soll, die Städter zu "proletarisieren" und sie zur Opferbereitschaft und zum alltäglichen Heroismus anzuhalten.
Hector Bejar, Führer der peruanischen ELN (Nationale Befreiungsarmee), hält den Mangel an Koordination und gegenseitiger Unterstützung zwischen Landguerilleros und Stadtorganisation für einer der wichtigsten Gründe, die zum Scheitern der Guerilla-Bewegung 1965 in Peru führten (6). Die arbeitenden Massen in den Städten erfuhren keinerlei Aufklärung durch eine revolutionäre Massenorganisation und blieben gegenüber den Kämpfen auf dem, Lande indifferent. Die Subordination der politischen Führung der Gesamtbewegung unter die militärische auf dem Kampfgeländq dürfte den mangelnden Überblick und die fehlende Unterstützung seitens des städtischen Proletariats mitverursacht haben. Bejar erwähnt sogar die Tatsache, daß die Guerilla-Führung strenge Anweisungen erteilt habe, damit in den Städten keine frühzeitige Aktion gestartet werde. Damit hatten aber auch die Repressionsapparate des Staates die Möglichkeit, sich auf die Kampffront auf dem Lande zu konzentrieren und brauchten so ihre Kräfte nicht zu spalten.

Die Hinwendung zum Stadtguerilla-Kampf hat nicht in allen Ländern die gleichen Ursachen: in den entwickelteren Ländern wie Uruguay und Argentinien lebt der größte Teil der Bevölkerung in den Städten, während der prozentuale Anteil der Landbevölkerung an der Gesamtbevölkerung rapide sinkt. Unter diesen Umständen, und wenn man noch dazu geographischstrategische Gesichtspunkte berücksichtigt, hat es tatsächlich keinen Sinn, Guerilla-Kampf im herkömmlichen Verständnis anzufangen. Das haben auch die revolutionären Bewegungen in Argentinien, Mexiko, Chile, Uruguay und Brasilien (7) begriffen und — nach erfolglosen Versuchen in Argentinien, Mexiko und Brasilien — ihre Strategie grundlegend verändert. Diese neue Strategie ist bis jetzt von den uruguayischen StadtgueriHeros "Tupamaros" am weitesten entwickelt worden; durch zahlreiche Veröffentlichungen ist ihre "Arbeitsmethode" hinlänglich bekannt geworden. In den weniger entwickelten Ländern wie Peru und Bolivien hat die revolutionäre Bewegung zwar angefangen, sich dem Problem der Massenmobilisierung in den Städten und dem einer allumfassenden Organisation theoretisch zu widmen, aber praktisch sind bis jetzt (Oktober 1969) keine Aktionen erfolgt Daß die Bauern die Erwartungen der Revolutionäre bei weitem nicht erfüllt haben, wurde dort offiziell nur vom peruanischen ELN-Führer Bejar zugegeben (8); die Führung der anderen peruanischen Guerilla-Bewegung, der MIR, schreibt das Scheitern der Guerilleros 1963 - 65 immer noch ausschließlich taktischen Irrtümern und schicksalhaften Imponderabilien zu (9). Eine erfolgreiche Mobilisierung der Landbevölkerung scheint zur Zeit nur in Guatemala gelungen zu sein, wo die Gueri 11 a- Bewegung sich der tatkräftigen Hilfe des ländlichen Proletariats auf den Plantagen der United Fruit Co. erfreut.

Trotz der großen Sympathie, die die revolutionären Bewegungen oft in der Bauernschaft und im Stadtproletariat erweckten, scheint bis heute die Größenordnung ihres politischen Bewußtwerdungsprozesses noch nicht die Ebene erreicht zu haben, auf der zu praktisch-politischen Aktionen von Bedeutung übergegangen werden könnte. Dafür jedoch haben die revolutionären Bewegungen andere Sektoren der Bevölkerung erfolgreich auf ihre Seite gebracht: größere Teile der akademischen Jugend, der Intellektuellen, der Schüler, der jüngeren Arbeitslosen in den Städten, und in kleinerem Ausmaß, der Freiberuflichen und technisch-wissenschaftlich Ausgebildeten. Diese Parteigänger der Revolution stammen meist aus den Mittelschichten. Eine sehr ähnliche Zusammensetzung weist die "Tupamaros"-Bewegung in Uruguay auf, die gerade durch ihre unzähligen Mitglieder in gehobenen Positionen der staatlichen Verwaltung und der Industrie in der Lage ist, ihre spektakulären Aktionen durchzuführen (10). In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß sowohl der bolivianische Gewerkschaftsbund (COB) als auch der argentinische (CGT) eine abwartende Stellung gegenüber der Befreiungsbewegung eingenommen haben, während die bolivianische Christlich-Demokratische Jugend und die Jugendorganisation linksliberaler Parteien in Chile und Argentinien (Juventud Radical Intransigente) — deren Mitglieder fast durchweg aus dem Mittelstand oder der Oberschicht stammen — sich offen für den bewaffneten Kampf im Stile des kolumbianischen Priester-Guerillero Camilo Torres ausgesprochen haben (11). Die eher distanzierte Haltung der unteren Bevölkerungs schichten gegenüber der Revolution und deren Unterstützung hauptsächlich durch akademische und mittelständische.Gruppen, die in der wahrhaft privilegierten Lage waren, sich ein kritisches Bewußtsein anzueignen, scheinen Faktoren zu sein, die die politische Auseinandersetzung heute in der Ersten als auch in der Dritten Welt prägen. Die Methoden, die eine effektive Mobilisierung der ausgebeuteten Massen ermöglichen sollen, müssen noch entwickelt werde:.. Das gilt auch für die Politisierung der Mittelschichten, die heute nicht nur in den Industrienationen ihren prozentualen Anteil an der Gesamtbevölkerung und somit ihre Bedeutung steigern. Indem er diese Entwicklung, die sich auch in der Dritten Welt abzuzeichnen begannt, in sein revolutionäres Kalkül aufnimmt, erklärt Hector Bejar die Verknüpfung der Interessen der Mittelschichten mit denen der Bauernschaft und des Proletariats im revolutionären Pro-zess zum Problem Nr. 1 der Revolution (12).


Anmerkungen

1) Marcelo de Andrade: "Considerations sui les Theses de Regis Debray", in: LES TEMPS MODERNES, Nr. 275, Mai 1969, pp. 2009 - 2036.
2) Ibid., p. 2012s. 2021.

3) Simon Torres & Julio Aronde: "Debray and the Cuban Experience", in: MONTHLY REVIEW, Vol. 20, Nr. 3, Juli/August, 1968 p. 45, 58.
4) Ibid., p. 46 s.
5) Ibid., p. 48; Andrade, op. cit, p. 2014.
6) Hector Bejare:. "El frente de Ayacucho",in: CUBA, Jg. 8, Nr. 83, Havanna, März 1969, p. 38 (Es handelt sich um einen Auszug aus Bejars Buch: PERU 1965: UNA EXPERIENCIA GUERILLERA, das den diesjährigen Essay-Preis der "Casa de las Americas" (Havanna) gewonnen hat und das demnächst veröffentlicht werden soll.).
7) Im Fall Brasilien scheint die Land-Guerilla noch eine gewisse Rolle zu spielen. Der Guerilla-Führer Carlos Marighella befürwortet eine Gleichzeitigkeit von Stadt- und Land-Guerilla. (Cf. Marighella, "Guerriglia urbana in Brasile", in: DOCUMENTI DELLA RIVOLUZIONE NELL' AMERICA LATINA, Nr. 22, Feltrinelli, Mailand 1968. - Andrade hält an der Land-Guerüia fest, weil das Land das schwächste Glied des bürgerlichen Staates sei und es zur Zeit doch günstige Momente niilitär-technischer Natur biete. (Cf. Andrade, op. cit, p. 2034).
8) Hector Bejar, BRIEF VOM NOVEMBER 1967 aus dem Gefängnis San Quintin in Lima. Ein Auszug wurde im Semesterspiegel der Universität Münster, Nr. 105, Dezember 1968 abgedruckt.
9) Cf. Peru: "Intervista a due guerrigliere", in: DOCUMENTI DELLA RIVOLUZIONE NELL' AMERICA LATINA, Feltrinelli, Mailand 1969.
10) Über die "Tupamaros" cf. SOZIALISTISCHE POLITIK, Nr. 2, Juni 1969; KURSBUCH Nr. 18, Oktober 1969; LINKS, Nr. 4, Oktober 1969.
11) Cf. PRESENCIA (La Paz/Bolivien) vom 24. Juli 1969.
12) H. Bejar, BRIEF VOM NOVEMBER 1967, loc. cit.