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Rechtspopulismus in Zeiten sozialer Verunsicherung

von Anne Seeck

TERMINE & INFOs

Beginnen möchte ich mit zwei aktuellen Veranstaltungen, die am ersten Oktoberwochenende im Allmende in Berlin stattfanden.

Zunächst einige Gedanken, die ich nach dem Seminar "Rechtspopulismus in Europa - Antimuslimischer Rassismus als Kulturalisierung sozialer Ungleichheit" am 1.Oktober im Allmende in Berlin- Kreuzberg hatte.

Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus und vor allem nach dem 11. September 2001 kam es zu einer neuen Feindmarkierung der westlichen Staaten. Vom Hauptfeind "Kommunismus" wechselte man nun zum Hauptfeind "Islam". Linke reagieren wieder mit Abwehr.

Während es sich viele Linke in der BRD, in der ein Klima des Antikommunismus herrschte, schwer machten, eine kritische Position zum "Realsozialismus" zu äußern (oft war das Gegenteil der Fall), steckt auch die heutige Linke wieder in einem Dilemma.

In einer antimuslimischen Stimmung möchten sie sich nicht am herrschenden Diskurs beteiligen, das ist verständlich, trotzdem wäre m.E: natürlich eine linke Religionskritik am Islam notwendig, so kritisierten Linke ja auch den Papstbesuch und das Christentum. An eine Kritik in dieser Stimmung traut sich niemand heran, das ist ein blinder Fleck in der Linken. (Wie schwierig eine emanzipatorische Islamkritik ist, verdeutlicht folgender Artikel im Trend: http://www.trend.infopartisan.net/trd0908/t230908.html )

So wie in Zeiten der Blockkonfrontation von der Linken oftmals die politischen Gefangenen und die von der Stasi zersetzten oppositionellen Gruppen in der DDR ignoriert wurden, so werden auch heute z.T. "Realitäten" geleugnet. Die Rechten knüpfen dagegen an Erfahrungen und vor allem Vorurteile der Menschen an. Aus einer Gewalterfahrung, einer "deutschenfeindlichen" Äußerung, einer Mitschülerin, die in der Türkei zwangsverheiratet wird oder nicht zur Geburstagsfeier darf, werden Sterotypen. Natürlich ist der antimuslimische Rassismus z.B. eines Sarrazin, Pro Deutschland, Buschkowsky etc. schrecklich, dagegen muß gekämpft werden. Auch gegen Sterotypen, z.B. vom "Muslim als Gefährder". Und natürlich ist das Thema sehr komplex.

Aber z.B. konkret gefragt:Was ist mit den Menschen in Pakistan, die aufgrund der häufigen Selbstmordattentate in ständiger Unsicherheit leben müssen? Ist die Hamas, die einen Gottesstaat will und Israel das Existenzrecht abspricht, etwa progressiv?Was ist mit den Frauen, die zwangsverheiratet werden?  Nur weil grüne Karrieristinnen sich gegen frauenfeindliche Tendenzen im Islam wenden, und Linke mit ihnen nicht in einem Boot sitzen wollen, nützt es nichts, diese zu verharmlosen. Der Frau, die zwangsverheiratet wird, hilft das nicht weiter. Haben Linke darauf Antworten? Linke sollten nicht auf einem Auge blind sein, sondern das kritisieren, was aus linker Perspektive zu kritisieren ist. Egal, wie die Herrschenden dazu stehen, es geht um die Perspektive der Unterdrückten und Ausgebeuteten, die natürlich nicht als "Opfer", sondern als Subjekte angesehen werden sollten. Das würde Linke von anderen unterscheiden, die ihre "zivilisierte" Gesellschaft eben nicht kritisieren.

Angepaßte Karrierefrauen vergessen dann z.B. das Thema Prekarisierung von Frauen in ihrer schönen zivilisierten Demokratie anzusprechen.

Der postliberale Rassismus z.B. der "grünen" Mittelschicht ist zu bekämpfen. Sie sind so multi-kulti und tolerant, deshalb gründen sie Privatschulen und verkriechen sich in den Prenzlauer Berg. Sie wollen unter sich sein, also unter Menschen mit hohem kulturellen, ökonomischen und sozialen Kapital, der Mittelschicht, den Hochqualifizierten, den ökologisch korrekten und damit moralisch Höherwertigen. Und das global. Von der Armutsbevölkerung grenzen sie sich ab (ob migrantisch oder nicht). Inzwischen grenzt sich auch die Elite, die sich tolerant und offen gibt, von den "Schmarotzern" oder "Integrationsverweigerern" (ob türkische, arabische Migranten, Langzeitarbeitslose etc.) ab. Es geht um die Verwertbarkeit und Nützlichkeit von Menschen.  

In der Diskussion kam auch Folgendes:"In der Linken gibt es viele, die sich als Intellektuelle verstehen, und sich vom "Fußvolk" abgrenzen. Das ist auch Bestandteil von "Weißsein". Über die Bildung und Sprache, sich eben nicht verständlich zu machen, funktioniert auch Klassenausschluß."

Jennifer Petzen von Alice Salomon Hochschule führte aus, was "weiße" anti-rassistische Aktive nicht tun sollten.

  • Verleugnung: Nein wir haben das nicht so gemeint. Je höher die Bildung und Politisierung, desto öfter kommt "Nein, ich bin nicht rassistisch".

  • Weinen: aus Scham- und Schuldgefühlen, besser ist Verantwortlichkeit, denn es ist eine Frechheit, zu weinen, da die "Nicht-Weißen" die Effekte weißer Unterwerfung erlebt haben.

  • Bevormundung: Nur Weiße im Raum, die Flüchtlingspolitik machen wollen.

  • Solidarität: Der globale Norden hilft dem globalen Süden, nie umgekehrt, z.B. Soli-Veranstaltungen

  • Positionierung: Viele Linke haben gelernt, zu sagen "Ich bin weiß". Sie müssen begreifen, dass sie nicht aus der strukturellen Positionierung herauskommen.

  • Quoten: Alibi, Wir machen eine Antira- Veranstaltung mit einem Migranten.

  • Teile und Herrsche: Nicht den Fehler machen, in wütende und nette Migranten zu teilen

  • Privileg: Wir wollen kein fließendes Wasser, weil wir uns mit den Menschen in Afrika solidarisieren.

  • platte kulturelle Aneignung: Tatoos mit ausländischen Zeichen, Bauchtanz, Sinn des Lebens- Buddhismus

Das sind die wichtigsten Gründe, warum es fast keine Kooperationsarbeit mit MigrantInnen gibt.

Die Berliner Linke ist weiß, MigrantInnen werden so gut wie nicht erreicht, und wenn, dann sind sie ähnlich politisch sozialisiert.  

Die interessante Frage zum Schluß war: Warum haben die Rechten die Initiative? Sie blieb offen. Hat das vielleicht auch mit dem Zustand der Linken zu tun...

Die Seminarreihe des Bildungswerk Berlin der Heinrich- Böll-Stiftung wird fortgesetzt.  

Am 2. Oktober fand dann die Veranstaltung "50 Jahre Migration- 50 Jahre Klassenkampf" im Allmende statt. Sie verdeutlichte insbesondere die Situation von türkischen Migranten der 1. und 2. Generation.  

Willi Hajek beschrieb zunächst die Situation von 1961, als die ersten "Gastarbeiter" nach Deutschland kamen. In den Betrieben waren ca. 15 Jahre zuvor die "Zwangsarbeiter" gewesen. Entsprechend war das Verhältnis durch Nichtrespekt und Abhängigkeit gekennzeichnet.  

Ein türkischer "Gastarbeiter*" der 1. Generation, der 1964 nach Deutschland gekommen war, erzählte, wie er diese "Zwangsarbeitszeit" erlebt hatte. Alles ging mit Stempel ab. Mit dem Stempel waren sie eingeengt, es war schwer die Arbeit zu wechseln und die Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Bei der Anwerbung in der Türkei wurden nur die Kerngesunden genommen, in Deutschland wurden dann Überstunden verlangt. Sie hatten damals viel Austausch mit deutschen Kollegen. Die "Gastarbeiter" waren besser in die deutsche Gesellschaft integiert, als die heutige Generation. "Unsere Kinder haben es noch schwerer als wir, wenn sie in Kreuzberg und Neukölln wohnen, durch die Schulmisere. Sie sind entweder arbeitslos, kriminalisiert, haben Alkohol- und Drogenprobleme usw. Viele Hilfen wurden abgeschafft. Das sei Sache der Polizei, wird gesagt."  

(Der Begriff "Gastarbeiter" wurde problematisiert. Ein Gast sei 3 Tage da und dann würde er wieder gehen.) 

Ein türkischer Kollege der 2. Generation, der 1971 mit 10 Jahren nach Deutschland kam, erzählte wie er hier den erweiterten Hauptschulabschluß gemacht hatte. Die türkischen Schüler, die in eine türkische Schule und Klasse gingen, sollten soviel Deutsch lernen, dass sie in den Betrieben zurechtkommen. Studieren war nicht vorgesehen, sie wurden auf die Arbeitssituation in den Betrieben vorbereitet.

Er hatte eine linke Sozialisation und wollte die Revolution. 1981 ist er bei Ford in Berlin gelandet, das Werk wurde neu aufgebaut. Alle vorgesetzten Facharbeiter waren Deutsche. Die Produktion wurde von 90/95% Nicht-Deutschen ausgeführt. Die Probleme häuften sich und sie wollten an den Kräfteverhältnissen etwas ändern, so wurden Vertrauensleute aufgebaut. Ihnen gelang ein Wechsel in der Gewerkschaftsarbeit. "Wir wollten uns nicht mehr von anderen regieren lassen. Wenn sich die Migranten nicht selbst für ihre Sache einsetzen, dann wird sich nichts ändern."

Ein zweiter türkischer Kollege der 2. Generation, der mit 18 Jahren bei BSH Bosch und Siemens Hausgeräte zu arbeiten begann, berichtete über die dortigen Arbeitskämpfe. Anfang der 70er Jahre hatten viele Migranten begonnen, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Die Arbeitsbedingungen waren sehr brutal. Die Migranten machten die härteste Arbeit und verdienten das wenigste Geld. Sie wollten weniger arbeiten und mehr Pause. Durch die Fließbänder hatten sie kaum Gelegenheiten rauszugehen. "Akkord ist Mord", hieß es. Sie versuchten, z.B. mit Sabotage, dass das Band langsamer wird. "Es war nicht nur der Aufstand der Migranten, es war ein Aufstand der politischen Bewegung. Wir waren politisiert. In der Zeit haben die Migranten an der Politik teilgenommen. Die Migranten wurden selbstbewußt. Viele haben an Streiks teilgenommen. Heute gibt es kaum noch kämpfende Migranten"  

Hans Köbrich, der bei BMW arbeitet und gewerkschaftlich sehr aktiv ist, berichtete dann über die Situation in den 90er Jahren.

Es veränderte sich vieles nach dem Mauerfall. 

Der Mauerbau am 13. August 1961 hatte eine große Rolle gespielt, dass die türkischen "Gastarbeiter" nach Deutschland kamen.

Das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei wurde am 30. Oktober 1961 in Bad Godesberg unterzeichnet und führte, trotz gegenteiliger vertraglicher Ausgestaltung (Befristung der Aufenthaltsdauer auf maximal zwei Jahre, sogenanntes Rotationsprinzip), zum Beginn einer türkischen Einwanderung in die Bundesrepublik Deutschland. Die türkischen Arbeiter wurden nach Deutschland geholt, weil durch die Mauer der Zufluß an Arbeitskräften aus dem Osten gestoppt war. Als jetzt die Mauer fiel, wurden die türkischen Arbeiter nicht mehr gebraucht, weil der Zufluß aus dem Osten wieder da war, vor allem von Fachkräften. Es bekamen keine türkischen Kollegen mehr Arbeit. Sie wurden aus den Betrieben gedrängt.  

Aber es begann auch die Umstrukturierung in den Betrieben nach japanischem Modell (Toyotismus), die einfache Produktion wurde ausgelagert. Bei BMW waren 70-80% türkischer Beschäftigung in der Fertigung betroffen. Man konzentrierte sich auf die Kernproduktion und die Kernkompetenzen. Als es auch die hochqualifizierten Facharbeitern gefährdet waren, wählten diese linke Gewerkschafter. Insgesamt setzte in den 90er Jahren ein Prozeß der Prekarisierung ein. Jobs gab es nun vor allem in der Leiharbeit und dem Dienstleistungssektor. Bei jungen türkischen Migranten liegt die Arbeitslosenquote bei 40%.  

Hans Köbrich verwies dann auf Arbeitskämpfe, z.B. bei BSH. Sie führten einen "Marsch der Solidarität" durch. Die Idee stammt aus der Türkei. Dort sollten Bergwerke geschlossen werden, daraufhin gab es einen Marsch nach Ankara.

Es wurden Ausschnitte aus dem Film "Es geht nicht nur um unsere Haut" gezeigt. http://www.solimarsch.eu/

Willi Hajek verwies auf einen Hungerstreik von Leiharbeitern bei VW: http://de.indymedia.org/2009/04/247912.shtml

Außerdem auf Auseinandersetzungen bei der Flugzeugreinigungsfirma Klüh in Düsseldorf.
http://www.labournet.de/branchen/dienstleistung/rg/klueh.html

In der Diskussion wurde darüber debattiert, wie in Zeiten der Prekarisierung und bei immer weniger industriellen Großbetrieben gewerkschaftliche Organisierung aussehen kann. Solche Kämpfe wie im Babylon oder bei Ambulanten Diensten werden typisch. Ein Modell sei auch das Organizing, dass in den USA praktiziert wird. Die traditionellen Gewerkschaften sind ein Auslaufmodell. 

Zum Organizing:

Bei Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Organizing

Transformatives Organizing: http://www.rosalux.de/publication/37835/transformatives-organizing.html

Buch zu gewerkschaftlichem Organizing: http://www.assoziation-a.de/neu/Die_grosse_Wut.htm   

Bei den Protesten in Spanien gründete sich eine eigene Gewerkschaft, nach dem Motto: "Wir organisieren uns selber".

http://www.labournet.de/internationales/es/gewerkschaft.html

Dazu gibt es am Freitag, d.14.10. um 17 Uhr eine Veranstaltung im IG-Metall-Haus, Alte Jakobstr. 

Auf die Situation der folgenden türkischen Generation in Deutschland konnte leider aus Zeitgründen nicht eingegangen werden, ihre Situation ist dramatisch. Der türkische "Gastarbeiter" der 1. Generation meinte daher, dass heute auch viele außerbetriebliche Kämpfe z.B. von Erwerbslosen notwendig seien. Die (türkischen) Erwerbslosen leiden auch noch unter der Abwertung durch die Gesellschaft, darauf wird sich nun der folgende Text beziehen.  

Nun zum Vortrag, der etwas länger zurückliegt.

Diesen Vortrag hielt ich (gekürzt) am 11. Juni 2011 im Mehringhof in Berlin- Kreuzberg. Zu Beginn verteilte ich einen Fragebogen mit Fragen aus der Heitmeyer-Studie "Deutsche Zustände", der am Schluß ausgewertet wurde. Es wurden 14 Fragebögen abgegeben, einer verweigert, einer blieb leer.

Die Ergebnisse hier.

Zunächst möchte ich mit einer Definition aus dem Buch "Politik der Feindbilder" (Wien, Österreich) beginnen. Rechtspopulismus bedeute danach, ....”Ängste zu schüren, andere- wie (soziale) Randgruppen, Ausländer, “die da oben”- für Missstände verantwortlich zu machen, Sündenböcke zu konstruieren und Gruppen von Menschen hierarchisch zu werten.” (Gärtner, S.13)

Dabei werden Feindbilder aufgebaut:

·      die Ausländer und Asylbewerber (Rassismus)

·      die Juden und Israel (Antisemitismus)

·      die Amerikaner (Antiamerikanismus)

·      Roma und Sinti (Antiziganismus)

·      Islam (Islamophobie)

Formen von Rassismus seien zunächst individueller Rassismus: “Rassismus geht von einem sozialen Konstrukt aus. Es wird dabei eine Gruppe von Menschen aufgrund bestimmter Gemeinsamkeiten als zusammengehörig bezeichnet, dieser Gruppe werden dann negative Eigenschaften zugesprochen und diese negativen Eigenschaften werden biologisch begründet.” (Gärtner, S.67) Institutioneller Rassismus bedeutet, dass durch strukturelle Mechanismen von Institutionen Migranten ausgeschlossen werden. Beim kulturellen Rassismus gehe es um die Kultur, kulturelle Identität und Kompatibilität. (Integration, Assimilierung)

Der 11. September 2001 war auch in Österreich eine Zäsur beim Feindbild Islam, so im Buch "Politik der Feindbilder". 

Es gab Bauverbote für Minarette und Moscheen. “Asylbetrug heißt Heimatflug” plakatierte die FPÖ 2008 im Wahlkampf.

Der Rechtspopulismus erstarkte aber auch in anderen Ländern Europas, mit der Schweizerischen Volkspartei, Berlusconi und Lega Nord in Italien, Front National in Frankreich, Fortschrittspartei in Norwegen, Dänische Volkspartei, “Wahre Finnen”, in Belgien, den Niederlanden etc.   

Da ich mich aber in meinem Vortrag auf den Zusammenhang von Arbeitswelt/ Arbeitslosigkeit und Rechtspopulismus konzentrieren wollte, hatte ich nun drei Quellen herangezogen. Zunächst das Buch von Thomas Lühr, Prekarisierung und ‘Rechtspopulismus'. Zweitens meine Aufzeichnungen von einem Workshoptag des Bündnisses gegen Sozialchauvinismus und Rassismus. Sowie die Folgen 6-9 der Heitmeyer- Langzeitstudie "Deutsche Zustände".  

Prekarisierung und Rechtspopulismus 

Thomas Lühr stellte in dem Buch drei Thesen vor.  

1      Repräsentationslückenthese:

Die Arbeitswelt ist für die Entstehung nationalistisch-ausgrenzende Potentiale relevant, da die “fehlende Repräsentanz der dortigen Probleme und Verwerfungen im politischen System eine ‘populistische Lücke’ hervorbringe.” (Lühr, S.29) Die Menschen hätten Gefühle der Unsicherheit und Ohnmacht, insbesondere ein verletztes Gerechtigkeitsempfinden, da dem Arbeitsleid keine adäquate Belohnung gegenüber steht. Das führe zum Rückgriff auf autoritäre und nationalistische Deutungen und schließlich zu Aggressionen gegenüber Gruppen, denen unterstellt wird, sie würden sich den Anstrengungen der Erwerbsarbeit entziehen und trotzdem gut leben. Es besteht ein gefühlter Mangel an Interessenvertretung, da das Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital ungleich sei. Das führt zur Sehnsucht nach handlungs- und durchsetzungsfähigen Führungspersonen. Rechtspopulisten seien Interessenvertreter der “kleinen Leute”. 

2. Identitätsstabilisierungsthese:

Die Menschen suchen Anschluss an die "Nation". Die Konkurrenzstrategie diene der Sicherung der eigenen bedrohten Position.

3.Verstärkerthese:

Arbeitserfahrungen sind nicht Ursache, sondern Verstärker nationalistisch- ausgrenzender Einstellungen. Bereits latent vorhandene Einstellungsmuster werden durch die krisenhaften Arbeitserfahrungen hervorgebracht.   

Sozialchauvinismus 

Erkenntnisse vom Workshoptag des Bündnisses gegen Rassismus und Sozialchauvinismus
Weitere Infos zum Bündnis: http://gegenrassismusundsozialchauvinismus.wordpress.com/  

Der Begriff "Sozialchauvinismus" stammt von Lenin. Die Definition des Bündnisses zu dem Begriff: “eigene Überhebung über eine ökonomisch niedrige stehende Person oder Gruppe, die für ihre gesellschaftliche Position selbst verantwortlich gemacht wird”. Wenn der Abwertende selbst zu der Gruppe gehört, dann nach der Selbstdefinition nur aus Zufall, er werde ungerechterweise zugezählt, denn er strengt sich an, die anderen nicht. Menschen werden wegen ihrer Bildung, Herkunft, dem sozialökonomischen Status abgewertet (Prinzip der Leistungsgerechtigkeit, Nützlichkeitsethik etc.). Es wird eine moralische und kulturelle Unterlegenheit inszeniert. Die Abwertung dient der Legitimierung von Privilegien und Ausbeutung anderer, wirkt ausgrenzend und disziplinierend für den Rest. Sie fördert Anpassung an eine für den Arbeitsmarkt zugeschnittene Lebensführung. Die Ideologie ist, dass bei Anpassung der ökonomische Erfolg garantiert sei. In der Realität sieht es anders aus, denn das Marktregime basiert auf Konkurrenz und es gibt immer Leute, die die Nachfrage besser bedienen. Versagen auf dem Arbeitsmarkt gilt als Nichterfüllung der Norm, ökonomischer Mißerfolg sei selbstverschuldet und kann mit Sanktionen bestraft werden.   

Es gibt auch Anknüpfungspunkte zum Rassismus. So titelte die BILD: 90% der Libanesen kriegen Hartz IV. Oder auch z.B. zum Sexismus: Hartz IV- Mütter würden die einzige Produktivität beim Kinderkriegen von gesellschaftlich “unnützen” Kindern zeigen.  

Während es beim Rassismus um Rasse, ethnische Herkunft, Biologie, Nationalität geht, steht beim Sozialchauvinismus der ökonomische Status im Mittelpunkt.  

Sozialchauvinismus wurde auch geschichtlich eingeordnet. Im Fordismus gab es autoritäre Regelungen in der Fabrik, der Massenkonsum setzte die Selbstdisziplinierung voraus. Schließlich wurde auf der Suche nach neuen Verwertungsmöglichkeiten das Soziale ökonomisiert, die Ungleichheiten verstärkten sich. Es veränderte sich die Reproduktion der Arbeitskraft, die Sicherung der Reproduktion bei sinkenden Reallöhnen wird immer schwieriger. Die Anforderungen an das Arbeitsvermögen stiegen, es geht um das Selbstmanagement und nicht mehr um Pflichterfüllung.   

Sozialchauvinismus ist institutionelle Produktion von Ausschluß und zugeschobene Selbstverantwortung. Der Markt schließt aus, aber die Verantwortung wird auf das Subjekt abgewälzt. In der alten Sozialhilfe gab es ein schwaches Subjekt, dass zu befähigen sei. Heute in Hartz IV ist das Subjekt selbst Schuld und ist zu bestrafen. Viele Subjekte identifizieren sich mit dem Aggressor und werten andere ab. Es herrscht ein gesellschaftliches Klima, in dem Sozialchauvinismus möglich ist. Dieses ist die Voraussetzung, dass sich elitäre Vorstellungen ausbilden können. Allerdings gibt es auch eine Abgrenzung nach oben (Schmarotzende, Zocker).  

Deutsche Zustände  

Für den Vortrag habe ich vor allem die Langzeitstudie zur “Gruppenbezogenen Menschlichkeit” von 2008 bis 2010 verwendet. Insgesamt gibt es die Studie 10 Jahre von 2002-2011, die 10. Folge erscheint im Dezember. Seit 2002 wurden folgende Elemente einbezogen: Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Homophobie, Abwertung von Obdachlosen, Abwertung von Behinderten, Islamophobie, Etabliertenvorrechte, Sexismus. Seit 2007 wurde die Abwertung von Langzeitarbeitslosen einbezogen, auf diese Textabschnitte habe ich mich konzentriert.  

2002 begann eine Forschungsgruppe um Wilhelm Heitmeyer die Langzeitstudie “Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit”. Dabei waren zwei Indikatoren besonders auffällig: die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen und die zunehmende Spaltung der Gesellschaft. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit werden Langzeitarbeitslose und Hartz IV-Bezieher zur “Zielscheibe öffentlicher Debatten, die von Vertretern aus Politik und Wirtschaft, aber auch aus Showbusiness und Kabarett angeheizt werden.” (Heitmeyer 2008, S. 16)  

Das Arbeitslose bzw. Erwerbslose eine sehr heterogene Gruppe sind, möchte ich mit den verschiedenen Typen von Arbeitslosen beginnen.  

Klaus Dörre teilt die Arbeitslosen in drei Gruppen ein:

·      Um-jeden-Preis-Arbeiter (ständig auf Arbeitssuche)

·      Als-ob-Arbeiter (z.B. Ein-Euro-Jobber)

·      Nicht-Arbeiter ("Faulenzer", Glücklicher Arbeitsloser)  

Benedikt G.Rogge/ Thomas Kieselbach schreiben, dass es seit den 1980er Jahren eine differentielle Arbeitslosenforschung gibt, die die Vielfalt von Erfahrungen und Umgangsweisen mit Arbeitslosigkeit analysiert. Es gibt ein breites Spektrum an Alltagswirklichkeiten in der Arbeitslosigkeit vom Extremtyp des fröhlichen Arbeitslosenalltags (glückliche Arbeitslose) bis zum Extremtyp des völlig sinnentleerten Alltags (die Decke auf dem Kopf).  

Eine Studie zu holländischen Arbeitslosen kennt sechs verschiedene “Kulturen der Arbeitslosigkeit”

  • Konformist, der permanant nach Wiederbeschäftigung strebt

  • Ritualist, der sich weiter bewirbt, aber keine Hoffnung mehr hat

Das sind Typen, die rigide Arbeits- und Leistungsnormen haben. Die Alltagszeit ist radikal entwertet, sie können die frei gewordene Zeit fast nur mit Arbeitssuche oder anderen arbeitsmarktbezogenen Tätigkeiten füllen und verharren in rastloser Arbeitssuche. Sie sind die vom Staat erwünschten Arbeitslosen, denn ständiges Bewerben ist die gesellschaftliche Norm, die von den Arbeitslosen erwartet wird.

Nicht erwünscht sind dagegen folgende Typen:

  •  Unternehmer, die in der Schattenwirtschaft aktiv sind (betrügen den Staat)

  •  Zurückgezogene, die in Resignation und Isolation leben (sind nutzlos)

  •  Berechnende, die staatliche Unterstützungsleistungen beziehen, um ihren Lebensstandard zu halten (“Sozialschmarotzer”)

  •  Autonome, für die Arbeit und Konsum einen geringeren Stellenwert haben (können dem System gefährlich werden)

Entscheidend sind auch die finanziellen Ressourcen, es ist ein Unterschied, ob jemand Schulden hat bzw. schon aus prekären Verhältnissen abrutscht oder z.B. Unterstützung von Angehörigen bekommt.

Entscheidend sind aber auch die individuellen Bewältigungsformen. Wer z.B. kulturelles Kapital hat, kann seine Zeit aktiv nutzen. Wer allerdings schon in einem Umfeld von Resignation sozialisiert wurde, einen geringen Sozialstatus und eine geringe Qualifikation hat, bei dem sei die Fähigkeit zur aktiven Bewältigung oft geringer ausgeprägt.

Vor allem jene, deren Arbeitslosenalltag sinnentleert ist, bräuchten sinnvolle Beschäftigungsmaßnahmen und weitere institutionelle Unterstützung. Instrumente der Repression sind zu bekämpfen.

Bei allen Arbeitslosentypen muß es darum gehen, die Stigmatisierung zu bekämpfen. 

Abwertung von Langzeitarbeitslosen  

Faulenzerdebatten gibt es schon lange. Ob Norbert Blüm die Sozialschmarotzer in der Hängematte von Bali wähnte oder Gerhard Schröder vor Einführung von Hartz IV sagte: "Es gibt kein Recht auf Faulheit". Während aber noch 2004 während der Montagsdemos Solidarität mit den Erwerbslosen bekundet wurde, kippte die Stimmung Mitte 2005 nach Einführung von Hartz IV und vor allem dem Clement-Report "Vorrang für die Anständigen", in dem die vermeintlichen Sozialbetrüger und ihre Anstifter diffamiert wurden. In den Jahren 2006 und 2007 wurde dann die Unterschichtendebatte geführt.  

Forschungsergebnisse: Folge 6 (2008)  

In dieser Stimmungslage, seit 2007 bezog die Forschungsgruppe um Heitmeyer auch Langzeitarbeitslose in die Studie ein. “Sie werden unter dem Gesichtspunkt mangelnder Nützlichkeit sozial abgewertet...So stießen wir unter anderem auf folgende Ergebnisse: Fast 50 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu, daß die meisten Langzeitarbeitslosen nicht wirklich daran interessiert sind, einen Job zu finden. Empörend finden es insgesamt fast 61 Prozent, wenn sich Langzeitarbeitslose auf Kosten der Allgemeinheit ein bequemes Leben machen.” (Heitmeyer 2008, S.20ff. )

Langzeitarbeitslose sind von massiven Abwertungen betroffen. Die Gruppe wird sichtbar, wenn sie sich zum Beispiel an Lebensmittelausgaben anstellt. In den Medien wird sie verhöhnt, so bezeichnete Thomas Gottschalk in “Wetten daß...?!” Bierdosen als “Hartz IV-Stelzen”. Das ökonomistische Denken nimmt immer mehr zu, alles wird dem Nutzenkalkül untergeordnet. Personen werden nach ihrer Nützlichkeit und Funktionsfähigkeit bewertet.

“Die Befragungsdaten zeigen, daß über ein Drittel der Deutschen den Aussagen tendenziell zustimmen, die Gesellschaft könne sich wenig nützliche Menschen (33,3 Prozent) und menschliche Fehler nicht (mehr) leisten (34,8 Prozent). Etwa 40 Prozent der Befragten sind der Ansicht, in unserer Gesellschaft würde zuviel Rücksicht auf Versager genommen, zuviel Nachsicht mit solchen Personen gilt 43,9 Prozent als unangebracht, und etwa ein Viertel stimmt der Aussage zu, daß “moralisches Verhalten [...]ein Luxus [ist], den wir uns nicht mehr leisten können” (25,8 Prozent)....Es sind nicht allein politische Entscheidungen, die diese Gruppen in materieller Hinsicht `produzieren`, die Abwertung durch andere Bevölkerungsgruppen dichten diese Kategorien zusätzlich `moralisch`ab.” (Heitmeyer 2008; S. 31ff.) Soziale Ungleichheit ist gesellschaftlich bedingt, wird aber heute “in einer Form als `Normalität`akzeptiert, daß Kritik immer mehr zu verstummen droht...der Wert oder die Wertigkeit von Menschen wird an soziale Lagen gekoppelt. Die Rede von Arbeitslosen als `Wohlstandsmüll`ist wie die Metapher eines Showmasters, der Bierdosen als `Hartz IV-Stelzen`bezeichnet, ein Indiz für die abwertende Verdinglichung dieser Gruppe durch gesellschaftliche Eliten.” (Heitmeyer 2008, S. 39f.)

Hartz IV-Bezieher sind in diesem Klima immer häufiger Verhöhnungen ausgesetzt. “...neben die soziale Erniedrigung tritt das Urteil der moralischen Ùnterlegenheit`”. (Heitmeyer 2008; S. 40f.) Auch sozial abgehängte Gruppen können sich des Mechanismus der Ungleichwertigkeit bedienen. Die Umwandlung der eigenen Ungleichheit in die Abwertung anderer ist ein Instrument der Ohnmächtigen. Die eigene Unterlegenheit wird in Überlegenheit verwandelt. “Die Transformation von Ungleichwertigkeit in extreme Formen ùnwerten`Lebens, und damit der Schritt zur Gewalt, ist dann nicht mehr groß.” (Heitmeyer 2008, S.41)

Heitmeyer stellt 2008 fest, dass bei sinkender Soziallage, die Ressentiments gegen Langzeitarbeitslose kontinuierlich zunehmen. Das Bedürfnis wachse, sich vom unteren Rand der Sozialhierarchie abzugrenzen.  

Warum Menschen, die sich in unteren Soziallagen befinden, sich vom "unteren Rand" abgrenzen, z.B. Niedriglöhner gegen Hartz Iv- Bezieher, kann vor allem mit autoritären Einstellungen erklärt werden. 

Warum der Autoritarismus so gefährlich ist, zeigte sich in den "deutsch-deutschen Zuständen" von 2009.  

Autoritarismus und Rechtspopulismus (Folge7)

“Der Rechtspopulismus spielt...für die Entstehung und Legitimation rechtsextremer Aktivitäten eine bedeutende Rolle.....Im Projekt Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit definieren wir Rechtspopulismus als Einstellungsmuster, das autoritäre Law-and-Order-Haltungen, Fremdenfeindlichkeit und Antisemistismus umfaßt.”, so die Autoren in dem Buch “Deutsch-deutsche Zustände” von Wilhelm Heitmeyer. (Heitmeyer 2009, S.93)

Die Vereinigung hat dabei einen nährreichen Boden für Rechtspopulismus geschaffen. Die Rechtspopulisten nutzen die Ohnmachtsgefühle und die Unzufriedenheit der Menschen und fordern mit ihren Parolen ein härteres Durchgreifen. Ostdeutsche stimmten in der Studie den rechtspopulistischen Einstellungen eher zu, die Unterschiede zwischen Ost und West sind trotzdem gering. Die Ostdeutschen fühlen sich eher benachteiligt, weil viele mit der “Wende” einen Statusverlust erlebten. “Wer sich als Verlierer der Einheit und Bürger zweiter Klasse fühlt, sucht Sündenböcke und ist anfällig für die Logik des Ressentiments: Aus Unwertgefühlen heraus an Schwächeren sein Mütchen kühlen.” (Heitmeyer 2009, S: 98)

Es können jedoch nicht nur Ohnmachtsgefühle, Unzufriedenheit mit der Demokratie, Statusverlust und Benachteiligungen sein, die zu rechtspopulistischen Einstellungen führen, denn es gibt auch in Folge dessen linke Einstellungen.

Meines Erachtens spielt auch der Autoritarismus eine große Rolle. In der Studie von Heitmeyer stimmten Ostdeutsche allen Autoritarismus-Items häufiger zu. Der Autoritarismus geht einerseits mit Orientierungslosigkeit einher. Andererseits tendiert, wer autoritär eingestellt ist, eher zu rechten Sichtweisen. Allerdings, wie die DDR bewiesen hat, sind auch Linke vor Autoritarismus nicht gefeit.
Hierarchien zwischen gesellschaftlichen Gruppen werden mit einer ökonomistischen Wertorientierung gerechtferigt. Die Gesellschaft könne sich keine Schwachen leisten. “Menschen, die soziale Veränderungen als Bedrohung wahrnehmen und darauf reagieren, indem sie autoritäre Denk- und Verhaltensmuster aufrufen, tendieren leider dazu, die schwächsten Mitglieder einer Gesellschaft abzuwerten- auch wenn sie (objektiv) dieser Gruppe selbst angehören.” (Heitmeyer 2009, S.202)

Während in Folge 6 und 7 der "Deutschen Zustände" noch die unteren Soziallagen und deren Abwertungen thematisiert wurden, stellen Heitmeyer u.a. in Folge 8 und 9 fest, dass die Abwertung von Langzeitarbeitslosen ein elitärer Diskurs wird.

Dieser Diskurs wird durch eine öffentliche Debatte eingeleitet. 

2009-2011: Sarrazin, Sloterdijk, Heinsohn, Westerwelle 

Im September 2009 erscheint von Sloterdijk “Die Revolution der gebenden Hand”. Sloterdijk spricht von “Semi-Sozialismus” und “Staats-Kleptokratie” und meint damit den Steuer- und Sozialstaat.

“Lebten im ökonomischen Altertum die Reichen unmissverständlich und unmittelbar auf Kosten der Armen, so kann es in der ökonomischen Moderne dahin kommen, dass die Unproduktiven mittelbar auf Kosten der Produktiven leben- und dies zudem auf missverständliche Weise, nämlich so, dass sie gesagt bekommen und glauben, man tue ihnen unrecht und schulde ihnen mehr. Tatsächlich besteht derzeit gut die Hälfte jeder Population moderner Nationen aus Beziehern von Null-Einkommen oder niederen Einkünften, die von Abgaben befreit sind und deren Subsistenz weitgehend von den Leistungen der steueraktiven Hälfte abhängt. Sollten sich Wahrnehmungen dieser Art verbreiten und radikalisieren, könnte es im Lauf des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu Desolidarisierungen großen Stils kommen. Sie wären die Folge davon, dass die nur allzu plausible liberale These von der Ausbeutung der Produktiven durch die Unproduktiven der längst viel weniger plausiblen linken These von der Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital den Rang abläuft. Das zöge postdemokratische Konsequenzen nach sich, deren Ausmalung man sich zur Stunde lieber erspart.” (faz, 13.6.2009)

Seine Lösung: “Die einzige Macht, die der Plünderung der Zukunft Widerstand leisten könnte, hätte eine sozialpsychologische Neuerfindung der ‘Gesellschaft’ zur Voraussetzung. Sie wäre nicht weniger als eine Revolution der gebenden Hand. Sie führte zur Abschaffung der Zwangssteuern und zu deren Umwandlung in Geschenke an die Allgemeinheit....” (faz, 13.6.2009) 

Im September 2009 trat dann wieder Sarrazin auf den Plan. 2008 war er durch seinen Speiseplan für Hartz IV- Bezieher bereits aufgefallen. Sarrazin schreibt in Lettre International Heft 86, S197-201: “Klasse statt Masse”

“Die Stadt (Anm. Berlin) hat einen produktiven Kreislauf von Menschen, die Arbeit haben und gebraucht werden, ob es Verwaltungsbeamte sind oder Ministerialbeamte. Daneben hat sie einen Teil von Menschen, etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung, die nicht ökonomisch gebraucht werden, zwanzig Prozent leben von Hartz IV und Transfereinkommen; bundesweit sind es nur acht bis zehn Prozent. Dieser Teil muß sich auswachsen...Es gibt auch das Problem, daß vierzig Prozent aller Geburten in der Unterschicht stattfinden...Meine Vorstellung wäre: generell kein Zuzug mehr außer für Hochqualifizierte und perspektivisch keine Transferleistungen mehr für Einwanderer.... Jemanden, der nichts tut, muß ich auch nicht anerkennen. Ich muß niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert. Das gilt für siebzig Prozent der türkischen und für neunzig Prozent der arabischen Bevölkerung in Berlin. Viele von ihnen wollen keine Integration, sondern ihren Stiefel leben...Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate.” 

Im November 2010: Sloterdijk “Aufbruch der Leistungsträger” in Cicero (Sarrazin der Bildungsbürger)

Die Wahlgewinner seien die FDP und die Linken, damit würden zwei finanzpolitische Großgruppen aufeinander prallen: “hier die Transfermassengeber, die aufgrund von unumgehbaren Steuerpflichten die Kassen füllen, dort die Transfermassennehmer, die aufgrund von sozialpolitisch festgelegten Rechtsansprüchen die Kassen leeren.”

Die wirklichen Gewinner der Wahlen seien die Leistungsträger, die bei der FDP eine Auffangstation und ein provisorisches Basislager finden würden. Die FDP wird von Sloterdijk mit der Bekämpfung der Leistungsträgerverleumdung beauftragt. “Es ist ihre objektive Aufgabe, dafür zu sorgen, daß der Leistungsträgerkern der deutschen Population sich in Zukunft nicht nur fiskalisch stark mitgenommen fühlt, sondern sich endlich auch politisch, sozial und kulturell gewürdigt weiß...Der Geist der Zeit sendet neue Signale. Es wäre fatal, sie nicht empfangen zu wollen.” (Cicero, November 2009)

Heute müßten sich die Leistungsträger der Ausbeutung widersetzen.  

Februar 2010: Urteil des Bundesverfassungsgesetzes zum Hartz IV-Regelsatz

"Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein." (Guido Westerwelle) 

März 2010: Gunnar Heinsohn in der FAZ

Die Einwanderer seien meistens Niedrigleister, deren Nachwuchs die Bildungsschwäche weiter schleppe.  

Albrecht von Lucke spricht in den “Deutschen Zuständen” (Folge 9) von “semantischer Eskalation”. Die erfolge in drei Schritten:

1      “Am Anfang steht ein Jargon der Differenz und Ungleichheit, der in aller Regel von selbsterklärten Eliten stammt.” (Heitmeyer 2010, S. 258)

2      Diese Umgleichheit wird in politische Forderungen übersetzt.

3      Dann erfolgt die Umsetzung in Gesetze und Verwaltungshandeln.  

Die Ressentiments von oben gegen ethnische Minderheiten und Einkommensschwache brechen sich Bahn, damit verändert sich das geistige Klima. Der Klassenkampf von oben richtet sich gegen “Gleichmacherei” durch den Sozialstaat. Mit der zunehmenden sozialen Spaltung wächst auch die Distanz zwischen den Klassen. Der Ton schlägt in Verachtung um.

Selbst in der Zeit findet sich mittlerweile auf der ersten Seite die Warnung, dass es zu einer “massenhaften Einwanderung in die sozialen Netze” komme, da das deutsche Sozialsystem “immer noch attraktiv genug” sei. So Mitte Januar 2010, einen Tag später stand die ZEIT-Titelschlagzeile auf der ersten Seite der BILD-Zeitung. Das was früher hinter vorgehaltener Hand geäußert wurde, wird plötzlich salonfähig.  

Michael Hartmann schreibt in den “Deutschen Zuständen” (Folge 9):

“Es geht in der gesamten Kontroverse im Kern um eine einzige Frage, nämlich die, wer die enormen Kosten der Finanzkrise in den nächsten Jahren tragen soll: ihre Verursacher und Profiteure oder die breite Bevölkerung und die Schwachen der Gesellschaft...Der Blick des durchschnittlichen Bundesbürgers soll sich vorrangig nach unten richten.” (Heitmeyer 2010, S. 269)  

Sarrazin, Sloterdijk, Heinsohn, Westerwelle usw... “forcieren nicht nur generell eine Politik der Ausgrenzung, sondern bereiten auch rechtspopulistischen Politikern und Parteien den Boden, die in den meisten unserer Nachbarländer bereits heute existieren.” (Heitmeyer 2010, S.276)  

Dann kommt der Höhepunkt: Thilo Sarrazins Buch “Deutschland schafft sich ab” 

In der öffentlichen Debatte wird vor allem sein Rassismus und Biologismus kritisiert, nichts aber davon, was er eigentlich fordert. Es geht vor allem um die migrantische und deutsche Armutsbevölkerung.  

Über die "Unterschicht" schreibt er:

“Während die Tüchtigen aufsteigen und die Unterschicht oder untere Mittelschicht verlassen, wurden und werden in einer arbeitsorientierten Leistungsgesellschaft vor allem jene abgegeben, die weniger tüchtig, weniger robust oder ganz schlicht ein bisschen dümmer und fauler sind.” (Sarrazin, S. 79f.)

“Nicht die materielle, sondern die geistige und moralische Armut ist das Problem. (Sarrazin, S.123)

“Bekämpft werden muss dagegen die ‘Armut im Geiste’, das heißt jene Kombination aus Bildungsferne, Sozialisationsdefiziten sowie Mangel an Gestaltungsehrgeiz und Lebensenergie, der große Teile der Unterschicht in Deutschland prägt.” (Sarrazin, S.132)  

Seine Forderungen:

1      “Absenkung des Regelsatzes für Erwerbsfähige. Der fraglos größte Anreiz zur Arbeitsaufnahme läge in einer Absenkung der Grundsicherung.” (Sarrazin, S.178)

2      “Das Workfare-Konzept. Nach Empfinden der meisten Menschen sollte jemand, der Leistungen der Allgemeinheit in Anspruch nimmt, das ihm Mögliche tun, eine Gegenleistung zu erbringen....Dabei kann zunächst dahingestellt bleiben, wie produktiv diese Gegenleistung ist und ob sie überhaupt produktiv ist. Entscheidend ist, dass sie ausnahmslos eingefordert wird und die Anforderungen in Bezug auf Pünktlichkeit, Disziplin und Arbeitsbereitschaft dem regulären Arbeitsleben möglichst nahe kommen. Wer seinen Pflichten gar nicht nachkommt oder nur unpünktlich und unzuverlässig, dem würde die Grundsicherung gekürzt oder gestrichen. Wenn nämlich das “Arbeitsleid”, insbesondere die Disziplinanforderung als Voraussetzung für den Transferbezug, den Anforderungen des regulären Arbeitsmarkts näher kommt, dann wird es attraktiv, sich dort um Arbeit zu bemühen, weil selbst eine Niedriglohnbeschäftigung in Kombination mit dem Transfersystem mehr Geld einbringt als die reine Grundsicherung. Der Hang zum verhängnisvollen Nichtstun, das die Fähigkeiten verkümmern lässt, würde deutlich vermindert...” (Sarrazin, S. 182f.) 

Es werden also politische Konsequenzen gefordert. Es ist eine Frage der Zeit, bis die “Propaganda der Ungleichheit” (Lucke) zur politischen Umsetzung führt. In Zeiten des sogenannten Aufschwungs und dem Absinken der Arbeitslosenquote (auch durch Rausrechnen vieler aus der Statistik) ist es wieder ruhiger geworden.  

Auswirkungen der Krise auf die Forschungsergebnisse seit Herbst 2008 

In dieser Zeit macht sich eine fortschreitende Entsolidarisierung bemerkbar. Was hat sich empirisch verändert? 

“Wir registrieren erstens, daß sich trotz einer beispiellosen Umverteilung von unten nach oben...immer mehr Personen mit hohem Einkommen ungerecht behandelt fühlen.. Zweitens können wir unter Personen mit hohem Einkommen eine geringere Bereitschaft zur Unterstützung schwacher Gruppen feststellen als bei Personen mit niedrigen Einkommen und bei Befragten, die wir aufgrund eines Einkommens von unter 650 Euro als arm klassifizieren...Drittens wird unsere These erhärtet, daß die Verteidigung von Privilegien mit der Stigmatisierung schwacher Gruppen einhergeht...Hinzu kommt, daß diese Gruppe sich gleichzeitig oftmals nicht gerecht behandelt fühlt und fehlende Sensibilität gegenüber der offenkundigen sozialen Spaltung der Gesellschaft zeigt.” (Heitmeyer 2010, S. 20ff.)

Die Zunahme des Einforderns von Etabliertenvorrechten sowie der Anstieg von islamophoben und fremdenfeindlichen Einstellungen geht vorrangig auf die “Gutverdienenden” zurück.  

Es wurden vier Problembereiche untersucht:

1      Die Entsolidarisierung
2      Die Aufkündigung von Gerechtigkeitsprinzipien
3      Die zunehmende Verbreitung unternehmerischer Mentalitäten
4
      Die Flexibilisierungszwänge 

1) Die Entsolidarisierung  

Die Krisenbedrohung befördert Gefühle der Benachteiligung und des Werteverlustes. Es werden jene Gruppen abgewertet, die als nutzlos, leistungsschwach und besonders belastend wahrgenommen oder so dargestellt werden. Es wird die eigene Gruppe mit anderen verglichen. Ein negativer Vergleich erhöht die Vorurteile und Diskriminierungen. (fraternale Deprivation) Menschen fühlen sich auch durch Gefühle des Verlustes von Werten und Prinzipien bedroht.  

“Im Gegensatz zu Ausländern und Muslimen können Hilfeempfänger zur Eigengruppe der Befragten gehören. Das ist z.B. dann der Fall, wenn sie arm sind...Arme entsolidarisieren sich nicht von Hilfeempfängern, selbst wenn sie Vorurteile haben...Sie entziehen Hilfeempfängern zwar nicht die Solidarität, ihre Bedrohungsgefühle gehen jedoch mit einer Gruppenbezogennen Menschenfeindlichkeit einher.” (Heitmeyer 2010, S.115)

“Die bisweilen vermutete Entsolidarisierung der Armen gegenüber Hilfebedürftigen kann anhand unserer Ergebnisse nicht bestätigt werde.” (Heitmeyer 2010, S.116)

Von der Krise Bedrohte, die über ein höheres Einkommen verfügen, entziehen den Hilfeempfängern ihre Solidarität, wenn die Vorurteile stark ausgeprägt sind. 

2) Die Aufkündigung von Gerechtigkeitsprinzipien 

Sie untersuchen in der Studie vier Gerechtigkeitsprinzipien.  

1      Leistungsprinzip: zunehmende Orientierung am Leistungsprinzip, ökonomische Leistungsfähigkeit entscheidend ; korrespendiert mit der Abwertung schwacher Gruppen (Stigma Faulheit), würden keinen ökonomischen Mehrwert produzieren oder seien eine ökonomische Belastung, hätten eine geringe Leistungsbereitschaft

2      Anrechtsprinzip: konservativ geprägt, rechtfertigt eine Ungleichbehandlung aufgrund traditioneller Zuschreibungen ; Begünstigung der “eigenen” Leute, Diskriminierung gegen “Außenstehende”

3      Bedarfsprinzip: staatliche Absicherung von Grundbedürfnissen ; gerade Bedürftige erhalten Unterstützung, nimmt eher Partei für schwache Gruppen, es geht um die Notwendigkeit einer staatlich garantierten Mindestversorgung, im Buch “Deutsche Zustände” (Folge 9) wird das Bedarfsprinzip äußerst positiv bewertet 

4      Gleichheitsprinzip: abnehmende egalitaristische Orientierung, Appell an eine staatliche Regulation kann auch eine autoritär staatsfixierte Haltung ausdrücken, mit dem Verweis auf Gleichheit und Gleichbehandlung kann die Unterstützung strukturell benachteiligter Gruppen verweigert werden (Siehe DDR:  Vollbeschäftigung- Recht auf Arbeit, Asozialengesetz- Pflicht zur Arbeit, kann eine obrigkeitsstaatliche- autoritäre Grundhaltung sein)    

Das Anrechts- und Leistungsprinzip korrespondieren mit der Ideologie der Ungleichwertigkeit (Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit). Das Anrechtsprinzip hat eine abnehmende Zustimmung, die Zustimmung zum Leistungsprinzip nimmt zu. Das Leistungsprinzip wirkt sich auf die Abwertung von Langzeitarbeitslosen und Fremdenfeindlichkeit aus.

Überraschend ist, dass sich ein großer Anteil für das Bedarfsprinzip aussprechen. Allerdings:

“Setzt sich der Wandel des Sozialstaats in Richtung liberaler Wohlfahrtsregime fort...steht eine vermehrte Rechtfertigung von Kürzungen und Bedarfsprüfungen über das Leistungsprinzip zu erwarten.” (Heitmeyer 2010, S.132f.)  

3) Die Ökonomisierung der Gesellschaft: Die zunehmende Verbreitung unternehmerischer Mentalitäten 

Das ist eine “konsequente Ausweitung ökonomischer Formen auf das Soziale bis hin zur individuellen Lebensführung und der Beziehung des Einzelnen zu sich selbst.” (Heitmeyer 2010, S.139)

Das gesellschaftliche Leitbild ist das “unternehmerische Selbst”, dieses soll die Lebenseinstellung der Menschen sein. Der eigenen Lebensweise soll eine unternehmerische Form gegeben werden. Sich selbst optimieren, ökonomisch effizient handeln. Die Konkurrenz ist das allgemeingültige Prinzip.

“Ökonomischer Erfolg und Selbstverwirklichung bilden keinen Gegensatz, vielmehr bedingen und verstärken sie sich wechselseitig in einer Welt der generalisierten Konkurrenz.” (Heitmeyer 2010, S. 140) Es wird strikt zwischen Gewinnern und Verlierern unterschieden.  

Heitmeyer etc. nennen zwei Dimensionen

a      Responsiblisierung: Mobilisierung von “sozial” schwachen Gruppen unter dem Signum von Eigenverantwortung, Eigenständigkeit und Eigeninitiative

b      Unternehmerischer Universalismus: Kombination von unternehmerischen Tugenden und Selbstverantwortung  

“Im Jahr 2010 deutet sich...im Vergleich zu den Ergebnissen von Heitmeyer/Endrikat (2008) ein Trend an. Während die Abwertung von Langzeitarbeitslosen vor zwei Jahren noch am stärksten in der unteren Soziallage ausgeprägt war, so ergeben sich gegenwärtig nach dem Äquivalenzeinkommen keine signifikanten Unterschiede mehr. In der Tendenz werten gar die Menschen mit hohem Einkommen diese Gruppe am stärksten ab...Die prototypische Gruppe dieser als nutzlos etikettierten Verlierer erfährt hier zunehmend Abwertung von “oben”. Das Besondere dieser Ergebnisse besteht einerseits darin, daß die Abwertung der Langzeitarbeitslosen ausschließlich in der Gruppe der Hochverdiener im Vergleich zum Vorjahr signifikant gestiegen ist. Andererseits ist es das einzige Syndromelement der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, das nach dem subjektiven Status in der oberen Stufe der gesellschaftlichen Hierarchie signifikant stärker ausgeprägt ist als in der mittleren oder unteren Stufe.” (Heitmeyer 2010, S. 146f.)  

“Die Ergebnisse zeigen..., daß eine ökonomisierte Gesellschaft auch ein Nährboden für elitär motivierte Menschenfeindlichkeit sein kann....Eine kritische Bewertung der politischen Appelle zum unternehmerischen Selbst als Alternative zum Rückbau des Sozialstaates....ist...notwendig...” (Heitmeyer 2010, S.152) 

Das Gefährliche ist, dass die Eliten über eine weitreichende öffentliche und politische Deutungsmacht verfügen.  

4) Die Flexibilisierungszwänge 

Der Flexibilisierungszwang führt zu Einbußen in der moralischer Qualität der Gesellschaft. Als Folge bindungsloser Flexibilität wächst die Gewaltbereitschaft, wenn soziale Beziehungen nachrangig werden.  

Individuelle Umgangsweisen mit der Krise 

Heribert Prantl: Die Armen haben kein Sprachrohr, keinen Stolz, kein Selbstbewußtsein und kein Zusammengehörigkeitsgefühl mehr. Die Elite sei die Zivilgesellschaft, die dafür sorgt, daß aus der Demokratie keine Dekadenz wird. Es sind die sozialen und gesellschaftspolitischen Initiativen, die unter den Teppich kriechen, den Hartz IV über den neuen Armen der Gesellschaft ausgebreitet hat. Zur Demokratie gehört aber der Sozialstaat, der vielen Menschen erst ermöglicht, Bürger zu sein. Demokratie funktioniert nur, wenn die Bürger mitmachen. Nicht, wenn sie sich immer mehr ausklinken, weil sie keine Hoffnung auf Verbesserung ihrer Lebenssituation mehr haben.  

1) Aufspaltung der wahrgenommenen Realität in eine gesellschaftschaftliche und private Sphäre 

Es wird unterschieden zwischen der eigenen Betroffenheit und der gesamtgesellschaftlichen Lage. Grund dafür kann sein, dass eine Entlastung eintritt, denn anderen geht es noch schlechter. Das eigene Leben scheint man noch unter Kontrolle zu haben.  

2) Kollektive Schuldzuschreibungen; Aktivierung von Moralunterschieden  

“Sehen Personen ihren Lebensschwerpunkt in Arbeit und Beruf, tendieren sie in stärkerem Maße zur Abwertung von Angehörigen schwacher Gruppen als jene, die Familie, Freunde und Freizeit präferieren. Des weiteren zeigt sich, daß Personen, die die Arbeit und den Beruf als Lebensschwerpunkt setzen, zugleich aber Kontrollprobleme bei ihrer Alltagsgestaltung haben, verstärkt rassistische und fremdenfeindliche Auffassungen zeigen.” (Heitmeyer 2, 2010, S.63) 

3)politische Partizipation oder Protest 

Aber:

“Wir vermuten, daß gegenwärtig sehr viele Menschen eine Form des überwertigen Realismus an den Tag legen. Diese Idealisierung des Staus quo geht mit einem prinzipiell statischen Verständnis von Zukunft einher. Die Menschen scheinen davon auszugehen, daß sich unsere Lebensweise ohnehin nicht grundlegend verändern läßt. Hieraus leitet sich auch die Diskreditierung alternativer politischer Entwürfe als weltfremd oder irreal ab.” (Heitmeyer 2, 2010, S.112)  

“Wer dazu neigt, die gegenwärtigen bundesrepublikanische Gesellschaft positiv zu bewerten, hat auch die Tendenz, politische Veränderungsbemühungen weniger stark abzuwerten und hat offenbar auch ein weniger statisches Verständnis von gesellschaftlicher Zukunft und umgekehrt. Es gibt demnach also Befragte, die zufrieden mit dem Status quo sind und trotzdem Veränderungsbemühungen befürworten; und es gibt Befragte, die unzufrieden mit der aktuellen Form des Zusammenlebens sind, Veränderungsbemühungen jedoch ablehnen. Die letztere Personengruppe ist also gewissermaßen hoffnungs- und illusionslos unzufrieden.” (Heitmeyer 2, 2010, S. 116) 

“Die Idealisierung des Status quo sinkt mit zunehmenden Autoritarismus.” (Heitmeyer2, 2010, S.117)

Die Gegner von Gestaltungsmöglichkeiten sind häufig autoritär und glauben nicht an Veränderung. Es sind vor allem weniger privilegierte Menschen, die zur Diskreditierung alternativer Politikentwürfe neigen. Sie sind zwar unzufrieden, sehen aber gleichzeitig Veränderungsbemühungen kritisch. So handeln gerade Angehörige unterer Schichten entgegen ihren Interessen. Sie leugnen, dass es ungerechtfertigte Ungerechtigkeiten gibt und sind der Ansicht, die Opfer von Ungerechtigkeiten seien selbst schuld. Sie sind abwertend und aggressiv gegenüber politisch engagierten “Träumern” und nichtkonformen Minderheiten eingestellt. Sozial benachteiligte Menschen fügen sich, weil sie keine andere realistische Alternative sehen. Sie können sich keine Alternativen vorstellen. Eine hoffnungslose Unzufriedenheit ist die Folge.  

“Die mangelnde Artikulation dieser eher diffusen Unzufriedenheit kann also schließlich dazu führen, daß autoritäre, dogmatische Einstellungen und feindselige Mentalitäten den demokratischen Frieden still und leise von innen zersetzen.” (Heitmeyer2, 2010, S.123)   

Wenn die Wut kein politisches Ventil findet: 

1      “Vor allem sozial benachteiligte Bürger fühlen sich politisch machtlos und nehmen infolgedessen ihre Beteiligungsrechte seltener wahr.”

2      “....aufgrund dieser fehlenden Möglichkeiten, ihre Anliegen politisch geltend zu machen, (entwickeln sie) Ressentiments gegen andere, schwächere Gruppen...” (Heitmeyer2, 2010, S. 169f.) 

Gerade die subjektiv am stärksten von der Krise Betroffenen und die politisch besonders unzufriedenen Gruppen zeigen sich politisch am wenigsten beteiligungsbereit. Wenn sich die Machtlosigkeit der unteren sozialen Lagen mit einem Autoritarismus der politischen Rechten verknüpft, kann die Unzufriedenheit gegen schwache Gruppen gerichtet werden. Gerade jene, die am meisten an den Folgen des autoritären Kapitalismus leiden, haben politisch resigniert.  

Literatur: 

Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände Folge 6, Suhrkamp Frankfurt am Main 2008
Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsch-deutsche Zustände, Bundeszentrale für politische Bildung Bonn 2009
Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände Folge 9, Suhrkamp Frankfurt am Main 2010
Wilhelm Heitmeyer 2(Hrsg.), Deutsche Zustände Folge 8, Suhrkamp Frankfurt am Main 2010
Reinhold Gärtner, Politik der Feindbilder, Kremayr & Scheriau Wien 2009
Thomas Lühr, Prekarisierung und ‘Rechtspopulismus’, PapyRossa Köln 2011
Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, Deutsche Verlags-Anstalt München 2010
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, FAZ 13.6.2009
Peter Sloterdjik, Aufbruch der Leistungsträger, Cicero November 2009

Editorische Hinweise

Den Text erhielten wir von der Autorin.