Auf die Bedürfnisse des Weltmarkts zurechtgeschnitten
Kurzer Abriss der Geschichte Bangladeschs und seiner Bekleidungsindustrie /
Teil 2

02-2014

trend
onlinezeitung

Mit ihren Hafenstädten und ihrer Lage an vielgenutzten Handelswegen war Bengalen schon vor über 2000 Jahren eine bedeutende Region für den Warenverkehr. Über Jahrhunderte hinweg wurden hier hochwertige Rohbaumwolle, Stoffe und Bekleidung hergestellt; im 16. Jahrhundert lernte die europäische Aristokratie Musselin aus Dhaka als edelste Textilie der Welt zu schätzen. Nach dem Niedergang des Mogulreiches setzte sich in den 1750ern der britische Imperialismus als der stärkste durch, und die „East India Company“ (Ostindische Kompanie) errichtete ihre Herrschaft über die Region. Maßnahmen wurden durchgesetzt, die die gerade entstehende britische Textilindustrie begünstigten; ein protektionistisches Zollsystem zwang Bengalen in die Rolle eines billigen Rohstofflieferanten und überließ die Produktion von Fertigerzeugnissen den „dunklen, satanischen Mühlen“ des frühkapitalistischen Großbritanniens. Diese ökonomische Umstrukturierung ging nicht nur zulasten der relativ wohlhabenden bengalischen Kunsthandwerker, sondern führte auch allgemein zu Verarmung und erzwungener Umsiedlung aus für die Landwirtschaft günstige in bisher unbewohnte, da hochwassergefährdete Gegenden.
Der Klassenkampf in Bangladesch wird konsequent auf einem hohen Niveau weitergeführt. In seiner intensivsten Form findet er in der Textil- und Bekleidungsindustrie statt, dem wichtigsten Wirtschaftszweig des Landes.

Da in Bangladesch Arbeitskämpfe nur selten unter Mitwirkung von Gewerkschaften geschlichtet werden, nehmen sie häufig einen explosiven Charakter an.

In Teil 1 haben wir eine Vorstellung über Inhalt und Umfang dieser Kämpfe geben.

A. Eismann (red. trend)

1947 gewann Indien seine Unabhängigkeit vom britischen Empire. Wegen der religiösen und ethnischen Spannungen erhielten die Muslime ihren eigenen Staat. Dieser neue Staat, Pakistan, setzte sich aus zwei unterschiedlichen Regionen zusammen, die durch Tausende von Meilen indischen Territoriums voneinander getrennt waren. Und beide wiesen starke Unterschiede in Kultur, Sprachen und Traditionen auf, die sich in den neuen Grenzen nicht einebneten, sondern noch stärker ausprägen sollten. West-Pakistans politische und ökonomische Strukturen wurden von den Händler- und Bürokratenklassen dominiert, die unter britischer Herrschaft entstanden waren und dem Kolonialregime in der Verwaltung und der Warenversorgung dienten. Was dazu führte, dass das politische und wirtschaftliche Zentrum Pakistans im Westen lag, während der Osten, also ein Teil der ehemaligen Region Bengalens, in erster Linie landwirtschaftlich geprägt blieb. Auch der Islam wurde in beiden Regionen recht unterschiedlich praktiziert. Im Osten sorgte die alte vorislamische Kultur Bengalens trotz ihrer stark patriarchalen Prägung dafür, dass sich strengere Auslegungen der Scharia nicht durchsetzen konnten.

Die Bewegung, die zur Unabhängigkeit Bangladeschs führte, lässt sich aus unterschiedlichen Gründen als ein zwangsläufiges Nebenprodukt des „Jahrzehnts der Entwicklung“ bezeichnen, das unter dem Regime Ayub Khans eingeleitet und von der internationalen Gemeinschaft als Modell für eine erfolgreiche kapitalistische Entwicklung angeführt wurde. Für die vor der Teilung Pakistans praktizierte Entwicklungspolitik bedeutete Wirtschaftswachstum den Aufbau einer industriellen Grundlage. Um das finanzieren zu können, folgte die Regierung einer Strategie, nach der ganz bewusst ökonomische Ungleichheit gefördert wurde; der im landwirtschaftlichen Sektor erwirtschaftete Mehrwert floss einer kleinen, in West-Pakistan ansässigen Unternehmerklasse zu. Einer der US-Berater der Planungskommission in Pakistan fasste das Prinzip der Strategie wie folgt zusammen: „Bei der Entwicklung von Industrie und Unternehmertum waren große Ungleichheiten unvermeidlich … die Konzentration der Einkommen in der Industrie ermöglicht die für die Finanzierung der Entwicklung notwendigen Einsparungen.““(1)

Diese Schieflage verursachte im Osten wachsenden Unmut, der schließlich in den blutigen Unabhängigkeitskrieg von 1971 münden sollte. Die Intervention indischer Streitkräfte, die im Osten von der linksgerichteten Fraktion der Generalität befehligt wurde, gab den Ausschlag für den Sieg Ost-Pakistans und führte zur Gründung des unabhängigen Staates Bangladesch.

Schon von Anfang an hatten die „pro-islamischen“ Segmente der bangladeschischen Gesellschaft Sympathien für Pakistan und waren im Namen der islamischen Einheit gegen eine Unabhängigkeit Ost-Bengalens. Die Führung der größten und wichtigsten islamistischen Partei Jamaat-e-Islami stand am Vorabend der Unabhängigkeit bei der Begehung der massenhaften, von der pakistanischen Armee befehligten Kriegsverbrechen in der ersten Reihe. Erst jetzt, fast vierzig Jahre später, werden die Verantwortlichen vor Gericht gestellt.(2)

Identitäten

In Bangladesch können Identitäten ganz unterschiedliche und komplexe Formen annehmen. Der Ursprung einer „Identität“ ist meist auf den Unabhängigkeitskrieg von 1971 zurückzuführen, der so tiefe Gräben gezogen hat, dass sie noch bis heute die Gesellschaft Bangladeschs spalten. Einige betrachten den Sieg im Unabhängigkeitskrieg als einen Triumph der vielfältigen, von Toleranz geprägten Kultur Bengalens über die anhaltende Bedrohung durch muslimische Fundamentalisten, die die Abspaltung von ihren pakistanischen Glaubensbrüdern nach wie vor übel nehmen. Je nach Betonung ergeben sich diverse ethnische, nationale und religiöse Identitäten, die sich in unterschiedlichem Maße auf die Kultur Bengalens, die Nation Bangladesch und/oder den Islam beziehen (die anderen, schwächer vertretenen religiösen und „pränationalen“, indigenen Identitäten je nach Stammeszugehörigkeit sollen uns an dieser Stelle nicht interessieren). Diese Identitäten stehen für konkurrierende Ansichten darüber, wie die Gesellschaft Bangladeschs beschaffen sein sollte und sind auf unterschiedlichen Ebenen Gegenstand politischer und kultureller Auseinandersetzungen.

Innere Emigration und ideologische Stellvertreterkriege

Während des Unabhängigkeitskrieges gab es in der Armee und in der Politik ein starkes linkes Element. Im Gefolge der Militärputsche Mitte der 1970er Jahre und der sie begleitenden Repressionswellen war die bangladeschische Linke gezwungen, ihre Organisationen aufzulösen. Von den verbleibenden AktivistInnen gingen viele in NGOs oder verrichteten im kulturellen Bereich Propagandaarbeit. Übrig geblieben sind ein paar winzige trotzkistische und stalinistische Gruppen und Parteien mit einer überwiegend studentischen Basis, die kaum Kontakt zur Arbeiterklasse haben. Einige Parteien verfügen auch über assoziierte „Gewerkschaften“, die aber trotz ihres Anspruchs – wenn überhaupt – nur mit starken Abstrichen als Interessensvertretung in den Betrieben fungieren können.

NGOs werben für das Mikrokreditprogramm für das Kleingewerbe als ein Mittel, in den ländlichen Gebieten die Unabhängigkeit von den großen Grund- und Bodenbesitzern zu fördern und den ökonomischen und sozialen Stand der Frauen zu verbessern. Gelder werden bereitgestellt, um kleinbäuerlichen Betrieben verbesserte Verfahren zu vermitteln und umzusetzen oder um von Kooperativen oder von Familien betriebene Werkstätten und ihre Vertriebsnetze zu fördern etc. Manchmal agieren sie auch als Ersatz für Gewerkschaften und bieten in den Städten Rechts- und Sozialberatungen an. Auf Dorfversammlungen greifen sie oft auf traditionelle kulturelle Vermittlungsformen wie das Schauspiel oder Volkslieder zurück, um ihre liberale Ideologie von der kulturellen Vielfalt, von Toleranz und unternehmerischen, kleinkapitalistischen Aktivitäten zu verbreiten. Auf der anderen Seite des ideologischen Schlachtfeldes stehen von Saudi-Arabien finanzierte NGOs, die für ein fundamentalistisches Wertesystem und die traditionelle, untergeordnete Stellung der Armen und besonders der Frauen Werbung machen. Dabei sind einge von ihnen auch schon mit terroristischen Aktivitäten in Zusammenhang gebracht worden. Die Fundamentalisten sehen insbesondere die mehr als drei Millionen weiblichen Beschäftigten der Textil- und Bekleidungsindustrie mit ihrer relativen wirtschaftlichen Unabhängigkeit als einen Beweis für die unerträglichen, korrumpierenden Einflüsse der Moderne und greifen deshalb, wenn sich die Gelegenheit ergibt, NGOs und Gewerkschaften und von diesen finanzierte Projekte an.

Sichtbar wird diese ideologische Spaltung in unterschiedlichen politischen und kulturellen Bereichen. Die Gewinnerin der letzten Wahl, die Awami League (AL), wird im Vergleich zu der Oppositionspartei Bangladeshi National Party (BNP), die in ihrer jüngeren Vergangenheit Wahlbündnisse mit fundamentalistischen Gruppen eingegangen ist, als die säkulare, liberalere Partei betrachtet - nach den Maßstäben Bangladeschs, wohlgemerkt. In der Vergangenheit hatte auch die Awami League schon mit der einen oder anderen religiösen Gruppierungen geflirtet und sich sich als ähnlich korrupt wie ihre Konkurrenz erwiesen.

Kapitalistischer Wandel auf dem Land

Nach der Unabhängigkeit kamen unterschiedliche westliche Hilfsorganisationen und Planungsträger nach Bangladesch. Über den IWF flossen Fördermittel, um Grundbesitzer zu bewegen, auf Monokulturen und die Produktion für westliche Märkte umzusteigen. Damit wurde kleinen, Subsistenzwirtschaft betreibenden oder für den heimischen Markt produzierenden Pachtbauern Land weggenommen. Mit jeder neuen, aus dem Westen importierten Anbaumethode, die der Umwelt schadete und in die Abhängigkeit von aus dem Westen importierten Düngern und Hybridsaatgut etc. trieb, wuchs auf dem Land die Arbeitslosigkeit(3) - eine neue Form der „Einhegungen“(4), ähnlich der „Einhegungen“, die Jahrhunderte zuvor die Kleinbauern in Europa erlitten.

Die Textil- und Bekleidungsindustrie verschafft sich Zugang zur weiblichen Arbeitskraft

Während sich im ländlichen Raum Veränderungen in der Agrarwirtschaft und in den Geschlechterverhältnissen vollzogen, nahmen westliche Volkswirtschaften auch auf die Entwicklung der Industrie in den Städten Einfluss. 1974 verabschiedeten westliche Länder das „Multifaserabkommen“ als Maßnahme zur Kontrolle der zunehmenden Importe aus den Entwicklungsländern Asiens und Lateinamerikas. Nach diesem Abkommen wurden den meisten Ländern Importquoten auferlegt, aber die ärmsten Länder – darunter auch Bangladesch – waren von diesen Einfuhrbeschränkungen befreit. Was das sog. „quota hopping“ zur Folge hatte: Länder ohne Importkontingent wurden für Unternehmer aus Ländern mit Quotenbeschränkung attraktiv. Die geringen Anlaufkosten mitsamt der Befreiung von Einfuhrbeschränkungen und der staatlichen Förderung begünstigten einheimische und ausländische Investitionen in der Bekleidungsindustrie.

Ab den 1970ern wuchs die mittlerweile weltweit exportierende Bekleidungsindustrie Bangladeschs schnell an. Derzeit werden im Textilsektor etwa 80 % der 18 Milliarden US-Dollar starken Exporterlöse erwirtschaftet. Die Branche beschäftigt ungefähr 40 % der Industriearbeiterschaft, ca. 3,5 Millionen Menschen, davon 85 % Frauen. Die IndustriearbeiterInnen sind jung, offiziell mindestens 14 Jahre alt (wobei unter der Hand auch Kinder zu Niedrigstlöhnen beschäftigt werden), und in der Mehrheit weiblich. Ihre Arbeitskraft hat eine Lebenserwartung von etwa 20 Jahren, danach nimmt ihre Produktivität aus Gründen wie nachlassendes Augenlicht und anderen Alterungserscheinungen ab, die meist auf die unter TextilarbeiterInnen weitverbreitete Unterernährung zurückzuführen sind.

Die Tausenden von jungen Frauen auf der Straße, die sich auf den Weg in die Fabrik machen, war ein ungewohnter und für viele auch ein schockierender Anblick. In den ersten Tagen der Textilindustrie salbaderten Geistliche vor den Fabriktoren gegen diese neuartige „Grenzüberschreitung“ der Frauen an und verteilten Kassetten mit ihren Predigten. Wilde Gerüchte wurden darüber verbreitet, was passiert, wenn man erlaubte, dass Männer und Frauen gemeinsam in einer Fabrik arbeiten. Aber eigentlich waren die Fabriken hervorragend geeignet, unter den gegebenen Geschlechterverhältnissen auch die weibliche Arbeitskraft auszubeuten – abseits der Öffentlichkeit, unter genauer Beobachtung stehend und oft auch von den Männern getrennt, ließen sich sowohl die Produktivität maximieren als auch die Bedenken der männlichen Verwandten zerstreuen (wobei das zusätzliche Einkommen auch eine Rolle spielte), und die Branche wuchs immer schneller an. Bei Ehepaaren hingegen veränderte sich mit der Fabrikarbeit die häusliche Arbeitsteilung: Männer mussten das erste Mal einen Teil der Hausarbeit übernehmen, damit der Haushalt in Schuss blieb.

Wenn sich mit der kapitalistischen Entwicklung die Geschlechterverhältnisse verändern, dann passiert das also auch deshalb, weil man sich die bestehende Geschlechtertrennung nutzbar macht. Früher waren Männer in der Textilindustrie beschäftigt, von denen viele das traditionelle Handwerk der Schneiderei gelernt hatten. Aber ihre im Allgemeinen schwach ausgeprägte Arbeitsmoral und damit auch niedrige Produktivität hatte zu Folge, dass die Bosse der Bekleidungsfabriken zunehmend Frauen einstellten; diese Präferenz erklären sie mit dem fügsameren Temperament bangladeschischer Frauen.(5) Diese vermeintliche Fügsamkeit ist nur ein ideologischer Reflex der Geschlechterrollen und ihrer kulturellen Konditionierung durch die Mehrheitsgesellschaft. Vielmehr sieht es so aus, dass Frauen auf dem Arbeitsmarkt eine beschränktere Auswahl haben und daher eher bei einem Job bleiben. So schildert eine Fabrikarbeiterin:

Wissen Sie, uns Frauen ist einer der beiden Flügel gebrochen worden. Wir haben nicht den Mut der Männer, weil wir wissen, dass einer unserer Flügel gebrochen ist. Ein Mann kann überall schlafen, er kann sich einfach auf die Straße legen und schlafen. Eine Frau kann das nicht. Sie muss sich über ihren Körper, über ihre Sicherheit Gedanken machen. Deshalb stellt der Besitzer einer Bekleidungsfabrik lieber Frauen ein, weil Männer über ihre Möglichkeiten besser Bescheid wissen; er bringt ihnen was bei, bildet sie aus und dann gehen sie, um woanders zu arbeiten. Selbst wenn er die Wahl zwischen einem kleinen Jungen und einem älteren Mädchen hat, wird er denken, „Sie ist nur ein Mädchen, die kommt nicht weit rum.““(6)

Die Geschlechtertrennung wird in Frage gestellt

Da das Erbe traditionell über die männliche Linie vermacht wird, ist zum Schutz des Familienvermögens die Gebärfähigkeit der Frauen einer strikten Kontrolle unterworfen. Gemäß der Vorschriften der „Purdah“ (wörtlich übersetzt „Vorhang“ oder „Schleier“) erwartete man, wie es in Ländern wie Saudi-Arabien noch Sitte ist, dass Frauen – ob in der Stadt oder auf dem Land – zuhause bleiben, wenn sie nicht von einem männlichen Beschützer begleitet werden. Die traditionellen, dörflichen Moralvorstellungen sahen vor, dass Frauen nur in Einzelfällen erlaubt war, außer Haus zu arbeiten, so dass sich ihr Tätigkeitsbereich auf Garten- oder Handarbeit wie z.B. die Herstellung von Fischnetzen, auf Spinnen oder Korbflechten beschränkte. Als nach der Unabhängigkeit die Arbeitslosigkeit anstieg und die Löhne in der Landwirtschaft über einen langen Zeitraum hinweg sanken, fingen Frauen zum einen aus wirtschaftlicher Notwendigkeit und zum anderen aus dem Wunsch nach größerer Unabhängigkeit an, diese Restriktionen in Frage zu stellen. Auch die Katastrophenserie nach der Unabhängigkeit in den 1970er Jahren, also diverse Überflutungen, eine Hungersnot und mehrere blutige Putsche, trug einen erheblichen Teil dazu bei, die traditionelle Rollenverteilung ins Wanken zu bringen und zwang die Frauen, die den Schutz und die Unterstützung der Männer verloren haben, zu mehr Eigenständigkeit. Einige fingen an, außer Haus zu arbeiten, was, soweit möglich, nicht auffallen sollte. Andere wurden bei der Errichtung von kunsthandwerklichen oder landwirtschaftlichen Kooperativen von Hilfsorganisationen unterstützt. Andere wiederum zogen in die überfüllten Slums der Städte, um nach Arbeit zu suchen – viele von ihnen in den Fabriken der Bekleidungsindustrie.

Der Umstand, dass die Bekleidungsindustrie mindestens 85 % Frauen beschäftigt, spiegelt die dramatischen sozialen Veränderungen der jüngsten Zeit wieder. In den 1960ern hat sich das Gefüge im Mitgift-System verschoben. Während die Tradition vorsah, dass die Familie des Bräutigams die Mitgift zu bezahlen hatte, wurde es unter den Wohlhabenden zum Brauch, dass die Brautfamilie dafür aufkam. Diese Veränderung setzte sich in allen Klassen als Norm durch. Für arme Familien bedeutete das, dass Mädchen nicht nur wegen ihrer eingeschränkten Möglichkeiten zum Geldverdienen zu einer zusätzlichen Last wurden, sondern auch, weil man jetzt noch zusätzlich ihre Mitgift aufbringen musste. Eheschließungen wurden zur finanziellen Hauptbelastung der Familien. Ein weiterer Grund für die Abwanderung vieler junger Frauen vom Dorf in die Städte: Indem sie Geld nach Hause schicken, verlassen sie ihre ökonomische Rolle als Kostenfaktor und tragen zum Familienvermögen bei.

Die Gepflogenheit, dass die Frau bei der Eheschließung ihrem Mann ihre „Mitgift“ übergibt oder ein Geschenk macht, hat seinen Ursprung im „Streedhan“-System („Streedan“: Der Anteil der Frau am elterlichen Vermögen, der ihr übergeben wird, wenn sie heiratet). Da die Frau kein Anrecht auf ein Erbe hatte, betrachtete man „Streedhan“ als eine Möglichkeit, mit der die Familie der Frau dafür sorgte, dass sie Zugang zu einem Teil des Vermögens hatte. Es kann nicht eindeutig nachgewiesen werden, wann diese Praxis in Indien aufgekommen ist. Der „Erbteil“ der Frau, der ursprünglich in der überwiegend landwirtschaftlich geprägten Ökonomie ein Stück Land war, ist zu einer aus Gold, Kleidung, Gebrauchsgütern oder einer großen Summe Bargeld bestehenden Mitgift degeneriert, die mit der hohen Verschuldung die völlige Verarmung von Familien mit sich bringt, die schon vorher nicht wohlhabend waren. Häufig wird die Mitgift von der Familie des Bräutigams zu Geschäftszwecken, zur Ausbildung von Familienmitgliedern oder als Mitgift einer Schwester des Ehemanns verwendet. Die Übergabe der Mitgift endet nicht mit der Hochzeitszeremonie, denn von der Familie der Braut wird erwartet, dass sie auch weiterhin Geschenke macht.“(7)

In Bangladesch können Frauen ohne weitere Umstände geschieden und verlassen werden, die dann mit ihren Kindern mittellos und alleine dastehen. Für verlassene und junge Frauen, die der Abhängigkeit von einem Mann und den damit verbundenen patriarchalen Restriktionen entgehen wollen, stellen die Bekleidungsfabriken mittlerweile einen Rettungsanker dar. Und für viele arme Familien eine Möglichkeit, etwas dazuzuverdienen.

Machtlose Gewerkschaften

Der Kampf gegen die extreme Ausbeutung in der Textil- und Bekleidungsindustrie hat eine lange Geschichte. Die Kampfbereitschaft und die Gewalttätigkeit der Arbeitskämpfe sind kaum eine Überraschung, wenn man bedenkt, dass die Beschäftigten der Bekleidungsindustrie Bangladeschs weltweit die niedrigsten in der Industrie bezahlten Löhne erhalten dürften. Was auch noch zu dem heftigen und explosiven Charakter der Arbeitskämpfe beiträgt, ist, dass sich die unterschiedlichen Kampfformen in der Branche im Großen und Ganzen autonom entwickelt haben, und das weitgehend ohne institutionelle Schlichtung. Mehrfach schon ist ist die Forderung nach dem vollen Mitbestimmungsrecht der Gewerkschaften in den Betrieben gestellt worden, damit der Dauerkonflikt mit den ArbeiterInnen endlich gelöst wird. Immer dann, wenn die Unruhen einen weiteren Höhepunkt erreichen, wird versprochen, gewerkschaftliche Aktivitäten zuzulassen. Aber wenn sich die Wogen erst einmal geglättet haben, weigern sich die meisten Bosse erneut, eine gewerkschaftliche Vertretung zu gewähren.

In der Textil- und Bekleidungsindustrie ist bis zum heutigen Tage den Gewerkschaften jegliches Mitspracherecht verwehrt worden. Deshalb haben sie nur einen geringen Einfluss auf die Belegschaften und können bei Konflikten zwischen Arbeitgebern und –nehmern kaum schlichtend auftreten. In der Branche gibt zwar Dutzende von Gewerkschaften, aber wie ihrer führenden AktivistInnen feststellen, sind sie alle so gut wie außerstande, die ständigen Unruhen unter den Arbeitern beizulegen, da sie wegen Inaktivität in den Betrieben keinen Einfluss ausüben. Einige von ihnen meinen, derzeit gebe es in der Textil- und Bekleidungsindustrie mehr als 28 zugelassene und mehr als 13 nicht zugelassene Gewerkschaften. Von den 200 zugelassenen Betriebsgruppen sollen gerade mal um die 15 aktiv sein. Was dazu führt, dass die Gewerkschaftsführung – obwohl sie bei der Schlichtung von Arbeitskämpfen eine wichtige Rolle spielen sollte – über keine geeigneten Interventionsmöglichkeiten verfügt. Während der letzten Unruhen sind einige Fabriken von Arbeitern angegriffen worden, aber die Führung der Gewerkschaften war mangels aktiver Betriebsgruppen nicht in der Lage, mit den Arbeitern zu kommunizieren. ( … ) „Wir wissen, dass wir bei Unruhen im industriellen Sektor eine bestimmte Verantwortung tragen. Aber zuweilen fühlen wir uns machtlos, da wir keinen Einfluss auf die Arbeiter ausüben“, sagt Amirul Haque, Generalsekretär der Gewerkschaft NGWF – National Garment Workers Federation (Daily Star, 14. September 2008)“(8)

Die Unnachgiebigkeit, mit der die Arbeitgeber den Gewerkschaften Mitbestimmungsrechte verweigern, wirkt sich insgesamt als eine strategische Schwäche aus. Grundlegende Arbeitnehmerrechte und ein annehmbarer Mindestlohn würden mit Sicherheit für Stabilität in der Branche sorgen und die angestiegenen Lohnkosten durch immer seltener auftretende Produktionsausfälle kompensiert werden. Tarifverhandlungen würden wahrscheinlich – wozu sie ja auch vorgesehen sind – in einem gewissen Umfang den selbstorganisierten ArbeiterInnen und ihren oft spontanen und illegalen Aktionen die Initiative nehmen und in die Hände von Gewerkschaftsbürokraten legen. Mithilfe langwieriger, förmlicher Verfahren würde der in der Branche auf hohem Niveau geführte Klassenkampf entschärft und in „geregelte“ Bahnen gelenkt werden.

Die Auslagerung bestimmter Arbeiten wie etwa Knopflöcher nähen und andere Restfertigungen durch größere Fabriken an kleinere ist eine geläufige Praxis (da Textilien ein flexibles, biegsames Material sind, ist das Rationalisierungspotential vieler Arbeitsschritte einschränkt). Die Betriebe, die in der Textil- und Bekleidungsindustrie die einzelnen Teilprodukte zu einem Produkt vervollständigen, reichen von dubiosen Unternehmungen, die schnell mit ein paar Maschinen und einer kleinen Belegschaft gegründet werden bis hin zu HighTech-Fabriken mit Tausenden von Beschäftigten. Deshalb erscheint den Bossen in den Niederungen der Wertschöpfungskette – dort, wo niedrige Betriebskosten, Gelegenheitsbeschäftigung und schnelle Lieferung entscheidend für die Profitgewinnung sind – die Anpassung an Arbeitsschutzvorschriften und weitere rechtliche und finanzielle Verpflichtungen, die die Anerkennung der Gewerkschaften mit sich bringen würde, unattraktiv. Die von ihnen letzthin abgelehnte Erhöhung des Mindestlohns auf 5.000 Taka (umgerechnet 58 €) hätte die Herstellungskosten nur geringfügig erhöht. Durch den vergrößerten Produktionsumfang, mehr Vertreiber und Konsumenten wären sie ganz einfach zu kompensieren gewesen:

Berichte der Medien über die Situationsanalyse der Bekleidungsindustrie deuten darauf hin, dass ein Mindestlohn für die Beschäftigten die durch den Export erwirtschafteten Profitmargen kaum belasten würde. Die Lohnerhöhung hätte einen Kostenanstieg von 1 – 3 % in der Herstellung zur Folge und würde höchstens 9,2 % des Wertes des Gesamtexports des Geschäftsjahres 2009 – 2010 ausmachen, als die durchschnittliche Gewinnmarge bei 8 – 10 % des Exportwerts lag. Laut dem Wirtschaftsbericht der Weltbank haben sich bis 2010 die Exporterlöse im Textil- und Bekleidungssektor in den vergangenen fünf Jahren von 6,4 Milliarden $ auf 12,5 Milliarden $ fast verdoppelt.“(9)

 Das hindert die Abnehmer aus dem Ausland aber nicht daran, weiterhin die Preise zu drücken. Erst kürzlich ließen sie verlautbaren, sie seien nicht willens, die Kosten der Lohnerhöhungen zu tragen, würden aber Fabriken „bei Produktivitätssteigerungen unterstützen“.

Ein weiterer Grund für die Zurückhaltung der letzten Regierungen, Gewerkschaften zu unterstützen und ein Arbeitsrecht durchzusetzen, ist, dass einige Politiker Investoren in der Bekleidungsindustrie sind. Trotzdem scheint die derzeitige Regierung – wenn man den letzten Verlautbarungen des Arbeitsministers glauben mag - Gewerkschaften für ein geeignetes Instrument der Vermittlung und Schlichtung und zur Kontrolle der Arbeiterunruhen zu halten. Die eigentliche Frage ist, ob die Gewerkschaften dann in der Lage sind, den unter den ArbeiterInnen verbreiteten Kampfgeist unter Kontrolle zu bekommen und die Intensität und Spontaneität der Arbeitskämpfe mit langwierigen, ordentlichen Verfahren und Verhandlungen zu domestizieren.

Wird ein neues Gewerkschaftsgesetz die erwünschten Resultate hervorbringen, wenn es in Kraft getreten ist? Mit der Einführung bestimmter Arbeitsschutzmaßnahmen (Berufskrankheiten, aber auch Todesfälle durch Brände in den Fabriken treten häufig auf) wie auch der rechtlichen Möglichkeiten, einen Mindestlohn durchzusetzen, der auch tatsächlich regelmäßig ausbezahlt wird, würde man sich unter den Arbeitern sicherlich beliebt machen. Das aber hängt davon ab, ob die Bosse in der Bekleidungsindustrie und der Staat bereit sind, Reformen zuzulassen, die dann auch wirklich umgesetzt werden – was bis jetzt nicht der Fall gewesen ist. Wiederholt wurden Versprechen gemacht und wieder gebrochen. Die Gewerkschaften werden auch in Zukunft keine Rolle spielen, wenn es bei der politischen Durchsetzung ihrer Verhandlungsmacht als Vertretung der ArbeiterInnen kein Entgegenkommen gibt. (Ein anderer Aspekt wäre, dass sie sich in einigen Fällen als genauso korrupt wie die meisten anderen politischen Institutionen erwiesen haben und als ein Mittel zum Zweck der beiden großen Parteien.) Im Interesse der Herrschenden haben die Gewerkschaften ihre Glaubwürdigkeit wiederherzustellen und als Stellvertreter die Kontrolle über eine Arbeiterschaft zu übernehmen, die in den letzten 25 Jahren durchgehend unter Beweis gestellt hat, dass sie sich auf einem sehr hohen Niveau selbst organisieren kann. Es ist durchaus möglich, dass die ArbeiterInnen nicht einfach so auf ihre bewährten und gebräuchlichen Kampmittel wie regelmäßig stattfindende wilde Streiks, das Aufstellen von Streikposten vor benachbarten Fabriken, Straßenblockaden, allgemeinen Aufruhr und die Beschädigung und Zerstörung des Eigentums der Bosse verzichten werden.(10)

Die Gewerkschaftsführer, die den letzten vorgeschlagenen Mindestlohn angenommen haben, zeigten sehr schnell ihr wahres Gesicht: „Die Mehrheit von ihnen ist nicht einmal in einer Bekleidungsfabrik beschäftigt. Es wird berichtet, sie seien von der Regierung für die Verhandlungen herausgepickt worden. Bereitwillig haben einige von ihnen der Einigung den Anschein der Legitimität verliehen und das Angebot im Namen der ArbeiterInnen akzeptiert. Nazma Akter, Präsidentin der Sammilto Garment Sramik Federation, einer Plattform für 40 000 in Bekleidungsfabriken beschäftigte ArbeiterInnen, begrüßte den angekündigten Mindestlohn von 3000 Taka [das wären ca. 28 € -Anm. d. Ü.] für Neueingestellte.“(11)

Akter, selbst eine ehemalige Arbeiterin in der Textil- und Bekleidungsindustrie, hat auf der Karriereleiter der NGOs und der internationalen Lobbyisten-Szene sicheren Fuß gefasst und bisher gerne mit den Bossen der Industrie zusammengearbeitet, indem sie die Öffentlichkeit belog und bestritt, es sei in den Bekleidungsfabriken zu irgendwelchen Misshandlungen von ArbeiterInnen gekommen. Die Gewerkschaft National Garment Workers Federation NGWF hat das Angebot für den Mindestlohn angenommen und zusammen mit der anderen großen Gewerkschaft die gewalttätigen Proteste gegen den Abschluss verurteilt. Dabei stellte die NGWF die absurde Behauptung auf, an ihnen hätten sich keine ArbeiterInnen beteiligt.(12)

Es gibt aber auch Berichte darüber, dass Tausende von ArbeiterInnen dem vorgeschlagenen Mindestlohn eine Absage erteilt und sich gegen die Polizei und die staatliche Repression zur Wehr gesetzt haben. Während Gewerkschaftsbüros durchsucht und führende GewerkschaftsaktivistInnen verhaftet wurden, die sich weigerten, das armselige Angebot anzunehmen, freut sich die Führung der NGWF in aller Öffentlichkeit darüber, die Lohnverhandlungen in Übereinstimmung mit der Arbeitgeberseite zum Abschluss bringen zu dürfen, die Gewalt der ArbeiterInnen zu verurteilen und, wie gute Gewerkschaftsbürokraten eben so sind, die Verhaftung der ArbeiterInnen zu fordern, die sich aktiv dieser Einigung entgegensetzen. Und was die dämliche Behauptung betrifft, ArbeiterInnen seien an der Gewalt nicht beteiligt gewesen: Sie ist eine Lüge, wie zahlreichen Artikel der Tagespresse und Polizeiberichte über die Arbeiterunruhen und Verhaftungen beweisen.

Amirul Huq Amin, höchster Funktionär der NGWF, tritt nach einem Treffen von Regierungs- und Gewerkschaftsrepräsentanten und Arbeitgebern aus dem Gebäude des Hersteller- und Exportverbands der Textil- und Bekleidungsindustrie Bangladeschs. Er sagt, bei den neuen Tarifen gebe es keine Meinungsverschiedenheiten. ( … ) Amirul Huq sagt den Reportern nach dem Treffen, Arbeiter seien in der anhaltenden Gewalt in der Bekleidungsindustrie nicht involviert gewesen und fordert die Verhaftung und Bestrafungen derjenigen, die an den gewalttätigen Vorfällen der letzten Zeit beteiligt waren.“(13)

Die NGWF hat in der Vergangenheit Kontakt zu AnarchosyndikalistInnen in westlichen Ländern gehabt und seit kurzem auch zu der US-Sektion der Industrial Workers of the World (IWW). Außerdem arbeitet sie eng mit westlichen NGOs und Wohltätigkeitsorganisationen wie „War on Want“ zusammen. Trotz ihres Rufs als eine eher basisorientierte ArbeiterInnenorganisation ist deutlich zu erkennen, dass sie sich wie die anderen konkurrierenden Gewerkschaften in die Position der alleinigen ArbeitnehmerInnenvertretung der Branche drängeln möchte, und demonstriert dabei dem Staat, wie gesetzestreu sie ist. Ihre Bemühungen, einem Hungerlohn den Anstrich der Legitimität zu verleihen und ihr Ruf nach staatlicher Repression gegen militante ArbeiterInnen und rivalisierende Gewerkschaften zeigen, mit welcher Zielstrebigkeit sie dabei vorgeht.

Wohltätig wirkend für freiheitlichere und gesetzlich geregelte Formen der Ausbeutung

NGOs betreiben Lobbyarbeit für Fabriken, die sich an die Richtlinien halten, die die Mindeststandards für Löhne und Arbeitsbedingungen festlegen. Dabei bemühen sie sich um die Zusammenarbeit mit den Vertreibern im Westen. Die Multis legen großen Wert darauf, ihr Image sauber zu halten und wollen verhindern, dass die Öffentlichkeit das Unternehmen mit „Ausbeuterbetrieben in der Dritten Welt“ in einen Zusammenhang bringt. Aber die Einhaltung der Mindeststandards ist im Großen und Ganzen eine von den Unternehmern gestützte Fiktion. Nur für die Besuche der Kontrollbeamten werden in bestimmten Bereichen der Fabrik – die nicht für die typischen Arbeitsbedingungen stehen – die Bestimmungen vorbildlich einhalten. Oft werden zwei Geschäftsbücher geführt, wobei eines der beiden höhere Löhne aufweist, als tatsächlich ausgezahlt werden. Vor den Kontrollbesuchen werden die ArbeiterInnen instruiert; man sagt ihnen, wie sie sich zu verhalten haben, und Arbeitsschutz- und Erste-Hilfe-Ausrüstungen werden kurzfristig aufgebessert etc.

Westliche NGOs und Wohltätigkeitsorganisationen lenken zwar die öffentliche Aufmerksamkeit auf die schauderhaft niedrigen Löhne, die Arbeitsbedingungen und die in den Slums herrschenden Verhältnisse. Allerdings tun sie das, indem sie die ArbeiterInnen emotionalisierend als passive Opfer darstellen, die nur mit Hilfsprogrammen westlicher NGOs und deren Lobbyarbeit für Rechtsreformen die nötige Handlungsfähigkeit im Sinne ihrer eigenen Interessen erlangen können. Der militant geführte Klassenkampf der ArbeiterInnen in der Textil- und Bekleidungsindustrie wird selten erwähnt und als das bezeichnet, was er ist, nämlich ein Klassenkonflikt. Der Klassenkampf wird lediglich als tragische und bedauerliche Begleiterscheinung einer unzureichend regulierten Branche und eines „unethischen“ Konsumdenkens begriffen. Ignoriert wird damit der Doppelcharakter der ArbeiterInnen: Obwohl als LohnsklavInnen einer extremen Ausbeutung unterworfen, sind sie weit davon entfernt, einfach nur passive Opfer zu sein.

Die „dunklen, satanischen Mühlen“(14) der Gegenwart und ihre Bedeutung für uns

Klassenkonflikte solcher Art treten mit der Veränderung von Rollen und Beziehungen auf dem Weltmarkt auf. Im Zuge der Umstrukturierung in den westlichen Volkswirtschaften – mit der man auch auf das hohe Niveau der Klassenkämpfe in den 1960ern und 70ern reagierte – sind viele Arbeitsplätze der verarbeitenden Industrie in die „Dritte Welt“ ausgelagert worden, um die Vorteile der dort niedrigeren Lohnkosten auszunutzen. Indem die herrschende Klasse mithilfe Arbeitslosigkeit, Auslagerung und Standortwechsel das traditionelle Industrieproletariat der westlichen Welt entmachtete und neu aufstellte, hat sie in den armen Ländern Asiens ein neues Industrieproletariat geschaffen. Die Arbeiterklasse Bangladeschs ist sowohl eine archaische als auch eine moderne Arbeiterklasse. Archaisch in dem Sinne, dass ihre Lebensbedingungen oftmals jenen gleichen, wie sie 1844 von Engels in dem Buch „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ beschrieben werden: die dreckstarrenden, völlig überfüllten Slums, Hunger und schlechte Ernährung, Brutalität und unmenschliche Strapazen in den Fabriken, der entschlossene Widerstand der Bosse gegen Gewerkschaften und Arbeitsrecht, der Staat, der mit dem Militär gegen Streiks und Demonstrationen vorgeht, etc. Modern ist die arbeitende Klasse Bangladeschs insofern, als dass sie einer exportorientierten, durch die Auslagerungsstrategie der westlichen Länder entstandene Volkswirtschaft als gerade erst proletarisierte Arbeitskraft dient, die Fertigerzeugnisse herstellt und nicht wie zu Kolonialzeiten Rohstoffe ausführt:

Diese Generation der Textilarbeiter und -arbeiterinnen ist viel gebildeter und hat ein stärker ausgeprägtes politisches Bewusstsein als die vorhergehende“, sagt Alam [ein Politologe]. „Sie ist in Slums, nicht in Dörfern aufgewachsen und weiß, dass sie geschlossen sein und auf die Straße gehen muss, um ihre Ziele zu verwirklichen.“(15)

 Kämpferisch waren die TextilarbeiterInnen schon von Anfang an, aber die heutige Generation tritt selbstbewusster auf. Im Vergleich zu ihren Eltern, die meist noch aus den Dörfern kamen, sind die in der Stadt aufgewachsenen ArbeiterInnen gebildeter. Sie haben ein schärferes Bewusstsein für die Widersprüchlichkeit, dass sie in einer bourgeoisen Demokratie angeblich Rechte haben sollen, die sich aber auf ihre wirkliche Lage kaum auswirken. Die Arbeiterklasse Bangladeschs ist eine aufstrebende Arbeiterklasse, die nach und nach aus eigener Kraft eine solidarische Kultur und eine eigene Lebensweise hervorgebracht hat und ihren Ausbeutern die Stirn bietet. In den Fabriken ist es völlig normal, im Konfliktfall die Arbeit kurz zu unterbrechen und vor benachbarten Fabriken Streikposten aufzustellen. Diese Konflikte können auch über die Fabriken hinausgehen, wenn die angrenzenden Wohngebiete, die Slums – also dort, wo die Mehrheit der ArbeiterInnen und ihre Angehörigen wohnen – in die Auseinandersetzungen hineingezogen werden.

Es fehlen Informationen darüber, wie die ArbeiterInnen in der Branche ihre Streiks organisieren und wie sie dafür mobilisieren. Das mag daran liegen, dass sie sich mit der geheimen Organisierung von Aktionen gegen Repressionen und die unter den Bossen kursierenden schwarze Listen schützen, aber vermutlich auch daran, weil die unter Hochdruck laufende Ausbeutung in den Fabriken zur Folge hat, dass sich der Unmut an Kleinigkeiten entzündet und ausbreitet. Folgende Schilderung einer Streikwelle in der chinesischen Sonderwirtschaftszone Dalian, die 2005 durch Fabriken in japanischem Besitz gegangen ist (und einem Wirtschaftsmagazin entnommen wurde, die die Sicht der in Asien tätigen Multis vertritt), lässt sich ziemlich gut auf die Verhältnisse in Bangladesch übertragen:

„Und trotzdem scheinen die Arbeiter führungslos zu sein, sie haben eine Organisation und Strategie ohne Führung entwickelt. Weil sie weitgehend dieselben Interessen haben und sich als Leidensgenossen verstehen, reagieren sie auch auf subtile Signale. Arbeiter schilderten, wie sie, wenn sie unzufrieden sind, nur mit ein paar wenigen Kollegen aufstehen und „Streik!“ schreien müssen, damit alle Arbeiter am Band aufstehen ( … ) und aufhören zu arbeiten.“

Haben diese Kämpfe ein revolutionäres Potential? Die eher „klassischen“, traditionellen Bedingungen, unter denen das neuentstandene Industrieproletariat der Exportwirtschaften Bangladeschs, Chinas, Vietnams oder Kambodschas zu leben hat (und das kaum über starke und etablierte „Vermittlungseinrichtungen“ wie Gewerkschaften oder Arbeitnehmerrechte verfügt) deuten darauf hin, dass sich die ArbeiterInnenklasse auch weiterhin entschlossen gegen die extreme Ausbeutung zur Wehr setzen wird. Müsste man bestimmen, wo die Bedingungen für die Entwicklung eines radikalen Potentials am günstigsten sind, kämen am ehesten diese Regionen in Frage. Aber solche Entwicklungen könnten nur im Rahmen der schon bestehenden Selbstorganisierung der ArbeiterInnen und einer stärker werdenden, organisierten Solidarität auf lokaler und internationaler Ebene stattfinden – und nicht mit linken Gruppierungen, die mit Herrschaftsabsichten das Kommando über die Kämpfe der Werktätigen übernehmen wollen.

Die Bestrebungen linker Gruppierungen und von Gewerkschaften, in einer Stellvertreterrolle mithilfe eines bürokratischen Apparats die Kontrolle über die Kämpfe auszuüben und zu entschärfen, ist ein Problem, mit dem sich ArbeiterInnen überall auseinandersetzen müssen. Und obwohl die staatlichen Maßnahmen gegen die Radikalisierung im Notfall auch deutlich repressive Züge annehmen, wird man in Asien in Zukunft mit Streiks gewisse Zugeständnisse erkämpfen können, die wir im Westen noch unter der Sozialdemokratie gekannt haben: Arbeitsschutzvorschriften in den Fabriken, Mindestlöhne, Anerkennung der Gewerkschaften, Sozialversicherungsleistungen etc. Aber auch wenn die „Soziallöhne“ in den westlichen Ländern immer stärker abnehmen, wird es wahrscheinlich noch sehr lange dauern, bis auch nur annähernd ein sozioökonomischer Ausgleich zwischen den Lohnabhängigen in den asiatischen Exportindustrien und und im Westen erreicht werden kann. Gegenwärtig ist der Gedanke einer „globalen Arbeiterklasse“ eher ein Wunsch als eine Tatsache. Die Verhältnisse in den asiatischen Ländern, die oft an die Zeit der Industrialisierung in Europa erinnern, bringen keine Kämpfe hervor, die ohne Weiteres auf die Verhältnisse im Westen übertragbar wären oder als Anregung dienen könnten.(16)

Einige asiatische Länder werden möglicherweise in ihrer weltwirtschaftlichen Rolle bald an ihre ökonomischen Grenzen stoßen; Bangladesch müsste, um sich ökonomisch weiterzuentwickeln, einen großen Binnenmarkt für Konsumgüter schaffen, was viel höhere Löhne erforderlich macht, aber seinen Wettbewerbsvorteil auf dem globalen Bekleidungsmarkt gefährden würde. (In Anbetracht seines riesigen potentiellen Binnenmarktes und seiner weltweiten Investitionsstrategie scheint China die besseren Voraussetzungen mitzubringen, diesen Widerspruch aufzulösen.(17) Die weiter bestehende Spaltung der herrschenden Klasse Bangladeschs, die auf die konkurrierenden Loyalitäten des Unabhängigkeitskrieges von 1971 zurückgeht, wirkt sich bis zum heutigen Tage so aus, dass sie zu zerstritten ist, um irgendeine langfristig angelegte Entwicklungsstrategie jenseits der Textil- und Bekleidungsindustrie umzusetzen.

Die Auslagerung von Teilen der verarbeitenden Industrie nach Asien hat unter anderem zur Folge, dass die ArbeiterInnenklasse in den westlichen Ländern immer noch auf der Suche nach geeigneten Kampfformen ist, um der globalen, ökonomischen Neustrukturierung die Stirn zu bieten. Nach über 25 Jahren, die in den westlichen Ländern überwiegend von Niederlagen geprägt waren, erinnern uns die Kämpfe in den asiatischen Ländern daran, dass der Klassenkampf auch heute in aller Offenheit im Herzen der Gesellschaft geführt, dass gegen die Beilegung der “soziale Frage” im Rahmen einer “Sozialpartnerschaft” immer noch mit einem militanten, selbstorganisierten Klassenkampf angegangen werden kann.


Anmerkungen

1) Naila Kabeer , Subordination and Struggle: Women in Bangladesh; In: New Left Review Nr. 168, 1988

2) Asia Times, 3. März 2009: „Die geopolitische Dimension der Fehden innerhalb der Armee Bangladeschs steht in einem direkten Zusammenhang mit der Rivalität zwischen Indien und Pakistan. Die „pro-islamischen“ Kreise und das Militär hatten von Anfang an Sympathien für Pakistan und lehnten eine Unabhängigkeit Bangladeschs ab. Die Führung der islamistischen Partei JI (Jamaat-i-Islami) tat sich bei den massenhaften, von der pakistanischen Armee befehligten Kriegsverbrechen kurz vor der Unabhängigkeit ganz besonders hervor. Sheikh Hasina Wajed setzte nach ihrer Rückkehr an die Macht im Januar 2009 eine mutige Initiative zur strafrechtlichen Verfolgung jener Kriegsverbrechen durch, bei deren Umsetzung die Führungsfiguren der JI eine maßgebliche Rolle gespielt hatten.“

4) Anm. d. Ü.: Direkte Übersetzung des englischen enclosures. Mit enclosures ist die Umwandlung von Gemeindeland, also der Allmende, in Privatbesitz gemeint und die gewaltsame Vertreibung kleiner Pächter, um z.B. Schafzucht zu betreiben. Die Einhegung war Teil des bis zur Industrialisierung andauernden Auflösungsprozesses feudalistischer Eigentumsverhältnisse auf dem Lande.

5) Der Boss einer Bekleidungsfabrik erklärt: „Warum Frauen? Weil Männer rauchen, trinken, viel reden und dabei alle stören ( … ). Sie sind ziemlich laut, verlangen Urlaub und haben Freunde, die zuschlagen können ( … ) Wir wollen, dass an den Maschinen so wenig wie möglich geredet wird ( … ). Frauen sind bereit, so zu arbeiten. Männer in Gruppen fangen sofort an, für höhere Löhne zu agitieren ( … ). Frauen hören besser und diskutieren nicht rum. Männer hingegen erledigen nicht einfach die Arbeit, die man ihnen aufträgt, und tun sich schwerer damit, Autoritäten zu akzeptieren. Frauen sind billiger, weil sie weniger Auswahl haben, was den Standort des Arbeitsplatzes und die Arbeiten betrifft, die sie körperlich verrichten können.“ (Aus: Naila Kabeer - The Power to Choose - Bangladeshi Women and Labour Market Decisions in London and Dhaka; Verso, London, 2000)

6) Ebd.

9) thefinancialexpress-bd.com – 10. August 2010

11) Daily Star, 1. August 2010

14) ‘’… Among these dark satanic mills?’’ Zeile aus dem Gedicht And did those feet in ancient times von William Blake, die allgemein als Kritik an den zur Zeit der Industrialisierung herrschenden Verhältnissen verstanden wird (Anm. d. Ü.).

15) The Guardian, 30. Juni 2010

16) An dieser Stelle muss berücksichtigt werden, dass Arbeitsmigranten nach Bekleidung und Textilien Bangladeschs wichtigstes Exportgut (hauptsächlich in andere asiatischen Länder und in die Golfstaaten) und Devisenbringer sind. Mit der Migration werden sich die Erfahrungen der bangladeschischen ArbeiterInnen, die sie in ihren Arbeitskämpfen gemacht haben, und auch ihre Kampfmittel und –formen wohl entsprechend verbreiten. Siehe z.B. http://libcom.org/news/bangladesh-migrants-export-class-struggle-07082008

17) Derzeit gehen einige Beobachter davon aus, dass die in China aufgrund der Streiks gestiegenen Lohnkosten den kleineren, textilien- und bekleidungsproduzierenden Ländern Asiens die Chance bieten, ihren Marktanteil zu vergrößern (die selben Beobachter beschweren sich bei Gelegenheit auch darüber, dass ausländische Abnehmer wegen der ständigen ArbeiterInnenunruhen ihre Zweifel an der Zuverlässigkeit der Produktion in Bangladesch haben). Und die rasche Expansion des chinesischen Wirtschaftsimperiums könnte eventuell auch dazu führen, dass China vom Textilexport abrückt oder zumindest Teile der Produktion dahin auslagert, wo Arbeit noch billiger ist: „Warum sollte die chinesische Regierung einige der arbeits- und energieintensiven Industrien dazu drängen, ihre Standorte in die Wirtschaftssonderzonen Afrikas zu verlagern, wenn der US-Kongress der US-Behörde für internationale Entwicklung die Finanzierung sämtlicher Aktivitäten verbietet, die mit Arbeitsplatzverlagerungen ins Ausland einhergehen? Weil chinesische Planer wollen, dass die einheimischen Industrien zu Hause in die höheren Bereiche der Wertschöpfungskette gelangen. Umweltverschmutzende Branchen wie die Gerberei oder Stahlverhüttung werden in vielen Städten Chinas nicht mehr geduldet. Und da sich die Weltwirtschaft von der letzten Rezession erholt, werden im Küstenstreifen Chinas Löhne und Zusatzleistungen voraussichtlich wieder auf Vorkrisennivau steigen. Einige Werke werden weiter ins Inland verlagert, andere hingegen nach Übersee, sowohl näher an die Rohstoffquellen als auch an die Märkte. Die frühen Entwicklungsstadien der Industrialisierung mögen zwar Umweltverschmutzung, niedrige Löhne und lange Arbeitstage mit sich bringen, vor allem dann, wenn die chinesischen Betriebe in den Sonderwirtschaftszonen erfolgreich sind. Aber wie die mit Ressourcen gesicherten Darlehen Chinas versprechen auch die geplanten Sonderwirtschaftszonen den afrikanischen Ländern, ihnen das zu beschaffen, was sie so sehr brauchen: Beschäftigungsmöglichkeiten, neue Technologien und eine dringend benötigte Infrastruktur. Die Sonderwirtschaftszonen sind die Chance für afrikanische Staaten, unter den Fittichen Chinas seinen Weg in die Weltwirtschaft zu machen, anstatt nur Rohstofflieferant der Welt zu sein.“ D. Brautigam - Jan 2010; http://www.foreignaffairs.com/articles/65916/deborah-brautigam/africa%E2%80%99s-eastern-promise

Editorische Hinweise

Die Erstveröffentlichung erfolgte bei "Insurgent Notes - Journal of Communist Theory and Practice". Nr. 2, October 2010.  Die Übersetzung ins Deutsche machte die TREND-Redaktion (A. Eismann) auf der Grundlage der Spiegelung bei:  http://libcom.org.