We were Displaced Persons


von
 Antonin Dick

01/2016

trend
onlinezeitung

Vorbemerkung: In der Ausgabe 11/2015 begannen wir unter dem Titel "Im Wartesaal" ausgewähltes Tatsachenmaterial zum Thema Refugees in Nachkriegsdeutschland  zu veröffentlichen, wo die praktischen und juristischen Weichen gestellt wurden, wie sie heute noch wirken und das reaktionäre Massenbewußtsein formen. Teil 1 beinhaltete eine Auflistung der rund 230 Lager für jüdische »Displaced Persons« (DPs), wie sie zwischen 1945 und 1957 betrieben wurden. Dazu erhielten wir jetzt von Antonin Dick die nachfolgende kritische Stellungnahme, die wir empfehlen, unbedingt in Ergänzung zum diesem Quellentext zu lesen.

+++++++++++++++++++

Im Oktober 1945 setzte die Fähre, auf der wir mit unserem Gepäck saßen, von Dover auf Festlandeuropa über. Für meine Mutter und für mich war es keine Rückkehr, nur für meinen Vater, der in Prag bei seiner älteren Schwester, die für ihn in seiner Kindheit auch die Mutterrolle übernehmen musste, unterkommen wollte. Meine Mutter und ich wollten eigentlich in England bleiben.

In Prag, der einstigen weltoffenen Emigrantenstadt, blies uns der eisige Wind der antideutschen Ressentiments entgegen. Ich als Kind traute mich nicht mehr allein auf die Straße. Im Winter, auf einer Eisbahn, wurde ich von tschechischen Kindern umstellt. Nur eine englische Spielzeugpistole aus verchromtem Eisen, die mir mein Vater zum Geburtstag in England geschenkt hatte, rettete mich. Ich kaufte mich mit ihr sozusagen frei, indem ich sie den Angreifern überließ und somit ohne Strafaktion gegen einen Kriegsgefangenen rasch das Weite suchen konnte.

Wir zogen nach Podmokly Děčín um, eine Grenzstadt an der tschechoslowakisch-deutschen Grenze an der Elbe, in der nach wie vor noch viele Sudetendeutschen wohnten. Nach wenigen Monaten erschienen in unserer Wohnung zwei Polizisten und verhörten uns. Trotz Hinweis, dass meine Eltern gegen die Nazis in und außerhalb von Nazideutschland im organisierten Widerstand gestanden hatten, mein Vater sogar im bewaffneten Widerstand, wurden wir mit dem Befehl zur sofortigen Ausweisung konfrontiert. Aber mit einer aus verdeckten Motiven: Als Juden und Kommunisten wurden wir unter die vielen Sudetendeutschen gemischt, die nun, im Sommer 1946, die Tschechoslowakische Republik (ČSR) zu verlassen hatten. Auf einem ehemaligen Salzlastkahn fuhren wir die Elbe abwärts, den nationalistischen und judenfeindlichen Anfeindungen der naziverhetzten Sudetendeutschen, mit denen wir wochenlang zusammengepfercht im Bauch des ausgedienten Lastkahns campieren mussten, wehrlos ausgeliefert. Unser Ziel war das Camp for Displaced Persons in Schönebeck an der Elbe, einem ehemaligen Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald, in dem u. a. Teile für die berühmt-berüchtigte JU 52 gebaut wurden. Ich erinnere mich noch sehr genau an die vielen ausgemergelten Frauen und Männer in Häftlingskleidung. Ich erinnere mich an das Massensterben, weil Typhus das Lager heimsuchte. Ich erinnere mich an die mit Lysol geschwängerte Luft in unserem Zelt, durch das es ständig hindurchregnete und daran, wie wir auf nackter Erde hausen mussten, nur auf löchrigen Pferdedecken. Ich erinnere mich an die zerkratzten Aluminiumteller, aus denen wir graue Graupensuppe löffelten.

Und jetzt werde ich, Sohn von antifaschistischen Emigranten, mit einem Auszug aus der historiographischen Monographie „Lebensmut im Wartesaal“ der beiden Forscherinnen Angelika Königseder und Juliane Wetzel konfrontiert, bei der mich schon der Titel stört, weil unhistorischer Weise der Wartesaal-Trilogie des Romanciers Lion Feuchtwanger entnommen.

Die Begrifflichkeiten fliegen kunterbunt durcheinander. Da wird von „britischer Militäradministration“ gesprochen, obwohl es exakt British Military Government (BMG), also Britische Militärregierung, hieß. Die Rote Armee arbeitete auf der Grundlage der Befehle der Sowjetischen Militäradministration (SMAD), hier stimmt der Begriff der Administration. Da sprechen die Autorinnen von der amerikanischen Militärregierung, obwohl es die nicht gab. Es gab die Headquarters, und man sprach im Nachkriegsalltag von der Amerikanischen Militärverwaltung, wie zum Beispiel die zurückgekehrte jüdische Emigrantin und Schriftstellerin Anna Maria Jokl, die dies in ihrem Erinnerungsbuch „Die Reise nach London“ bezeugt. Und natürlich heißt es 1944 und noch eine ganze Weile später nicht sowjetische, sondern Rote Armee.

Und woher stammt die Zahl von 230.000 jüdischen Emigranten, die aus Nazideutschland ausgewandert, ausgebürgert und geflohen seien? Es existiert die überprüfte Zahl von insgesamt 500.000 Emigranten, jüdischen wie nichtjüdischen, von denen etwa 5 % nach der Befreiung ins befreite und zerstörte Deutschland zurückgekehrt waren. Aller Wahrscheinlichkeit nach waren es wesentlich mehr als 230.000 jüdische Emigranten, denn die Juden bildeten bekanntermaßen den Kern der Emigration zwischen 1933 und 1945.

Und da steht reichlich undifferenziert die Aussage: „Die Befreier, auf den Zustand der Überlebenden nur unzureichend vorbereitete Soldaten der alliierten Armeen, mussten sich im Chaos Nachkriegsdeutschlands zunächst um die Organisation des täglichen Lebens bemühen, dringend benötigte Unterbringungsmöglichkeiten nicht nur für die jüdischen, sondern für Millionen nichtjüdischer DPs schaffen und ihre möglichst schnelle Repatriierung planen.“ Repatriierung? Mein Vater beispielsweise, vor der Emigration Staatsangehöriger der ČSR, war jetzt staatenlos. Hätten die beiden Autorinnen ihm damals mitgeteilt, er müsse nun repatriiert werden, er hätte sie ausgelacht. Es gab für ihn kein Vaterland mehr, nie wieder. Göran Rosenberg, wie ich Angehöriger der Zweiten Generation, schreibt in seinem Buch „Ein kurzer Aufenthalt auf dem Weg von Auschwitz“ zu dieser Art von Einteilungsemsigkeit: „In den Monaten nach Kriegsende wird bis zu dreißigtausend Überlebenden aus den deutschen Konzentrationslagern erlaubt, sich in Schweden zu erholen. Einige erholen sich nie. Einige setzen ihre Reise anderswohin bald fort. Einige reisen schnell dorthin zurück, woher sie kamen, und machen damit ein weiteres Wort nötig, das amtlicherseits zur Bezeichnung derjenigen verwendet wird, die gekommen sind, um sich zu erholen. Repatrianten, was bedeutet, Menschen, von denen man annimmt, sie haben ein Zuhause oder zumindest ein Heimatland, in das sie zurückkehren können. Unter den dreißigtausend Transitmigranten oder Repatrianten befinden sich jedoch zehntausend Juden, was, wie sich bald herausstellen wird, bedeutet, dass sie nirgendwohin zurückkehren und auch nicht irgendwohin reisen können.“ Das war in den Camps for Displaced Persons kaum anders.

Und ich? Ich war nach den Kategorien der Listen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin angeblich Remigrant. Aber weder war ich ein zurückgekehrter Emigrant, noch wollte ich nach Deutschland. Ich wollte in England, wo ich das Licht der Welt erblickte, bleiben. Dass ich damals nicht gefragt werden musste, ist kein Argument gegen meine Entscheidung. Es gab damals noch keine Rechte für Emigrantenkinder wie heute. Also was war ich, meine Damen? Remigrationsbegleiter meiner Eltern? Nachkriegschronist wider Willen? Zwangsdeutscher?

Und was die „vollständige Umstrukturierung der Gesellschaft“ anbetrifft, die die beiden Autorrinnen der SMAD vorwerfen, so empfehle ich ihnen dringend die Lektüre von „Deutscher Herbst“, eines Augenzeugenberichtes des schwedischen Journalisten und Schriftstellers Stig Dagerman aus dem Jahre 1946, um sich nicht dem Verdacht aussetzen zu müssen, man mache da nur nachträglich irgendwelche ideologischen Rechnungen auf, denn um Macht ging es in allen vier Besatzungszonen, nicht nur in der sowjetischen, was der Autor souverän beschreibt. Ein packendes und in die Tiefe gehendes Dokument der Nachkriegsära, das man sich als Forscher des Nachkriegs nicht entgehen lassen darf. Es schließt mit den vielsagenden Worten: „Das zerfetzte Bremen liegt versteckt unter dicken deutschen Wolken und ist ebenso undurchdringlich verborgen wie das deutsche Leiden. Wir fliegen hinaus aufs Meer und nehmen auf diesem rotierenden Marmorboden aus Wolken und Mond Abschied von dem herbstlichen, bis auf den Grund gefrorenen Deutschland.“

Und überhaupt: Mir fehlt schon bei diesem Auszug aus dem vorliegenden historiographischen Werk das handlungsaktive Moment der Displaced Persons, denn diese wurden von Bedürfnissen, Hoffnungen und handfesten materiellen Interessen ebenso geleitet wie die Besatzer und die einheimische Bevölkerung, von der übrigens leider nicht die Rede ist.

Meine Eltern zogen damals auf eigenen Wunsch nach Berlin, und sie entschieden sich sofort dafür, politische Aktivisten der ersten Stunde zu werden und am Aufbau eines friedliebenden und demokratischen Deutschland aktiv und an führender Stelle teilzunehmen. Der vorliegende Auszug atmet den Geist der Zwanghaftigkeit, auch übrigens im Gehorsam gegenüber Kategorisierungen, wenn es beispielsweise heißt: „Durch die nationalsozialistische Politik (…) war die jüdische Kultur in Deutschland zerstört worden.“ Wie bitte? Doch vor allem die deutsche Kultur und Wissenschaft waren durch die Extermination deutscher Staatbürger jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft zerstört worden. Die verfolgten Juden bildeten doch über weite Strecken die Blüte der Nation!

Als Sohn von deutsch-jüdischen Emigranten und Widerstandskämpfern, der den europäischen und deutschen Nachkrieg bewusst erlebt hat, mahne ich Tiefe an, wenn man schon tief zurückgehen muss in die blutige Geschichte von Krieg und Nachkrieg, in das „gefrorene Deutschland“, das teilweise heute noch seelisch und geistig friert.

Editorischer Hinweis

Antonin Dick engagiert sich besonders für die Rechte der Zweiten Generation der Verfolgten des Naziregimes. Siehe dazu: