Auf die Bedürfnisse des Weltmarkts zurechtgeschnitten
Der Kampf der TextilarbeiterInnen in Bangladesch /
Teil 1

01-2014

trend
onlinezeitung

Vorbemerkungen der Übersetzerin:

Bangladesch macht wieder internationale Schlagzeilen, diesmal mit einer Parlamentswahl, zu deren Boykott 21 Parteien aufgerufen haben, darunter auch die größte, islamistisch orientierte Oppositionspartei BNP (Bangladesh Nationalist Party). Begründet wird der Boykottaufruf mit der Verfassungsänderung von Ministerpräsidentin Sheikh Hasina, nach der Wahlen nicht mehr von einer Übergangsregierung überwacht werden müssen. Auch die Weigerung der USA und der EU, Wahlbeobachter nach Bangladesch zu entsenden, hat die Regierung nicht zum Einlenken gebracht; es blieb bei dem ursprünglich vorgesehenen Termin für den 05.01.2014. Seit Oktober vergangenen Jahres rufen die Boykotteure zu Generalstreiks und Großdemonstrationen auf. Ob die Bewegung gegen die Regierung nicht nur ein Mittel der Islamisten im Macht- und Kulturkampf gegen die eher säkular ausgerichtete Awami League ist und ob sie auch von fortschrittlichen Kräften mitgetragen wird, kann ich ich derzeit nicht sagen. Fest steht die Gewalttätigkeit, mit der diese Auseinandersetzung geführt wird: Seit Ende vergangenen Jahres sollen 150 Menschen, allein dieses Wochenende mindestens 12 Menschen ums Leben gekommen sein, an die 200 Wahllokale wurden bei Angriffen militanter Islamisten in Brand gesteckt.

Zwar wird in der internationalen Berichterstattung am Rande erwähnt, dass in diesem Konflikt sich auch „soziale Spannungen“ entladen, aber Informationen darüber, welche Rolle die organisierte, hauptsächlich in der Textil- und Bekleidungsindustrie beschäftigte ArbeiterInnenschaft Bangladeschs dabei spielt, liegen mir zum gegenwärtigen Zeitpunkt leider nicht vor. Anstatt jetzt im Trüben zu fischen, möchte ich an dieser Stelle lieber ein paar Worte zu dem Artikel verlieren, der im Original auf libcom.org, einer Webseite britischer libertärer KommunistInnen unter http://libcom.org/library/tailoring-needs-garment-worker-struggles-bangladesh zu finden ist. Der Artikel ist vom Oktober 2010, also nicht ganz aktuell, eignet sich aber bestens als Einführung ins Thema. Im ersten Teil wird geschildert, mit welcher Militanz der Klassenkampf von den ArbeiterInnen geführt wird und im zweiten Teil, dessen Übersetzung im nächsten Trend-Update vorliegt, bietet er einen guten historischen Überblick über die Entwicklungen, die zu der gegenwärtigen Situation geführt haben. Hinzufügen werde ich noch, was sich seit 2010 getan hat. Einen weiteren Beweggrund, den Artikel ins Deutsche zu übersetzen, möchte ich noch erwähnen: Die Auseinandersetzung mit der „nachholenden Entwicklung“ in den Ländern der sogenannten „Dritten Welt“ ist ein Stück weit, wenn man sie redlich betreibt, immer auch eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der „klassischen“ Industrieländer – die Geschichte hält einem den Spiegel vor. / A.E.

+++++++++++++++

 

Eine Überblicksdarstellung und Analyse der Entwicklungen bei den Kämpfen der TextilarbeiterInnen, über die wir in den vergangenen Jahren berichtet haben

Der Klassenkampf in Bangladesch wird konsequent auf einem hohen Niveau weitergeführt. In seiner intensivsten Form findet er in der Textil- und Bekleidungsindustrie statt, dem wichtigsten Wirtschaftszweig des Landes.1 Da in Bangladesch Arbeitskämpfe nur selten unter Mitwirkung von Gewerkschaften geschlichtet werden, nehmen sie häufig einen explosiven Charakter an. In Teil 1 wollen wir eine Vorstellung über Inhalt und Umfang dieser Kämpfe geben und im Anschluss in Teil 2 ein paar Informationen zum historischen Hintergrund.

Teil 1

Chronologische Darstellung der Höhepunkte im Klassenkampf ab 2006

Die unten aufgeführten, in der Textil- und Bekleidungssektor typischen Vorfälle sind nur eine kleine Auswahl dessen, was sich normalerweise bei Arbeitskämpfen abspielt. Für eine umfangreiche Auswahl von Artikeln in englischer Sprache, die über die Unruhen der vergangenen vier Jahre berichten, siehe: http://libcom.org. Siehe auch ein Video von 15 Minuten Länge unter http://libcom.org/history/.

In den meisten Fällen entzünden sich Streiks an der Brutalität des mittleren Managements und der Vorgesetzten oder wenn ausstehende Löhne nicht ausgezahlt werden. Die ArbeiterInnen verlassen ihren Arbeitsplatz, bilden Demonstrationszüge und stellen sich vor benachbarte Fabriken. Häufig blockieren sie Straßen und bauen Barrikaden. Bullen und paramilitärische Einheiten werden gegen die ArbeiterInnen eingesetzt, was häufig in gewalttätigen Auseinandersetzungen endet; die Sicherheitskräfte sind in der Wahl ihrer Methoden nicht zimperlich, und wenn sie erst einmal in die direkt an den Industriegebieten gelegenen Elendsviertel der ArbeiterInnen eingedrungen sind, können ganze Stadtteile in die Auseinandersetzungen hineingezogen werden – aus Demonstrationen werden dann Massenunruhen, in deren Verlauf die ArbeiterInnen Fabriken angreifen und Autos anzünden. ArbeiterInnen-Proteste in Bangladesch haben also die Tendenz und das Potential zu größeren Klassenkonfrontationen.

Frauen nehmen an den Protesten auf der Straße teil. Aber obwohl sich die Belegschaften hauptsächlich aus Frauen und Mädchen zusammensetzen, geht aus der Berichterstattung über die Aufstände der TextilarbeiterInnen hervor, wie tief die patriarchalen Traditionen mitsamt ihrer Arbeitsteilung in Bangladesch noch verwurzelt sind: Gewalt wird fast ausschließlich von Männern ausgeübt. In letzter Zeit ist es jedoch zu Zwischenfällen gekommen, die darauf hindeuten, dass sich das gerade ändert.

Mai/Juni 2006: Dhaka explodiert

Zeitweise erreicht der sowieso schon auf hohem Niveau geführte Klassenkampf eine neue Qualität. Ende Mai und den ganzen Juni 2006 entlädt sich der Klassenkonflikt in der Textil- und Bekleidungsindustrie in bisher ungeahnten Formen. Um das Ausmaß der Ereignisse zu illustrieren: Die Belegschaften von etwa 4000 Fabriken beteiligen sich an einem wilden Streik, 16 Fabriken werden von den Streikenden niedergebrannt und Hunderte geplündert; Hauptstraßen werden blockiert, die Beschäftigten liefern sich am Arbeitsplatz und auf den Straßen der Arbeiterviertel Schlachten mit Bullen und privaten Sicherheitsdiensten. Drei Arbeiter werden erschossen, Tausende verletzt und mehrere Tausende inhaftiert. Irgendwann sah sich die Regierung zum Einsatz der Armee gezwungen, um die „Ordnung“ wiederherzustellen. Mit Hunderttausenden von Protestierenden kann von einer Revolte gesprochen werden, die sich über die Bekleidungsfabriken hinweg ausgebreitet und weite Teile der ArbeiterInnenklasse Dhakas eingebunden hat.

Die Revolte begann am Samstag, den 20. Mai im Stadtteil Sripur in Gazipur, einem Bezirk Dhakas. 1000 Textilarbeiterinnen versammelten sich in dem Werk FS Sweater und weigerten sich zu arbeiten, solange drei KollegInnen inhaftiert blieben. Die Bosse der Fabrik schlossen die Streikenden in dem Fabrikgebäude ein und drehten Strom und Wasser ab. Irgendwann war die brütende Hitze nicht mehr zu ertragen; um etwa 11:00 Uhr haben sich die Beschäftigten einen Weg aus dem Gebäude verschafft und auf der Autobahn von Dhaka nach Mymensingh versammelt. Mit den Anwohnern vor Ort, die sich den Streikenden angeschlossen hatten, blockierten sie mit Barrikaden die Autobahn für etwa sechs Stunden und lieferten sich mit den Bullen eine harte Straßenschlacht. Dabei wurden eine Person getötet und siebzig weitere, einschließlich Bullen und Journalisten, verletzt.

Dann „griff die Revolte [schnell] auf andere Fabriken über, als weitere Streikposten aufgestellt und Dhakas Industriegebiete von einem Generalstreik lahmgelegt wurden. Die ArbeiterInnen trugen den Aufstand von den Industrievororten in die Innenstadt Dhakas und zerstörten dabei Autos und griffen Bürogebäude an. Auf Massendemonstrationen wurde ein Ende der Repression gefordert, die Freilassung inhaftierter ArbeiterInnen, höhere Mindestlöhne, einen freien Tag in der Woche, die Bezahlung der Überstunden, Feiertage, die pünktliche Auszahlung der Löhne, etc.“ Die über Jahre hinweg angestaute Unzufriedenheit entlud sich in Massenunruhen. Es kam zu mehreren Zusammenstößen mit Bullen und Angriffen auf das Eigentum der Bosse.

Obwohl das Gewerkschaftswesen legal ist, haben sich die Bosse der Textilindustrie bisher konsequent geweigert, Gewerkschaften anzuerkennen oder zu tolerieren. In Ermangelung eines herkömmlichen Gewerkschaftsapparates wurden kurzfristig Leute aus gewerkschaftsähnlichen Gruppierungen, die bisher keine Rolle spielten und wenig oder gar keinen Einfluss auf die Arbeitskämpfe hatten, zu Unterhändlern der Interessen der ArbeiterInnen berufen; sie handelten zwar einen neuen Mindestlohn (und andere Verbesserungen) aus, der aber unzureichend war, weil er durch die Inflation aufgezehrt und nur lückenhaft umgesetzt wurde.2

Bis zum nächsten Brand

Wiederholte Brandstiftungen durch ArbeiterInnen müssen in folgenden Kontext gestellt werden: „Arbeitsschutzbestimmungen werden vom Management gewohnheitsmäßig ignoriert und von der Regierung kaum durchgesetzt (viele Politiker haben in der Textilindustrie Geschäftsinteressen), und alle zwei Monate bricht in einer Fabrik Feuer aus. Meistens handelt es sich um kleinere Vorfälle, die regelmäßig Verletzte, aber nur selten Tote fordern; seit 1990 sind jedoch schon über 240 ArbeiterInnen in größeren Bränden umgekommen. (…) Viele TextilarbeiterInnen haben schon einen Brand am Arbeitsplatz erlebt, viele haben Verletzungen erlitten, Freunde und KollegInnen verloren – und sie alle wissen, dass sie das nur der Gier und der Fahrlässigkeit ihrer Bosse zu verdanken haben. Der recht häufige Rückgriff auf Brandstiftung bei den Kämpfen der TextilarbeiterInnen gegen ihre Arbeitgeber muss in diesem Kontext verstanden werden. Meistens werden Fabriken zur Vergeltung für nichtausgezahlte Löhne, Aussperrungen oder die Brutalität des Managements niedergebrannt. Viele ArbeiterInnen sind wegen ihres niedrigen Einkommens unterernährt und leben von der Hand in den Mund. Brandstiftung ist ein einfaches und jederzeit anwendbares Mittel, die Bosse zu schädigen, ihnen etwas zu nehmen, wenn sie nicht zahlen wollen; und der Umstand, dass diejenigen, die mit der ständigen Angst vor einem Feuer in der Fabrik leben müssen, vom Feuer als eine Waffe gegen ihre Ausbeuter Gebrauch machen können, entbehrt nicht einer gewissen poetischen Gerechtigkeit.“3

Januar 2007: Bangladesch im Ausnahmezustand

Nach monatelangem Gezänk zwischen den beiden großen Parteien (Bangladesh National Party (NBP) und Awami League (AL)) über Verfahrensdetails der Parlamentswahlen wurde im Januar 2007 eine vom Militär gestützte Interimsregierung eingesetzt. Wahrscheinlich ist diese Maßnahme von der ausländischen Diplomatie mitgetragen, wenn nicht sogar vorgeschlagen worden: „Allgemein geht man davon aus, dass die Ereignisse, die zum Ausnahmezustand geführt haben, vom Militär inszeniert wurden. Das Militär handelte nach der Drohung der UN, Bangladesch die lukrativen und prestigeträchtigen UN-Friedensmissionen zu entziehen, wenn die Wahlen trotz der Unregelmäßigkeiten, die im Vorfeld stattgefunden haben, durchgeführt werden sollten. Am Tag nach der Verhängung des Ausnahmezustands wurde Fakhruddin Ahmed, der ehemalige Gouverneur der Zentralbank, zum Vorsitzenden der neuen Interimsregierung ernannt.“4

Bei Massenverhaftungen im Rahmen der „Säuberungsmaßnahmen gegen Korruption“ unter Politikern und Geschäftsleuten wurden über 100 000 Menschen festgenommen. Streiks und Demonstrationen wurden verboten, aber im Mai ignorierten Textil- und andere ArbeiterInnen das Verbot und verschafften ihren Interessen wieder mit wilden Streiks, Protesten auf der Straße und Zusammenstößen mit der Polizei Geltung.5

September 2008: Angst vor Gespenstern

Die unzureichende Kalorienzufuhr bei den TextilarbeiterInnen führt zu Störungen in der motorischen Entwicklung. Mit einem Einkommen, das durch gleichbleibende Löhne und steigende Grundnahrungsmittelpreise aufgezehrt wird, hat sich Mangelernährung so weit ausgebreitet, dass 2008 über ArbeiterInnen berichtet wurde, die während ihrer langen Schichten ins Delirium gerieten und Halluzinationen erlitten. Eine Welle der Massenhysterie soll die Bekleidungsfabriken erfasst haben, wo ArbeiterInnen über Angriffe von Gespenstern berichten – Halluzinationen, die unter anderem auf die Symbolik der herrschenden religiösen und kulturellen Vorstellungen und auf Aberglauben beruhen. Psychologen bezeichnen diese Fälle der „Gespensterpanik“ als „kollektive Zwangsstörung“ oder „Gruppenhysterie“, die sie auf Stress, Überarbeitung und Mangelernährung zurückführen:

In den Fabriken trat die sogenannte „Gespensterpanik“ das erste Mal in Gazipur auf; eine Gruppe ArbeiterInnen verwüstete die Bekleidungsfabrik Diganto, nachdem Gerüchte in Umlauf gekommen waren, ArbeiterInnen seien bei „Gespensterangriffen“ auf den Fabriktoiletten ums Leben gekommen. Die Produktion war vier Tage lang ausgesetzt, die Beschäftigten randalierten, zerstörten Fabrikeigentum und blockierten stundenlang die Straßen. Im Mai diesen Jahres war man in einer Fabrik in Chittagongs Exporthandelszone wegen des von der Gespensterphobie ausgelösten Vandalismus gezwungen, die Produktion zwei Tage auszusetzen. Allein in Gazipur waren in den vergangenen zwei Monaten zehn weitere Bekleidungsfabriken betroffen, nachdem sich fast identische Gerüchte darüber verbreitet hatten, wie ArbeiterInnen in Fabriktoiletten in Ohnmacht gefallen und manche von ihnen sogar gestorben seien. Der letzte Vorfall ereignete sich in der Bekleidungsfabrik Pandora ( … ) am 5. September, drei Tage nachdem ArbeiterInnen die Fabrik Diganta verwüstet hatten und mit den Gesetzeshütern zusammengestoßen waren. Drei Diganta-ArbeiterInnen behaupteten, sie hätten „Hexen“ gesehen, bevor sie in der Fabriktoilette in Ohnmacht gefallen sind. Sie wurden in eine nahegelegene Klinik gebracht, wo die Ärzte feststellten, dass keine von ihnen irgendwelche Verletzungen erlitten hatte. „Sie sind wegen Schwäche in Ohnmacht gefallen. Festgestellt habe ich zu niedrigen Blutdruck und verlangsamten Herzschlag“, sagte Abdur Rahman, Chefarzt der Klinik. Außerdem seien die Patientinnen nach der Erstbehandlung wieder genesen. In Gazipur, einem wichtigen Standort der Bekleidungsindustrie, habe man sich in dieser und achtzig weiteren Kliniken an PatientInnen mit derlei Symptomen gewöhnt. Seine Klinik behandle jeden Monat im Schnitt an die 100 TextilarbeiterInnen, die an Angststörungen leiden. „Arme Textilarbeiterinnen leiden hauptsächlich unter Mangelernährung und Angstzuständen, was sie schwächt und anfällig für Nervenzusammenbrüche macht“, sagt Rahman. Die Gespenstergeschichten gingen auf Halluzinationen zurück oder seien frei erfunden.6

In wenigstens einem Fall wurde in einer Fabrik Exorzismusriten durchgeführt. Eine mögliche Erklärung für die „Gespensterpanik“ könnte darin liegen, dass in vielen Berichten die „Gespenster“ häufig in den Fabriktoiletten gesichtet werden. In dem gegenwärtigen, von offenen Klassenkonflikten geprägtem Klima sind FabrikarbeiterInnen während der Arbeit einer feindlichen Umwelt ausgesetzt und nur durch die Solidarität und die Präsenz der KollegInnen geschützt. Erschöpft und unterernährt spüren sie die Feindlichkeit ihrer Umgebung auch dann, wenn sie sich allein in der Toilette aufhalten und werden von paranoiden Halluzinationen überwältigt. Hinzu kommt, dass in den Toiletten der Fabriken tatsächlich viele Übergriffe durch das Fabrikmanagement und ihre Sicherheitsdienste auf ArbeiterInnen stattgefunden haben; die Paranoia und das Gefühl der Verwundbarkeit haben also durchaus einen Grund.

Während die Arbeits- und Lebensbedingungen der TextilarbeiterInnen ganz offensichtlich schlimm genug sind, um massive Gesundheitsschäden davonzutragen, lässt sich die tiefere Wahrheit dieser seltsamen Vorkommnisse nur schwer ermessen. Was in manchen Fabriken tatsächlich passiert ist, wird unter den Beschäftigten in ironisierter und verzerrter Version zu einem Running Gag (der dann von leichtgläubigen Medienmenschen und Doktoren für bare Münze genommen wird, weil man sich über jedes neue, zu kategorisierende Phänomen freut), zu einer ironisch gemeinten Ausrede streikender ArbeiterInnen, die das Eigentum ihrer Bosse verwüsten: „Es ist nicht unsere Schuld – ihr habt uns in den Wahnsinn getrieben!“7.

Juni 2009: 50 000 ArbeiterInnen auf der Straße und 50 brennende Fabriken

Ende Juni führt eine Auseinandersetzung über Löhne und Entlassungen in dem Außenbezirk Ashulia dazu, dass die Polizei einen Textilarbeiter erschießt. Die Unruhen greifen schnell auf weitere Fabriken in Dhaka über:

Am Stadtrand der Hauptstadt Dhaka, in den Industriebezirken: eine weitere Eskalation der Arbeiterunruhen und Krawalle. Am Morgen versammeln sich Tausende von ArbeiterInnen, um 10:00 Uhr bricht eine Gruppe in Richtung der nahegelegenen Exporthandelszone Dhakas auf, wo viele Bekleidungsfabriken stehen. Die Polizei stellt sich ihnen in den Weg und eine erbitterte Straßenschlacht bricht aus – der Einsatz von Tränengas und Plastikgeschosse durch die Polizei fordert hundert verletzte ArbeiterInnen. Binnen kurzer Zeit schließen sich weitere ArbeiterInnen den Protestierenden an und informieren sie darüber, dass in dem Fabrikenkomplex der Hamin-Gruppe die Arbeit normal weiterläuft. Dann marschieren 20 000 ArbeiterInnen zu der Hamim-Gruppe. Als die Anzahl der DemonstrantInnen auf 50 000 anwächst; sind die Sicherheitskräfte ganz einfach überfordert. Der Polizeidirektor des Distrikt Dhaka bericht: „Eine Verstärkung von 400 Polizisten stand vor den größten Fabriken Wache. Wir haben unser bestes getan, die Menge zu zerstreuen, aber sie waren zu viele und zu aufgebracht ( … ) Die Arbeiter teilten sich in zwei kleinere Gruppen auf und stürmten um etwa 10:15 Uhr die Anlage. Sie besprengten die Gebäude mit Benzin, vier Fabriken, zwei Wäschereigebäude und zwei Lagerhallen … über 8000 Maschinen, eine riesige Menge Bekleidung, Stoff, drei Busse, zwei Kleinlastwagen, zwei Minibusse und ein Motorrad wurden in Schutt und Asche gelegt. Die Menge dachte strategisch. Als die Gebäude erst einmal in Flammen standen, kehrten einige Arbeiter zur Autobahn zurück, um sie zu blockieren; infolgedessen konnte die Feuerwehr mehrere Stunden bis 15:00 Uhr den Brand nicht löschen – bis dahin waren die Gebäude bis auf die Fundamente abgebrannt. Währenddessen zog eine Gruppe von den 50 000 Arbeitern und anderen Beteiligten (wohl sympathisierende ArbeiterInnen aus anderen Industriesektoren und SlumbewohnerInnen) durch die Gegend und zerstörten weitere 50 Fabriken und 10 Fahrzeuge. Überall war über der Stadt dichter, schwarzer Rauch sehen.“8

Juli 2010: Wut über die Löhne

Während der Abfassung dieses Artikels wurde nach langen Verhandlungen zwischen der Regierung, den Bossen und den (überwiegend selbsternannten) Gewerkschaftsführern schließlich ein neuer Mindestlohn festgesetzt:

In der Hauptstadt Dhaka, vergangenen Freitagmorgen (30 Juli), ein Tag nach der Bekanntmachung des neuen Mindestlohns: In den Stadtteilen Gulshan, Banani, Kakali, Mahakali und Tejgaon strömen Tausende von ArbeiterInnen auf die Straßen und blockieren mit brennenden Autoreifen Hauptverkehrsstraßen. Die Polizei reagiert mit dem Einsatz von Tränengas, Schlagstöcken und Wasserwerfern (dem Wasser ist ein nichtabwaschbarer Farbstoff beigemischt, der bei der Verhaftung von DemonstrantInnen behilflich sein soll). Aber die Bullen, weit in der Unterzahl, können die ArbeiterInnen nicht unter ihre Kontrolle bringen, der Protest breitet sich über die Stadt aus. Die ArbeiterInnen, die eine Verbindung zwischen ihrem Klassenstatus und die dazu im Kontrast stehende Konzentration des Reichtums in den Innenstadtbezirken herstellen können, wählen ihre Ziele sehr genau aus, es werden Fabriken und etwa 200 Geschäfte angegriffen. Besonders schockiert ist man über den ungewöhnlichen Vorfall, dass an die 5000 ArbeiterInnen in der wohlhabenden Wohngegend in der Nähe des Botschaften- und Diplomatenviertels Baridhara eindringen und Bürogebäude, Banken und Geschäfte kaputtgeschlagen haben. Auch Geschäftsstellen von TV-Sendern und anderen Medienunternehmen sind angegriffen worden. Der Polizeichef des Bezirks Gulshan sagt, Angriffsziele der Protestierenden seien die Luxusgeschäfte der Gegend gewesen.“9

In den folgenden Tagen kam es zu weiteren Zusammenstößen. Tausende von ArbeiterInnen kämpften mit der Polizei, blockierten Straßen und plünderten Fabriken; man sorgte dafür, dass Hunderte Fabriken die Produktion unterbrechen mussten, unzählige Betriebe, Einkaufscenter und Banken wurden angegriffen. Die Polizei nahm protestierende ArbeiterInnen fest und durchsuchte Büros und Wohnungen führender GewerkschafterInnen, die die Abmachung nicht akzeptierten (die Mehrheit hatte den neuen Mindestlohn akzeptiert; weitere Kommentare zu den Gewerkschaften siehe Teil 2).

„Die anhaltenden Arbeiterunruhen, der dadurch bedingte Produktionsausfall in der Bekleidungsindustrie und infrastrukturelle Probleme wie Engpässe in der Energieversorgung führen regelmäßig dazu, dass die Fabriken nicht voll ausgelastet laufen können, was bei ausländische Kunden und einheimischen Lieferanten für Unruhe sorgt. [Bisher ist kaum erwähnt worden, dass das neue Lohngefüge in der Textilindustrie nur für diejenigen gilt, die in der Verarbeitung von Webstoffen beschäftigt sind, aber nicht in der Herstellung von Strickwaren.] Die starke volkswirtschaftliche Abhängigkeit von einer einzigen Exportindustrie, die verlässlich und schnell zu Wettkampfpreisen liefern soll, ist eine erhebliche Schwäche, die sich ArbeiterInnen in der Bekleidungsindustrie im Klassenkampf zunutze machen können.

Nachdem jahrelang immer dann Versprechungen gemacht wurden, wenn die Unruhen einen weiteren Höhepunkt erreicht haben, könnten Regierung und Arbeitgeber endlich mal eine umfassende gewerkschaftliche Interessensvertretung in der Branche zulassen. Doch die Mehrheit der führenden GewerkschafterInnen, die gerade für den Job umworben wird, einem miserablen Abschluss die nötige Rechtmäßigkeit zu verleihen, hat wohl mehr verloren als gewonnen. Der Staat und die Bosse können ohne weiteres ihr Versprechen, die Gewerkschaften anzuerkennen, brechen. Und wenn die militantesten ArbeiterInnen die Kämpfe wieder aufnehmen sollten, werden sie sich an den Klassenverrat und die Willfährigkeit erinnern, mit der die Gewerkschaften dieses miserable Angebot angenommen haben.““10

Nach tagelangem Aufruhr haben ein massiver Einsatz der Sicherheitskräfte im Industriegürtel Bangladeschs, massenhafte Hausdurchsuchungen und Verhaftungen vorläufig für Ruhe gesorgt. Der Klassenantagonismus ist damit nicht aufgelöst.

Anmerkungen

1 Es würde den Rahmen sprengen, an dieser Stelle auch noch die Kämpfe zu diskutieren, die in anderen Bereichen wie in der Juteherstellung, dem Bergbau oder im Transportwesen (siehe http://libcom.org/news/river-transport-strike-paralyses-bangladesh-14052010) stattfinden. Wegen ihrer Größe und Militanz sei an dieser Stelle noch auf die Bewegung gegen ein geplantes Kohleabbau-Vorhaben hingewiesen, das im August 2006 beinahe einen Aufstand in der Region auslöste, als 30 000 Protestierende die Kontrolle über eine Stadt übernahmen (siehe http://libcom.org/news/bangladesh-unrest-bhulpari-mining-garment-industry-310806 und http://libcom.org/news/bangladesh-phulbari-mining-garment-industry-010906).

2 Für eine detaillierte Schilderung der Ereignisse siehe http://libcom.org/news/article.php/bangladesh-garment-revolt-140706.

4 Bangladeshinfo.com, 6. Mai 2007

6 New Age, 13. September 2008

7 Für weitere Informationen zu diesem speziellen Thema siehe: http://libcom.org/news/bangladesh-militarized-factory-visions-devouring-demons-capital-15092008. Zur völligen Überraschung des Autors ist dieser Artikel, der den Klassenkampf der TextilarbeiterInnen positiv diskutiert und Wendungen wie „ … halbverhungerte, völlig überarbeitete LohnsklavInnen, die trotzdem auf hohem Niveau wacker ihren Klassenkampf autonom, jenseits jeglicher gewerkschaftlicher Kontrolle weiterführen … “ enthält, von der überregionalen bangladeschischen Tageszeitung The Bangladesh Today für ihre Print- und Onlineausgabe übernommen und veröffentlicht worden.

10 http://libcom.org/news/rage-over-wage-04082010

Editorische Hinweise

Die Erstveröffentlichung erfolgte bei "Insurgent Notes - Journal of Communist Theory and Practice". Nr. 2, October 2010.  Die Übersetzung ins Deutsche machte die TREND-Redaktion (A. Eismann) auf der Grundlage der Spiegelung bei:  http://libcom.org.

Zum TEIL 2
Kurzer Abriss der Geschichte Bangladeschs und seiner Bekleidungsindustrie