Marxistische Lehrbriefe
Einführung in die
marxistische Dialektik (Teil 2)
01/07

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In unserem ersten Lehrbrief über die Dialektik untersuchten wir die Frage des Wie, der Art und Weise der Bewegung und zeigten, daß sie - auf der Grundlage des Gesetzes vom Umschlagen quantitativer in qualitative Änderungen und umgekehrt — eine komplizierte Einheit von evolutionären und revolutionären Prozessen darstellt. Wie ist das aber: kommt bei einem solchen Qualitätsumschlag eine Bewegung mit einer bestimmten Richtung heraus oder haben wir es mit einem Auf und Ab - wie etwa bei der Wippschaukel - zu tun, so daß bald die eine Qualität, bald ihr Gegenteil triumphiert, im Ganzen also nichts Neues unter unserer Sonne passiert? Diese Frage beantwortet ein anderes dialektisches Grundsgesetz, das der „Negation der Negation", das wir jetzt etwas genauer untersuchen wollen.

Hegel nannte die Ablösung einer alten Qualität durch eine neue „Negation". Marx, Engels und Lenin behielten diesen Begriff bei und gebrauchten ihn, um eine bestimmte Seite des Entwicklungsvorganges in Natur, Gesellschaft und Wissen zu kennzeichnen.

Der Begriff Negation ist zur Erklärung dieser Seite des Entwicklungsprozesses deshalb sehr brauchbar, weil der Übergang von einer alten zu einer neuen Qualität stets Verneinung, Überwindung, Zurücklassung, das heißt Negation der alten Qualität ist.

In diesem Sinne ist die Pflanze, die sich aus einem Samenkorn entwickelt, die Negation dieses Samenkorns. Im Bereich des Gesellschaftlichen ist die sozialistische Gesellschaftsordnung, die an die Stelle der kapitalistischen Gesellschaftsordnung tritt, die Negation der kapitalistischen Gesellschaftsordnung.

Nun ist aber die Entwicklung in der materiellen Welt niemals und nirgends an einem bestimmten Punkt zu Ende. Die Pflanze stirbt schließlich ab, aus ihr gehen neue Samenkörner hervor. Das ist ebenfalls eine Negation im philosophischen Sinne. Und dieser Negation schließt sich eine neue an und so fort. Wir sehen: Der Entwicklungsprozeß ist eine Folge von Negationen ohne Ende. Jedes Ding, das entsteht, ist zugleich die Negation eines anderen, das vergangen ist. Jedes Ding wird schließlich selbst wieder negiert, denn alles existiert nur eine bestimmte Zeit. Eben in diesem Sinne kann man auch sagen, Entwicklung ist „Negation der Negation". In nicht wenigen Fällen bewirkt das Gesetz der Negation der Negation eine ganz bestimmte, gleichsam spiralförmige Höherentwicklung. Gerstenkorn - Negation des Gerstenkorns durch die Gerstenpflanze — Negation dieser Negation durch die Gerstenähre: „Rückkehr" zum Ausgangspunkt des Gerstenkorns, aber auf höherer Ebene, denn es sind nun zwei oder drei Dutzend Gerstenkörner entstanden.

Entwicklung als „Aufbewahrung"

Es ist zu prüfen, ob im Prozeß des Werdens und Vergehens stets alles und alles vollständig negiert wird. Führen wir uns den Übergang der menschlichen Gesellschaft vom Kapitalismus zum Sozialismus, die sozialistische Revolution, näher vor Augen. Wir sagten bereits, die sozialistische Gesellschaftsordnung ist die Negation der kapitalistischen Gesellschaft. Heißt das etwa, beim Übergang zum Sozialismus werde alles negiert, was im Kapitalismus entstanden ist, zum Beispiel die großen Industriebetriebe mit ihrer modernen Technik, die modernen Verkehrsbedingungen, die Theater, Krankenhäuser, die Schulen?

Wird all das und vieles andere negiert, indem es vernichtet wird? Es gibt Antimarxisten oder auch manchen, der aus Unkenntnis das behauptet. Aber so etwas wäre eine abenteuerliche und unsinnige Haltung. Genau das Gegenteil ist richtig. Die Menschen in den sozialistischen Ländern benutzen das, was der faschistische Krieg nicht zerstört hat, als eine Grundlage für die weitere Entwicklung der Gesellschaft.

Hieran wird sichtbar, daß der Übergang vom Alten zum Neuen sowohl Trennung der verschiedenen Entwicklungsstufen als auch Zusammenhang bedeutet. Gerade darin, daß alles Lebensfähige und Entwicklungsfähige nicht mit dem Alten und Überlebten zusammen untergeht, sondern in der neuen Entwicklungsstufe weiterbesteht und weiterentwickelt wird, (Hegel sagte: das Alte werde „aufgehoben" in dem Sinne des Annullierens des Schlechten, des Aufbewahrens und Höherentwickelns des Guten), gerade darin besteht der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Entwicklungsstufen. Was untergeht, das ist alt und verbraucht. Was den Keim neuen Lebens in sich trägt, kann fortexistieren, indem es das Alte und Verbrauchte hinter sich läßt.

Es ist bekannt, daß in den sozialistischen Ländern die großen Traditionen der Kultur des Volkes gepflegt und gefördert werden. Darauf verwendet die neue Gesellschaftsordnung, darauf verwendet z.B. die DDR viel Kraft. Die großen Werke von Lessing, Goethe, Schiller, die großen philosophischen Gedanken von Kant, Herder und Hegel, die Musik Bachs, Mozarts und Beethovens, die Werke der großen Wissenschaftler werden dem Volk in vielfältiger Weise nahegebracht, werden als unverlierbarer kultureller Schatz gepflegt. Die Jugend lernt dieses Erbe in der Schule und Hochschule kennen und wird in seinem Geiste erzogen.

Wir sagten, im Prozeß des Werdens und Vergehens wird - letzten Endes -nur das negiert, was veraltet und überlebt ist. Das Lebensfähige bleibt erhalten und bildet die Grundlage für die weitere Entwicklung. Der Prozeß des Werdens und Vergehens in der materiellen Welt ist deshalb ein Aufsteigen von einfachen zu komplizierten, von niederen zu höheren Stufen. Man kann auch sagen: Die Entwicklung in der materiellen Welt ist ein fortschreitender Prozeß, der gesetzmäßig vor sich geht.

Natürlich dürfen wir uns diesen Prozeß der Entwicklung vom Niederen zum Höheren nicht als einen einfachen und gradlinig verlaufenden Prozeß vorstellen. In diesem Prozeß gibt es auch Abweichungen von der aufsteigenden Linie. Es gibt auch Perioden zeitweiligen Stillstands und solche Perioden, in denen Rückschritte überwiegen, in denen etwa der Faschismus

in einigen Ländern siegte. Mit einem Wort gesagt: Der gesamte Prozeß der Höherentwicklung ist außerordentlich kompliziert. Deshalb ist es manchmal gar nicht leicht, den Übergang zu höheren Stufen auch wirklich zu erkennen.

Die Triebkräfte der Entwicklung

Wir lernten nun Gesetze kennen, die uns einen Einblick in das Wie und die Richtung der Entwicklung der materiellen Welt geben. Jetzt wollen wir die Frage nach den Triebkräften der Entwicklung untersuchen, um noch tiefer in die Entwicklungsvorgänge der Natur und Gesellschaft einzudringen und sie besser verstehen zu können.

Hinter allem, was sich bewegt, verändert und entwickelt, sahen unsere primitiven Vorfahren besondere göttliche Wesen, die diese Veränderungen nach ihrem Willen hervorrufen konnten: Zeus schleuderte im Zorn Blitze und ließ den Donner rollen; Poseidon wühlte das Meer auf und ließ die Erde zum Verderben der Menschen erbeben; Athene hüllte die vom Feind bedrohten Schiffe in dichten Nebel, usw.

Längst haben die Menschen gelernt, den natürlichen Ursprung aller Kräfte zu erkennen, die die uns umgebende Welt ununterbrochen bewegen und verändern. Elektrische Spannungen in der Atmosphäre rufen den Blitz hervor. Verschiebungen einzelner Krustenteile der Erdoberfläche gegeneinander, Gasexplosionen bei Vulkanausbrüchen oder der Einsturz unterirdischer Hohlräume sind die Ursachen von Erd- und Seebeben. Durch Kondensation des Wasserdampfes in der Luft entstehen die Nebel.

Sind wir in der Lage, aus unseren wissenschaftlichen Erkenntnissen und unseren praktischen Erfahrungen heraus zu erklären, welche natürlichen Kräfte in den verschiedenen Entwicklungsvorgängen wirken und sie vorantreiben? Wir wären dazu in der Lage, wenn wir jeden einzelnen Entwicklungsvorgang untersuchen würden. Das kann selbstverständlich kein Mensch allein, und die Wissenschaften, die sich schon seit Jahrhunderten mit dieser Aufgabe beschäftigen, erreichen niemals ein Ende ihrer Tätigkeit, denn während der menschliche Geist immer tiefer in die Natur eindringt, entwickelt sich diese ununterbrochen weiter, woraus der Wissenschaft immer neue Aufgaben erwachsen.

Die wissenschaftliche Untersuchung der materiellen Welt führte jedoch zu Erkenntnissen über die Triebkräfte der Entwicklung, nicht nur dieses oder jenes besonderen Gegenstandes, sondern aller Dinge und Erscheinungen der materiellen Welt überhaupt. Diese allgemeinen Erkenntnisse, aus einer Unzahl von einzelnen Erkenntnissen gewonnen, versetzen uns nun allerdings in die Lage, die Triebkräfte, wie sie in den verschiedenen Entwicklungsvorgängen in gleicher Weise wirken, zu erklären.

Was sind das für Triebkräfte, die in gleicher Weise in allen Entwicklungsvorgängen wirken? Im dialektischen Widerspruch, der allen Dingen und Erscheinungen innewohnt, sieht der dialektische Materialismus die Triebkraft aller Entwicklung. Dieser Satz bedarf einer näheren Erklärung, denn gewöhnlich versteht man unter einem Widerspruch eine Aussage, die einer anderen Aussage direkt entgegengesetzt ist, das heißt einen logischen Widerspruch. Aber beim dialektischen Widerspruch geht es um eine ganz andere Sache. Es geht um den Widerspruch, der in den Dingen selbst steckt.

Nun mag uns jemand sagen: „Ich sehe dort eine Blume stehen, eine Nelke. Sie ist rot, ich rieche ihren Duft. Aber einen inneren Widerspruch kann ich nirgends entdecken." Beim bloßen, oberflächlichen Betrachten können wir die inneren Widersprüche tatsächlich nicht entdecken. Aber wenn wir die Lebensvorgänge in dieser Blume oder einer beliebigen anderen Pflanze näher untersuchen, dann stoßen wir auf gegensätzliche Prozesse: Aufbau- und Abbauprozesse von Pflanzenzellen, Assimilation und Dissimilation, Wachsen und Absterben. Haben wir also die Pflanzen in ihrer Bewegung, in ihrer Veränderung, in ihrer Entwicklung im Blickfeld, dann finden wir auch ihre entgegengesetzten „Seiten", entdecken die ihr innewohnenden Widersprüche. Der Begriff „Seite" ist hier in Anführungsstriche gesetzt, denn er ist nur sinnbildlich gebraucht und nicht räumlich zu verstehen. Die verschiedenen Gebiete der Wissenschaft und auch unsere eigenen Erfahrungen lehren uns, daß diese innere Widersprüchlichkeit keineswegs nur auf einen Bereich der materiellen Welt eingeschränkt ist. Die Atomphysiker beschäftigten sich mit den entgegengesetzten Kräften im Atom, mit den Kernbindungskräften und den elektrischen Kräften, die die Kernteilchen voneinander abstoßen. Aus diesen Kräften entspringen die gewaltigen Energien, die in den Kernreaktoren nutzbar gemacht werden können.

Den Astronomen enthüllen sich in den unzähligen leuchtenden Sonnen verschiedene „Seiten", die entgegengesetzt aufeinander wirken: die nach innen wirkende Massenanziehungskraft, die Gravitation und der nach außen wirkende Strahlungsdruck in den Sternen.

Jeder Physiker kennt in der Mechanik Wirkung und Gegenwirkung, Attraktion und Repulsion sowie positive und negative Ladungen bei der Elektrizität.

Und schließlich - berücksichtigen wir nicht auf Schritt und Tritt den Umstand, daß alle Dinge ihre positiven und negativen Seiten haben, daß manches in ihnen noch mit der Vergangenheit verbunden ist, während anderes schon in die Zukunft weist? Das ist doch eine Erfahrung, die wir tagtäglich neu machen und die wir letzten Endes auch an uns selbst erleben. Goethe läßt Faust ausrufen:

„Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust, Die eine will sich von der ändern trennen. .."

In poetischer Form ist hier das Bild unseres Bewußtseins, unseres Denkens, Wollens und Fühlens in seiner Entzweiung in entgegengesetzte Tendenzen gezeichnet.

Ein Blick in die Gesellschaftswissenschaft bestätigt uns, daß wir auch hier bei der Untersuchung aller Erscheinungen auf entgegengesetzte „Seiten", auf innere Widersprüche stoßen. Da ist in der gesellschaftlichen Produktion der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. In allen Gesellschaftsordnungen, die auf Privateigentum an Produktionsmitteln beruhen und in denen noch die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen herrscht, ist die Gesellschaft in Klassen aufgespalten, deren Interessen gegeneinander gerichtet sind und die einander bekämpfen. Die Arbeiterklasse und die Klasse der Kapitalisten bilden in der kapitalistischen Gesellschaft die beiden Hauptklassen, deren Kampf das ganze Bild dieser Gesellschaftsordnung bestimmt.

Die Beispiele, die wir hier aus den verschiedensten Bereichen der materiellen Welt ausgewählt haben, ließen sich in beliebiger Anzahl ergänzen. Wieviel Beispiele wir auch wählen würden, das Ergebnis unserer Untersuchung würde sich nicht ändern: die Spaltung der Dinge und Erscheinungen in gegensätzliche „Seiten" zieht sich durch die ganze materielle Welt hindurch; (1) allen Gegenständen sind innere Widersprüche eigen, die wir entdecken, wenn wir die Gegenstände in ihrer Entwicklung betrachten. Es ist also eine grundlegende Erkenntnis des dialektischen Materialismus, daß der Widerspruch allgemein ist, absolut, daß er in allen Entwicklungsprozessen der Dinge und Erscheinungen existiert, sie und alle Prozesse von Anfang bis Ende durchdringt.

Wir wissen, daß die Dinge unserer Umwelt eine bestimmte Zeit lang existieren, ehe sie vergehen, ehe aus ihnen andere Dinge entstehen. Sie existieren in all ihrer Widersprüchlichkeit als einheitliche Dinge — als Blume, als Tier, als Stern oder Planet - obwohl sie innere Widersprüche durchziehen. Jedes Ding ist eine Einheit von Widersprüchen. Wir wissen aber auch, daß kein Ding ewig existiert. Alles in unserer materiellen Welt hat seinen Anfang und sein Ende: die Blume verwelkt im Herbst, das Tier stirbt, wenn es ein bestimmtes Alter erreicht hat, Sterne und Planeten zerfallen nach Milliarden von Jahren. Der wichtigste Grund dafür, daß alle Dinge der materiellen Welt nur eine bestimmte Zeit existieren, liegt in ihrer inneren Widersprüchlichkeit. Die gegensätzlichen „Seiten" in den Dingen verhalten sich nämlich nicht ruhig und beziehungslos zueinander, sie stehen vielmehr ununterbrochen in einem „Kampf" gegeneinander. In der Pflanze z.B. verlaufen die Aufbau- und Abbauprozesse nicht völlig losgelöst voneinander, ohne aufeinander einzuwirken. Aufbau- und Abbauprozesse „kämpfen" miteinander. So lange die Aufbauprozesse stärker sind, wächst die Pflanze. Sie beginnt zu welken, wenn die Abbauprozesse überwiegen. Sie stirbt und verwest, wenn die Abbauprozesse die Pflanze erfassen, wenn die andere „Seite" des inneren Widerspruchs völlig verschwunden ist und damit der innere Widerspruch aufgehört hat zu existieren. Der „Kampf der Gegensätze treibt zur Auflösung der Einheit der Gegensätze. Die Auflösung dieser Einheit ist aber zugleich auch das Ende des jeweiligen Dinges.

Entwicklung ist Kampf der Gegensätze

Wir beobachten das auch in der gesellschaftlichen Entwicklung. Die kapitalistische Gesellschaftsordnung ist in Klassen gespalten, deren wichtigste die Arbeiterklasse und die Klasse der Kapitalisten sind. Im Klassenkampf prallen die gegensätzlichen Interessen aufeinander, bis schließlich in den sozialistischen Revolutionen die Herrschaft der Bourgeoisie gestürzt wird. Damit ist aber auch die bisherige Gesellschaftsordnung zugrunde gegangen. An ihrer Stelle beginnt eine neue, die sozialistische Gesellschaftsordnung, zu wachsen.

Welche Entwicklungsvorgänge wir auch untersuchen, immer werden wir auf die gleiche Erscheinung stoßen: der „Kampf" der Gegensätze in den Dingen und Erscheinungen der materiellen Welt führt nach einer bestimmten Zeit zur Zerstörung der bestehenden Einheit und damit auch der jeweiligen Entwicklungsform der Materie, der jeweiligen Qualität der Dinge. Die bisherige Qualität wird vernichtet und geht in eine andere Qualität über. In dieser neuen Qualität entwickeln sich neue Widersprüche — die Entwicklung geht weiter ohne Ende, denn mit jedem neuen Widerspruch beginnt auch der „Kampf" neu. Lenin schreibt: „die Einheit. . . der Gegensätze ist bedingt, zeitweilig, vergehend, relativ. Der Kampf der sich gegenseitig ausschließenden Gegensätze ist absolut, wie die Entwicklung, die Bewegung absolut ist."(2)

Der „Kampf" der Gegensätze macht uns erst verständlich, was Entwicklung ist. Dieser Kampf zwischen den entgegengesetzten „Seiten" in den Dingen, zwischen den gegensätzlichen Tendenzen und Kräften in ihnen, das ist die lebendige und unerschöpfliche Triebkraft, die die Entwicklung vorantreibt. Weil dieser Kampf der Gegensätze in allen Dingen und Erscheinungen ununterbrochen wirkt, entstehen immerfort neue Dinge, geht ständig Altes zugrunde, um Neuem Platz zu machen. Lenin faßt diese Erkenntnis des dialektischen Materialismus in folgendem Satz zusammen: „Entwicklung ist,Kampf der Gegensätze". (3)

Gäbe es keinen Widerspruch in den Dingen und keinen „Kampf der Gegensätze in ihnen, dann müßten alle Dinge für alle Ewigkeit unverändert bleiben. Es gäbe keine Entwicklung.

Die philosophischen Idealisten bestreiten allerdings, daß der „Kampf der Gegensätze innere Triebkraft der Entwicklung aller Dinge ist. Aber sie müssen dabei zu Theorien Zuflucht nehmen, die dem Standpunkt der Wissenschaft widersprechen.

Prinzipiell gibt es nur zwei Möglichkeiten, die Bewegung zu erklären: entweder ist sie Selbstbewegung als Folge innerer Widersprüche oder sie wird der Materie von außen durch ein immaterielles Wesen mitgeteilt. Darum erfinden die Idealisten außerweltliche Kräfte als Quelle der diesseitigen Bewegung. So erklären alle Religionen Gott für den Schöpfer der Welt und ihrer Entwicklung. Dazu argumentieren sie gern so: Überall, wo sich etwas bewegt, wird dieses Bewegte durch etwas anderes in Bewegung gesetzt. Dieses hat wiederum die Quelle seiner Bewegung in etwas anderem. Unendlich kann diese Kette nicht sein. Also muß es einen Erstbeweger (Gott) geben. Gäbe es keinen Erstbeweger, so auch keinen zweiten usw. Dann gäbe es auch keine Bewegung. Aber die Bewegung ist da, also muß es Gott geben.

Das ist einer der „Gottesbeweise" des Thomas von Aquin (13. Jahrhundert), die auch heute noch angewendet werden.

Warum ist dies — im logischen und wissenschaftlichen Sinne — kein Beweis? Weil er — wie alle Gottesbeweise — stillschweigend voraussetzt, was erst bewiesen werden müßte. Es wird zwar zugestanden daß heute die Welt in Bewegung ist. Aber es wird dann behauptet, daß dies nicht schon immer so war, daß also die Welt nicht ewig existiert und nicht immer bewegt ist. Freilich: wenn behauptet wird, daß die Welt und die Bewegung einen Anfang hätten, so muß es dafür eine Erst-Ursache, also Gott, geben. Der „Beweis" beruht also auf der Behauptung, daß es einen außerweltlichen Gott geben müsse, weil die Welt - das wird stillschweigend vorausgesetzt — nicht ewig sein könne.

Dieser „Gottesbeweis" trennt Materie und Bewegung, während alle Wissenschaft uns beweist, daß Materie und Bewegung nicht voneinander zu trennen sind. Die Wissenschaft sagt nicht nur aus, daß die Welt, so wie sie heute existiert, in Bewegung ist, sondern die Wissenschaft hat auch unumstößlich bewiesen — und zwar durch das Gesetz der Erhaltung von Masse und Energie — daß Materie und Bewegung zwar in mannigfaltiger Form existieren, aber daß sie sich immer nur in andere Formen der Materie und Bewegung verwandeln, niemals aber aus dem Nichts entstehen oder in ein Nichts verschwinden können. Sie sind unerschaffbar und unzerstörbar. Die Naturwissenschaft beweist, daß es keine Materie ohne Bewegung und keine Bewegung ohne etwas gibt, das sich bewegt. Sie beweist, daß die Welt von Ewigkeit her sich bewegende Materie ist und sein wird. Die Erfinder von „Gottesbeweisen" stehen mit den Ergebnissen der exakten Naturwissenschaft auf Kriegsfuß.

Übrigens wird die Sache noch deutlicher, wenn wir uns folgendes Gespräch zwischen einem dialektischen Materialisten und einem Verteidiger der Existenz Gottes vorstellen.

Marxist: Wo kommt Gott, der Erstbeweger, her?

Theologe: Er kommt nirgendwo her, er war schon immer da!

Marxist: Warum soll die Welt, die wir erforschen, die wir erkennen, nicht unendlich sein können, während Gott, über den niemand eine konkrete, nachprüfbare Aussage treffen kann, unendlich sein soll?

Theologe: Weil die Welt unvollkommen, Gott aber vollkommen ist. Gott ist absolut vollkommen, unbewegt und ohne Entwicklung.

Marxist: Das ist doch in doppelter Hinsicht paradox: Erstens war die Welt, bevor Gott sie in Bewegung gesetzt hat, unbewegt. Wenn das Unbewegte vollkommen ist, so wurde die einst vollkommene Welt erst durch Gottes Eingriff unvollkommen.

Theologe: Sie vergessen, daß Gott die Welt zugleich mit ihrer Bewegung erst geschaffen hat.

Marxist: Dann wäre also Materie und Bewegung stets eine Einheit. Genau das sagten wir. Nur behaupten Sie, daß es dafür einen Anfang gegeben hat. Wir bestreiten das. Und die Erhaltungsgesetze der Physik geben uns darin recht. Aber ich sagte, daß Ihr Argument im doppelten Sinne paradox sei: Gott ist also absolut unbewegt. Aber er soll die ganze Welt geschaffen haben und ihr einen offenbar unendlich großen ersten Anstoß gegeben haben? Und das, ohne sich dazu selbst zu bewegen? Das ist doch purer Unsinn.

Übrigens behauptet die Theologie, daß dieser Gott weder eine räumliche noch zeitliche Ausdehnung besitze (siehe die beiden Lehrbriefe der Serie E „Das moderne Weltbild", Nr. 2 „Die Grundfrage der Philosophie", S. 3 und Nr. 3 „Die marxistische Auffassung der Erkenntnis", S. 4/5.) Ein solcher Gott wäre das räumliche und zeitliche Nichts und das Bewegungslose. Ein solches absolutes Nichts kann natürlich nicht der Schöpfer von irgendetwas, noch dazu der ganzen Welt, sein.

Ein immaterieller, unbewegter „Erstbeweger", ein faktisches Nichts soll als absoluter Geist oder Gott Materie und Bewegung schaffen? Das ist mit den Erkenntnissen der Wissenschaft nicht zu vereinbaren. Man kann an einen solchen Gott nur glauben, aber ihn nicht mit logischen und wissenschaftlichen Gründen beweisen.

Eine wissenschaftliche Erklärung des Werdens und Vergehens in der Welt muß also die Triebkraft der Entwicklung in der materiellen Welt suchen, muß die Bewegung als Selbstbewegung der Materie verstehen. Außerweltliche Triebkräfte gibt es nicht. Veränderung und Entwicklung ist nur möglich als Spaltung des Einheitlichen infolge des Kampfes der Gegensätze in allen Dingen und Erscheinungen.

Anspruch auf Wissenschaftlichkeit kann nur eine solche Theorie haben, die zu erklären vermag, wo die Triebkräfte der Entwicklung in der materiellen Welt selbst zu suchen sind, oder anders gesagt: nur eine solche Theorie ist wissenschaftlich, die von der Selbstbewegung und Selbstentwicklung der Materie ausgeht. Jede andere Theorie ist darauf angewiesen, die Triebkräfte der Entwicklung außerhalb der Materie zu suchen und gerät damit — ob sie will oder nicht - auf den Weg des Mystizismus und der Unwissenschaftlichkeit. Das betrifft z.B. alle Theorien von der Entstehung des Lebens auf der Erde, die nicht davon ausgehen, daß die Triebkräfte für den Übergang von der unbelebten zur belebten Natur in den natürlichen Bedingungen der Erdentwicklung selbst zu suchen sind. Solche Theorien müssen dann mit irgendwelchen geheimnisvollen Lebenskräften spekulieren, von denen sie nicht sagen können, worin diese bestehen sollen, oder sie müssen einen außerweltlichen „Schöpfer" des Lebens auf der Erde annehmen. Wissenschaftliche Theorien von der Entstehung des Lebens auf der Erde, wie etwa die Theorie des sowjetischen Wissenschaftlers Oparin, die in zunehmendem Maße die Unterstützung der Wissenschaftler vieler Länder findet und in Teilen bereits experimentell bestätigt ist, gehen konsequent davon aus, daß die Triebkräfte für den Übergang zur belebten Natur in der materiellen Welt selbst liegen.

Der dialektische Materialismus lehrt in Übereinstimmung mit der Wissenschaft die Selbstentwicklung der materiellen Welt.

Wir haben nun das dritte allgemeine Entwicklungsgesetz der materiellen Welt kennengelernt. Man kann es zusammenfassend etwa so formulieren: alle Dinge, Erscheinungen und Prozesse haben widersprüchliche Seiten und Tendenzen, die miteinander ständig im Kampf liegen: dieser Kampf der Gegensätze führt zum Wachstum der Widersprüche, die schließlich dadurch gelöst werden, daß das Alte vergeht und Neues entsteht. Im Kampf der Gegensätze besteht der innere Impuls, die innere Triebkraft der Entwicklung.

Ebenso wie das Gesetz vom Umschlagen quantitativer Veränderungen in qualitative und umgekehrt ist das Gesetz vom dialektischen Widerspruch (es wird auch „Gesetz der Einheit und des Kampfes der Gegensätze" genannt) ein universelles Gesetz, das heißt diesem Gesetz ist die ganze materielle Welt unterworfen. Die Kenntnis dieses Gesetzes ermöglicht es uns, die Entwicklung der Dinge und Erscheinungen richtig zu beurteilen und auf diese Entwicklung einzuwirken.

Dabei dürfen wir jedoch nicht übersehen, daß die Widersprüche in den verschiedenen Dingen auch in verschiedener Weise auftreten und wirken. Überall ist es zwar der Kampf der gegensätzlichen Seiten in den Dingen, der die Entwicklung vorantreibt, aber dieser Kampf vollzieht sich z.B. in den Aufbau- und Abbauprözessen der Pflanzenzellen ganz anders als — sagen wir — in den Prozessen, die die Entwicklung der Wirtschaft eines Landes bestimmen. Deshalb genügt es nicht, das Gesetz der Einheit und des Kampfes der Gegensätze nur allgemein zu kennen, man muß dieses Gesetz vielmehr in seinem konkreten Wirken untersuchen, man muß die Widersprüche in den Dingen und Erscheinungen in ihrer konkreten Form erkennen. Jeder konkrete Widerspruch hat seine Besonderheiten, die wir beachten müssen, wenn wir keine Fehler machen wollen.

Wir wollen das kurz am Kampf der Gegensätze in der gesellschaftlichen Entwicklung untersuchen. In unserer Zeit, in der in der menschlichen Gesellschaft Klassen mit verschiedenen und oft gegensätzlichen Interessen und Bestrebungen existieren, ist es sehr wichtig, die Besonderheiten dieser Gegensätze genau zu untersuchen.

Innere und äußere Widersprüche

Widersprüche gibt es jedoch nicht nur in jedem Ding und jeder Erscheinung, sondern, da alles miteinander zusammenhängt, auch zwischen Dingen und Erscheinungen. Es gibt also innere und äußere Widersprüche. Bei der Beurteilung, was im gegebenen Fall ein innerer oder äußerer Widerspruch ist, muß genau beachtet werden, um welches Ding, welche Erscheinung es geht. Der entscheidende innere Widerspruch des Kapitalismus ist zum Beispiel derjenige zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Im Weltmaßstab ist heute der entscheidende Widerspruch derjenige zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Davon, dies richtig zu beurteilen, darf man sich nicht abbringen lassen, wenn an bestimmten Kampfabschnitten, etwa in Ländern der sogenannten dritten Welt, ein besonders harter, erbitterter, opferreicher Kampf gegen den Imperialismus, für die nationale Unabhängigkeit geführt wird. Beides ist, ebenso, wie das Ringen der sozialistischen Arbeiterbewegung in den kapitalistischen Hauptländern: antiimperialistischer Kampf, der in verschiedenen Formen geführt wird. Wie sehr gerade ein solcher Kampf dem Hauptwiderspruch unserer Zeit untergeordnet ist, zeigt schon die Tatsache, daß die Imperialisten erst, seitdem der Sozialismus im Weltmaßstab erstarkte, nicht mehr imstande sind, jeden solchen Freiheitskampf im Blute zu ersticken.

Die Dialektik zeigt uns, daß die inneren Widersprüche die jeweils entscheidenden sind. Gewiß üben auch die äußeren Gegensätze ihren Einfluß aus, der sogar sehr bedeutend sein kann. Jedoch können solche äußeren Gegensätze allein eine Veränderung der Dinge nicht bewirken. Die Hilfe, die den antiimperialistischen Kräften eines bestimmten Landes von außen gewährt werden mag, kann das Problem nicht lösen, da die Entwicklung eines jeden Landes letzten Endes davon abhängt, wie sich die inneren Klassenkräfte und -kämpfe eines jeden Landes entwickeln.

Entscheidend sind also die inneren Widersprüche. Tritt zum Beispiel zwischen einem Organismus und seiner Umwelt durch Veränderung der Umwelt ein äußerer Widerspruch auf, so wird sich der Organismus solchen Änderungen anpassen oder zugrunde gehen, nicht aber sich entwickeln. Äußere Einwirkungen haben eine auslösende, fördernde oder hemmende Wirkung, aber sie üben diese Wirkung nur im Zusammenhang mit den jeweiligen inneren Widersprüchen aus. Fördernde Wirkung geht vom antiimperialistischen Freiheitskampf der Völker der sogenannten dritten Welt auf die imperialistischen „Mutterländer" nur insoweit aus, als die Arbeiterklasse solche Einflüsse aufnimmt und sie ihrerseits mit ihren eigenen revolutionären Aktionen verbindet. Die Revolution entspringt jeweils inneren Widersprüchen. Sie ist kein Exportartikel.

Schichten der Bevölkerung auf der anderen Seite direkt entgegengesetzt, unversöhnlich, denn dieses Großkapital schränkt, im Interesse der eigenen Macht, die Demokratie immer mehr ein, es entwickelt eine Politik, die mit atomarem Nachdruck eine Veränderung der Realitäten in Europa anstrebt. Die innere Logik dieser Politik ist der atomare Vernichtungskrieg, die Gefährdung der Fortexistenz unseres Volkes. Das Volk wünscht dagegen eine Politik des Friedens, der Verständigung, der sozialen Sicherheit, des demokratischen Lebens. Diese direkt entgegengesetzten Interessen können nicht ewig verschleiert werden.

Solche Widersprüche, in denen unversöhnliche und unüberbrückbare Gegensätze zwischen den Interessen und den Bestrebungen feindlicher gesellschaftlicher Kräfte und Klassen zum Ausdruck kommen, nennen wir antagonistische Widersprüche. Die antagonistischen Widersprüche verschärfen sich zumeist und führen oft zu heftigen Konflikten zwischen den gegensätzlichen Seiten.

Es gibt zwischen Klassen und sozialen Schichten oder Kräften jedoch auch Widersprüche, die nicht von unversöhnlicher Schärfe, nicht feindlich, nicht antagonistisch sind. In solchen Fällen ist das Gemeinsame, Verbindende, Bedingende der Seiten des Widerspruchs größer als der Gegensatz. Einen solchen Widerspruch gibt es zum Beispiel zwischen den Arbeitern und den Bauern. Das ist so im Kapitalismus und erst recht im Sozialismus. Das hat seinen Grund darin, daß beide Klassen zu den produzierenden Klassen der Nation gehören, daß sie beide - wenn auch auf verschiedene Weise — vom Großkapital ausgebeutet werden. (Im Kapitalismus) Allerdings sind die Bauern — im Unterschied zur Arbeiterklasse — eine besitzende Klasse, wobei ihr Besitz nur gering ist. Immerhin gründet sich auf diesem Unterschied und auf der unterschiedlichen Art, wie in der Stadt oder im Dorf produziert wird, der Gegensatz zwischen Arbeitern und Bauern. Dennoch ist dieser Gegensatz weit geringer als das gemeinsame Interesse, sich des Drucks der großen Konzerne zu erwehren, sich von der Ausplünderung durch die Großindustriellen und großen Bankiers zu befreien. Ebenso ist das gemeinsame Interesse an der Sicherung des Friedens überwiegend, da weder die Arbeiter noch die Bauern zu jenen sozialen Kräften gehören, die aus dem Krieg Profit zu ziehen vermögen. Sie haben nur die Opfer an Gut und Blut zu bringen.

In der Praxis bedeutet das, daß die antagonistischen Widersprüche nur gelöst werden können im Kampf der Klassen, daß die soziale Befreiung der arbeitenden Klasse nicht möglich ist, ohne Überwindung des Kapitalismus und der Beseitigung des kapitalistischen Eigentums an den entscheidenden Produktionsmitteln. Nichtantagonistische Widerspräche können auf dem Weg allmählicher Milderung und Angleichung gelöst werden, aber auch im Prozeß ihrer Überwindung geht es darum, Altes durch Neues zu ersetzen. Das Hauptmittel ist hier die geduldige Überzeugung auf der Grundlage des guten Beispiels und Beweises.

Es gibt noch andere Gründe, die Widersprüche konkret zu untersuchen. Es ist ja nicht so, daß ein konkreter Gegenstand nur die Einheit eines Paares

gegensätzlicher Faktoren ist. Im Kapitalismus gibt es nicht nur den Gegensatz von Arbeiterklasse und Kapital, sondern auch die Widersprüche zwischen den Bauern, den Handwerkern, der Intelligenz einerseits und dem Kapital, zwischen diesen sozialen Schichten und der Arbeiterklasse usw. Sind diese Widersprüche alle gleichwertig, haben sie alle den gleichen Einfluß auf den Gang der Dinge? Welcher ist der bestimmende, der Hauptwiderspruch? Es ist bekannt, daß dies im Kapitalismus der Widerspruch zwischen der Arbeiterklasse und dem Kapital ist.

Die Lehre vom dialektischen Widerspruch, die Gegenstand dieses Lehrbriefes war, nimmt einen äußerst wichtigen Platz im Marxismus ein. Lenin hat sie den „Kern" der marxistischen Dialektik, den Schlüssel zum Verständnis aller Seiten und Momente der Entwicklung genannt.

Anmerkungen

1) Lenin machte dazu in seiner Arbeit „Zur Frage der Dialektik" folgende Notiz:  „In der Mathematik + und -, Differential und Integral. In der Mechanik Wirkung und Gegenwirkung. In der Physik positive und negative Elektrizität. In der Chemie Verbindung und Dissoziation der Atome. In der Gesellschaftswissenschaft Klassenkampf'. (Aus dem philosophischen Nachlaß, Dietz-Verlag, Berlin 1954, S. 285)
2) W.I. Lenin: Aus dem philosophischen Nachlaß, Dietz Verlag, Berlin 1954, S. 286
3) Ebenda, S. 268

In einem dritten Lehrbrief wollen wir einige weitere Seiten der Dialektik behandeln.

Lenin: Die Dialektik

In der Hegeischen Dialektik als der umfassendsten, inhaltsreichsten und tiefsten Entwicklungslehre sahen Marx und Engels die größte Errungenschaft der klassischen deutschen Philosophie. Jede andere Formulierung des Prinzips der Entwicklung, der Evolution, hielten sie für einseitig, inhaltsarm, für eine Entstellung und Verzerrung des wirklichen Verlaufs der (nicht selten in Sprüngen, Katastrophen, Revolutionen sich vollziehenden) Entwicklung in Natur und Gesellschaft. „Marx und ich waren wohl ziemlich die einzigen, die die bewußte Dialektik in die materialistische Auffassung der Natur hinübergerettet hatten." (aus der Zerschlagung des Idealismus, einschließlich des Hegelianertums). (Friedrich Engels, Anti-Dühring, S. XI) „Die Natur ist die Probe auf die Dialektik, und wir müssen es der modernen Naturwissenschaft nachsagen, daß sie für diese Probe ein äußerst reichliches" (geschrieben vor der Entdeckung des Radiums, der Elektronen, der Verwandlung der Elemente und dgl.l), „sich täglich häufendes Material geliefert und damit bewiesen hat, daß es in der Natur, in letzter Instanz, dialektisch und nicht metaphysisch hergeht." (ebenda, S. 8)

„Der große Grundgedanke", schreibt Engels, „daß die Welt nicht als ein Komplex von Prozessen, worin die scheinbar stabilen Dinge nicht minder wie ihre Gedankenabbilder in unserem Kopf, die Begriffe, die ununterbrochene Veränderung des Werdens und Vergehens durchmachen — dieser große Grundgedanke ist, namentlich seit Hegel, so sehr in das gewöhnliche Bewußtsein übergegangen, daß er in dieser Allgemeinheit wohl kaum noch Widerspruch findet. Aber ihn in der Phrase anerkennen und ihn in der Wirklichkeit im einzelnen auf jedem zur Untersuchung kommenden Gebiet durchführen, ist zweierlei."

„Vor ihr" (der dialektischen Philosophie) „besteht nichts Endgültiges, Absolutes, Heiliges; sie weist von allem und an allem die Vergänglichkeit auf, und nichts besteht vor ihr als der ununterbrochene Prozeß des Werdens und Vergehens, des Aufsteigens ohne Ende vom Niederen zum Höheren, dessen bloße Widerspiegelung im denkenden Hirn sie selbst ist." Demnach ist die Dialektik nach Marx „die Wissenschaft von den allgemeinen Gesetzen der Bewegung, sowohl der äußeren Welt wie des menschlichen Denkens."

Diese, die revolutionäre Seite der Hegeischen Philosophie, wurde von Marx übernommen und entwickelt. Der dialektische Materialismus „braucht keine über den anderen Wissenschaften stehende Philosophie mehr." Was von der bisherigen Philosophie noch bestehen bleibt, ist „die Lehre vom Denken und seinen Gesetzen — die formelle Logik und die Dialektik". Die Dialektik in der Marxschen, ebenso wie in der Hegeischen Auffassung schließt jedoch in sich das ein, was man heute Erkenntnistheorie, Gnoseologie nennt, die ihren Gegenstand gleichfalls historisch betrachten muß, indem sie die Entstehung und Entwicklung der Erkenntnis, den Übergang von der Unkenntnis zur Erkenntnis erforscht und verallgemeinert. In unserer Zeit ist die Idee der Entwicklung, die Evolution, nahezu restlos in das gesellschaftliche Bewußtsein eingegangen, jedoch auf anderen Wegen, nicht über die Philosophie Hegels. Allein in der Formulierung, die ihr Marx und Engels, ausgehend von Hegel, gegeben haben, ist diese Idee viel umfassender, viel inhaltsreicher als die landläufige Evolutionsidee. Eine Entwicklung, die die bereits durchlaufenden Stadien gleichsam noch einmal durchmacht, aber anders, auf höherer Stufe („Negation der Negation"), eine Entwicklung, die nicht gradlinig, sondern sozusagen in der Spirale vor sich geht; eine sprunghafte, mit Katastrophen verbundene, revolutionäre Entwicklung; „Unterbrechungen der Allmählichkeit"; Umschlagen der Quantität in Qualität; innere Entwicklungsantriebe, ausgelöst durch den Widerspruch, durch den Zusammenprall der verschiedenen Kräfte und Tendenzen, die auf einen gegebenen Körper oder innerhalb der Grenzen einer gegebenen Erscheinung oder innerhalb einer gegebenen Gesellschaft wirksam sind; gegenseitige Abhängigkeit und engster, unzertrennlicher Zusammenhang aller Seiten jeder Erscheinung (wobei die Geschichte immer neue Seiten erschließt), ein Zusammenhang, der einen einheitlichen, gesetzmäßigen Weltprozeß der Bewegung ergibt — das sind einige Züge der Dialektik als der (im Vergleich zur üblichen) inhaltsreicheren Entwicklungslehre, (vgl. Marx-Brief an Engels vom 8. Januar 1868 mit dem Spott über Steins .hölzerne Trichotomien', die mit der materialistischen Dialektik zu verwechseln Unsinn wäre.)

W. I. Lenin, aus: Karl Marx,
in Marx, Engels, Marxismus, Dietz-Verlag, Berlin, S. 13 ff.

Seminarfragen

1. Was verstehen wir unter Negation der Negation?
Inwiefern begründet die Dialektik eine Richtung der Entwicklung?
2. Worin besteht die Triebkraft der Entwicklung?
3. Welche Arten von Widersprüchen sind zu unterscheiden und warum ist das wichtig?
4. Worin bestehen die wichtigsten politisch-sozialen Widerspräche der Gegenwart?
 

Editorische Anmerkungen

Marxistische Lehrbriefe, Serie E. Das moderne Weltbild, Nr. 7, Frankfurt a. M.  1968; Herausgeber: August-Bebel-Gesellschaft e. V.

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