Im
September 1964 erschien erstmals die deutschsprachige Ausgabe
der „Peking-Rundschau", so daß nun auch in der Bundesrepublik
eine regelmäßig erscheinende Informationsquelle über den
chinesischen Weg vorhanden war.
Welche Kreise von der chinesischen Literatur erreicht wurden, läßt
sich heute schwer feststellen. Sicher ist nur, daß in allen
westeuropäischen kommunistischen Parteien und auch in der
illegalen bundesrepublikanischen KPD die chinesischen
Positionen zu ideologischen Auseinandersetzungen führten. In
vielen westeuropäischen Ländern entstanden in dieser Phase neue,
am chinesischen Kurs orientierte Parteien, die allerdings sehr
klein blieben(6).
In
der Bundesrepublik gab es 1964 erste Anzeichen einer illegalen
maoistischen, marxistisch-leninistischen(7) Strömung. Im Laufe
der nächsten Jahre wurden die Konturen deutlicher sichtbar: Am
5. März 1965 wurde die Marxistisch-Leninistische Partei
Deutschlands (MLPD*) gegründet, am 22. April 1967 die Freie
Sozialistische Partei (FSP)(8) in Frankfurt, die im folgenden
ausschließlich im Siegerland in Erscheinung trat, und im Juli
1967 trat erstmals eine „nicht unbedeutende Gruppe
Marxisten-Leninisten der Wasserkante"(9) mit einer Zeitung
namens „Roter Morgen" an die Öffentlichkeit. Anzeichen für
weitere Gruppen gab es in Mannheim und in Nordrhein-Westfalen.
Alle hatten lediglich regionale und sehr eng begrenzte
Aktionsradien. Daß die Hamburger Gruppe um die Zeitschrift
„Roter Morgen" hier besondere Beachtung findet, hat einzig den
Grund, daß sie später den Kern der KPD/ML bilden sollte. Die
erste Ausgabe von „Roter Morgen" veröffentlichte eine „Erklärung
der Marxisten-Leninisten der Kommunistischen Partei
Deutschlands", in der vom „ungeheuerlichen Verrat" der
„Kossygin-Breschnew-Clique an den Völkern der Sowjetunion" sowie
am „gesamten internationalen Proletariat" die Rede war. Die
„ruhmreiche Kommunistische Partei Chinas [sei dagegen] die
mächtige Avantgarde der revolutionären Weltbewegung". Ganz
bewußt verstand sich die Hamburger Gruppe als Fraktion innerhalb
der illegalen KPD, da eine eigene Parteigründung „zur Zeit unter
den in Westdeutschland waltenden Umständen nicht zweckmäßig
sei"(10); vielmehr sollte „ innerhalb und außerhalb der Partei
eine breite Diskussion an der ideologischen Front zur Entlarvung
des Revisionismus" geführt werden. Der im folgenden monatlich
erscheinende „Rote Morgen" war ein getreuer Spiegel der
chinesischen (und albanischen) Positionen. Auf das Heftigste
wurde gegen alle Spielarten des „modernen Revisionismus"
polemisiert: Nach dem Tod Stalins im Jahre 1953 sei die
Sowjetunion revisionistisch entartet, eine neue „Führungsclique"
habe eine „reaktionäre Herrschaft" errichtet, und die DDR sei
ein treuer Vasall der Sowjetunion. Auch die illegale KPD habe
sich dieser Linie angeschlossen, so daß sich der
Chruschtschow-Kurs der friedlichen Koexistenz mit den
Vereinigten Staaten bis in ihre Reihen fortgesetzt habe; man
rede vom „parlamentarischen Weg" zum Sozialismus, ein
wirkliches „Ansprechen der Probleme des Weltkommunismus" finde
aber nicht mehr statt.
Der „Rote Morgen" erschien zunächst hauptsächlich im norddeutschen
Raum, doch personell lokalisierbar wurde der Kreis erst, als ab
November 1967 das Hamburger KPD-Mitglied Ernst Aust als
verantwortlicher Redakteur zeichnete. Aust hatte bis 1966 die
KPD-loyale Küstenzeitung „Blinkfüer" herausgegeben und bei
seinem umstrittenen Überlaufen(11) zur Gruppe „Roter Morgen" die
5 000 Adressen der „Blinkfüer"-Abonnenten mitgenommen. In einer
Rede (1977) gab Aust bekannt, daß er nicht erst im November
1967 zum „Roten Morgen" gestoßen sei, sondern bereits die erste
Ausgabe des „Roten Morgen" vom Juni 1967 initiiert habe(12).
Sein Ziel sei es gewesen, mit dem „Roten Morgen" eine Zeitung
aufzubauen, die an die „ruhmreiche Tradition der vor 1933
erschienenen ,Roten Fahne'"(13) anknüpfen sollte. Daß dahinter
auch die Übernahme des alten Sozialfaschismus-Konzepts der
Weimarer KPD stand, sollte sich bald zeigen: Wir lebten auch
heute „unter einer mi-litaristisch-faschistischen Herrschaft",
die durch den „offenen Verrat der sozialdemokratischen
Herrschaftsclique und der reaktionären Bonzen im DGB(14)
unterstützt werde; deshalb gelte es für alle Revolutionäre, den
Kampf dagegen aufzunehmen. Damit wurde von der Gruppe um den
„Roten Morgen" bewußt ein Konzept propagiert, das der
kommunistischen Arbeiterbewegung am Ende der Weimarer Republik
schon einmal eine schwere Niederlage beschert hatte.
Zu Beginn des Jahres 1968 traten Ereignisse ein, die die Arbeit der
Chinaorientierten Kommunisten innerhalb der illegalen
KPD in Frage stellten. Spätestens seit Anfang 1968 deutete
vieles darauf hin, daß aus bzw. anstatt der illegalen,
Moskauorientierten KPD bald wieder eine legal zugelassene
kommunistische Partei entstehen würde: Am 8. Februar 1968
stellte die illegale KPD auf einer Pressekonferenz in Frankfurt
einen neuen Programmentwurf vor. Der Streitpunkt mit
Bundesbehörden und Justiz bestand im wesentlichen nur noch in
der Frage, ob eine Wiederzulassung der KPD oder eine
Neugründung erfolgen sollte (Deutsche Kommunistische Partei).
Überdies befand sich die westdeutsche Außerparlamentarische
Opposition auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung und erweckte bei
den maoistischen KPD-Anhängern die Hoffnung auf eine relevante
soziale Basis.
Der
„Rote Morgen" kündigte eine Auseinandersetzung mit dem
Programmentwurf der KPD an und wies gleichzeitig darauf hin,
daß es nun darauf ankomme, „eigene Vorstellungen" für „den Weg
zu einem einigen sozialistischen Deutschland" zu entwickeln und
„in einer programmatischen Erklärung zusammen[zu]fassen(15). Ein
erster Schritt dazu war die Zusammenarbeit
marxistisch-leninistischer Gruppen aus Hamburg, dem Siegerland,
Mannheim, Karlsruhe und Nordrhein-Westfalen „mit dem Ziel der
Gründung einer deutschen revolutionären
marxistisch-leninistischen Partei"(16). Als Gründe wurden neben
dem „schändlichen Verrat der modernen Revisionisten" die
„Verantwortung vor der deutschen Arbeiterklasse und dem
deutschen Volk", „die [sich] ständig verschärfenden
Klassengegensätze und [die] zunehmende Faschisierung der
Bundesrepublik" sowie die „Erkenntnis, daß nur das sich
organisierende revolutionäre Proletariat in der Lage ist, die
bestehenden Klassenverhältnisse in seinem Sinne zu ändern",
angegeben.
Im
September 1968 arbeiteten angeblich bereits „in 21 Städten und
Orten"(17) maoistische marxistisch-leninistische
Gruppen, und auf einer Tagung am 26. Oktober 1968 beschloß der
„vorläufige Vorstand der sich neu konstituierenden KPD (ML)" in
Köln unter Leitung von Ernst Aust, „zur Gründung einer
marxistisch-leninistischen Partei" aufzurufen. Am 31. Dezember
1968 schließlich trafen sich „33 Delegierte aus allen Teilen
Westdeutschlands und Westberlins" in Hamburg und gründeten die
KPD/ML als „legitime Nachfolgerin der revolutionären Partei Karl
Liebknechts, Rosa Luxemburgs und Ernst Thälmanns". Der
Gründungsparteitag veröffentlichte eine Programmatische
Erklärung und das Statut der Partei(18).
Anmerkungen
6) Über die Gründungen eigener maoistisch orientierter
kommunistischer Parteien in Westeuropa s. ebd., S. 125 ff. Auf
die Bedeutung der Pekinger Publikationen für Chinaorientierte
Kommunisten in der Bundesrepublik weist der Vorsitzende der
KPD/ML, Ernst Aust, z.B. in einer Rede anläßlich des
zehnjährigen Bestehens des Zentralorgans seiner Partei hin. Vgl.
Roter Morgen. 25/1977, S. 11.
7) Für die an China orientierten Kommunisten und damit auch für die
KPD/ML wird die Bezeichnung „Marxisten-Leninisten" bzw.
„marxistisch-leninistisch" benutzt, ohne daß damit eine
Bewertung des Marxismus-Leninismus der moskautreuen Kommunisten
erfolgt. Auch sie verstehen sich nach wie vor als
Marxisten-Leninisten. ohne dies in der Weise zu betonen wie die
Chinaorientierten Kommunisten.
8) Diese maoistische Partei stand in keiner Beziehung zu der
rechtsextremistischen -» Freien Sozialistischen Partei (FSP).
9) Roter Morgen, Nr. 1, Juli 1967. S. 1. .
10)
Ebd.
11) Aust ist häufig vorgeworfen worden, noch kurz vor seinem
Ausscheiden als Herausgeber des „Blinkfüer" Artikel gegen die VR
China geschrieben und publiziert zu haben. Vgl. dazu auch Gerd
Langguth, Die Protestbewegung in der Bundesrepublik
Deutschland 1968—1976. Köln und Gütersloh 1976, S. 109. Anm. 7.
12) Roter Morgen, 25/1977, S. 11. .
13) Roter Morgen, November 1967, S. 2.
14)
Roter Morgen, Juni 1968, S. 1.
15) Roter Morgen, März 1968, S. 8.
16) Roter Morgen, Mai 1968, S. 1.
17) Roter Morgen, September 1968, S. 2.
18)
„Programmatische Erklärung" und „Statut der
Kommunistischen Partei Deutschlands/ Marxisten-Leninisten"
(laut Beschluß des Gründungsparteitages vom 31.12.1968), o.O.,
o.J.
Editorische
Anmerkungen
Richard Stöss (Hrsg) Parteien-Handbuch,
Band 3, S. Opladen, S.1832ff
*) Diese MLPD ist nicht
identisch mit der heutigen MLPD. Es gibt nicht einmal personelle
Verbindungen. Die 1. MLPD bestand auch nur eine kurze Zeit.
Siehe
im TREND
zur KPD/ML-Gründung auch:
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