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Der Kosovo brennt
Über das Vergessen

von DIETMAR KESTEN

GELSENKIRCHEN
18. 01. 1999

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Die menschliche Empörung zerreibt sich schnell, nach Tagen, nach Wochen, nach Monaten, nach Jahren. Wir fühlen, wie unsere Träume zerplatzen; wir werden geglättert wie ein Spiegel; in einzelnen, in der Gemeinschaft. Die Erinnerung hält unsere Schande wach; in den Alltagsträumen, der banalen oder verliebten Träumerei. Erinnerungen im Videoclip, Leinwanddebütes, politischer Missetaten, kriege- rischer Auseinandersetzungen und sozialen Elends. Im Boulevard der Erinnerung hat alles seinen Platz, der Henker, seine Opfer, der Kriegsbesinger und der Kriegskrüppel, der Opportunist und der Widerstandskämpfer, der Nachrufer und der Geburtstagsfeierer, der politische Dramaturg und der sozial Benachteiligte; alle Lebenden und Toten koexistieren friedlich mit- und beieinander und lassen sich feiern und beweinen. 

In Europa soll zuammenwachsen, was zusammengehört. Der alte umgewandelte sozialdemokratische Spruch von WILLY BRANDT spiegelt sich in diesen Tagen in Trauerreden, Enthüllungen, Denkmälern und Gedenksteinen, Ordensverleihungen wider, die das Erinnern wach halten soll: Die Manifestationen der kollektiven Buße, wenn es darum geht, Farbe zu bekennen und an die "Barmherzigkeit" der großen Politik zu glauben. Doch das ist das Reaktionäre daran; weil unsere Psyche aus Labyrinthen besteht, aus Katakomben, in denen Verhüllen, Verdrehen, Vergessen, Verdrängen und Verleugnen, Verzerren und Verkehren eine bisher noch nicht gekannte Dimension erreicht hat: Es ist die unaussprechliche Schande, ungeschehen zu machen, was geschehen ist; denn nichts ist im menschlichen Geist natürlicher als die Ohnmacht, die Angriffe zu Notwehraktionen werden läßt und Missetaten zu Wohltaten. 

Und die Welt schaut wieder einmal einmal zu, wenn Menschen im KOSOVO massakriert und von gedungenen Mördern hingerichtet werden. Wir sind Auguren des Vergessens und voll von falschen und auf den Kopf gestellte Erinnerungen, dem Vergessen von Verbrechen, dem Verleugnen von Niederlagen. Nicht nur weil unsere Erinnerung versagt, sondern weil Aggressionen unser Erbteil sind, und wir nach Kämpfen in unserer unmittelbaren Umgebung, die unser Haßpotential entleeren, langsam wieder zur alten Blüte heranwachsen, bis wir wieder Kriege, Unbeherrschtheiten und Egomanie brauchen. Weil der Mensch, den Haß, den er kriminell nicht ausleben darf, in einem kol- lektiven Entleerungsprozeß namens Aggression verschütten muß und weil auf sie die lapidare Versöhnung folgt wie der Durchhänger beim Alkoholrausch. 

Das Vergessen ist nicht der zerstreute Bruder des Verbrechens, der eine läß- liche Sünde begeht. Das Vergessen gehört zu den Verbrechern und dem Verbrechen wie das Abwaschen des Blutes von der Mordwaffe. Unser Vergessen bereitet das nächste Verbrechen vor. Vergessen und Verbrechen gehören auf"s innigste zusammen. Das Vergessen ist der Ablußkanal des Verbrechens. Würden in den Hirnen der Menschen die vergangenen Verbrechen nicht abfließen können, könnten sie keine neuen begehen. War zu Anfang das Vergessen? Bei den Griechen raubte PROMOTHEUS den Menschen das Wissen um den   Zeitpunkt ihres Todes, damit sie von nun an ohne Angst leben können: Vergessen der Zukunft, der Vergangenheit und der Gegenwart: Menschsein ist Vergessen und AUS-DER-GESCHICHTE-LERNEN Illusion. Aus der Geschichte lernen sollten die, die sich nicht erinnern, die Menschen! 

Und da ihr Fehler das Vergessen ist, ist jede Politik dazu verdammt, sie be- ständig zu wiederholen, bis in alle Ewigkeit- dem von den Göttern bestraften PROMETHEUS gleich, dem jeden Tag auf"s neue und unter unbeschreiblichen Schmerzen die Eingeweide weggefressen werden, und immer wieder lassen die neuen Qualen die alten vergessen. Aber wer lebt mit all diesen Erinnerungen, wer kann damit leben? Wir würden, wenn wir nicht Vergessen, unter dem Wust der Erinnerungen er- sticken, wenn wir uns an das Schlimme, was wir anderen angetan haben, erinnern müßten. Dies vor allem ist der blinde Fleck in der europäischen Geschichte, der weiße Fleck in uns allen; was wir anderen angetan haben, hat kein Gewicht. Eifersucht und sexuelles Begehren ist so ein Gefühl, das einem bei sich selbst immer plausibel vorkommt, bei andern dagegen immer übertrieben und verwerflich. 

Wir Menschen sind uns selber blind; wir halten uns für besser, für schlechter, als wir sind; wir schauen ohnmächtig auf die Todesschwadrone und hoffen, daß sie nicht eines Tages ihr "Tagewerk" in unserem Einzugsgebiet fortsetzen: Sind wir nicht Komplizen des Verbrechens; die bevor sie sich im Spiegel betrachten, ein edles Gesicht aufsetzen, das sie anschließend beurteilen? Machmal unerwartet oder betrunken, sehen wir uns plötzlich, als wären wir uns selbst fremd, so alt, wie wir sind, verlottert und verlogen, mit erloschenen Augen, eines Toten gleich, und wir erschrecken; wir sind uns zu leidenschaftlich nahe Gesellen. So sind wir Menschen, eben hoffnungslos monadologisch konstruiert, so klein von außen, so riesig von innen. Wir sehen nur die anderen Intrigen spinnen, wir sind die Opfer im Netz. Die Bosheit der Politik erschlägt uns, das Versagen der Friedensinitiativen; der NATO, wir sind gut, weil wir alles zu versuchen scheinen, und in diesem Versuch an unsere Grenzen stoßen; wahrhaftig und leichtgläubig. 

Wir müssen uns aufblasen und großtun, so groß wie das Bild, das wir von ande- ren haben, es ihnen oktroyieren. Das ist eine anstrengende Arbeit, lebensgefähr- lich und lebenslänglich. In dem Vergessen des Terrors in der Geschichte machen wir gerne alles unge- schehen, verdrehen wir ins Gegenteil, verschönern, mumifizieren wir. Und im nächsten Jahrhundert weiß keiner mehr, was der Fall war. Wir sind Hand- langer des Vergessens, abwesend wie ein Toter. Übertragen wir diese philosophischen Weisheiten auf die derzeitigen politischen Zustände, schlagen uns die erschreckendsten Beispiele der Vergeßlichkeit über dem Kopf zusammen: Über HIROSHIMA bis UGANDA, der GENOZID und AUS- SCHWITZ; VIETNAM und AFGHANISTAN, RUANDA und BOSNIEN, der IRAK, ALGERIEN, der BALKAN und jetzt der KOSOVO: Wir sehen die alten und die neuen Toten, die alten Konzentrationslager, die neuen, hören uns ideologische Diskussionen an, reflektieren über die Unterschiede der Massaker; sitzen vor dem Fernseher und schlagen das Gerät nicht in Stücke, feiern weiter unsere Feste, löffeln weiter und gehen unserer Alltagsverrichtung nach. 

Wir sind so übersättigt. Das schlechte Gewissen, das uns an alle Menschen bin- den sollte; das unausräumbare Gefühl, das wir versagen, durchzieht uns wie ein roter Faden, an alledem auf rätselhafte Weise schuld zu sein und gleichwohl kräftig durchzuatmen, weil es uns ja nicht trifft, den Bekannten, den Freund, die Frau oder die Freundin. Es ist die Rückwendung des Blicks die Sanduhr hinab, so wie wir im PC auf die mitlaufende Eieruhr sehen, wenn sie uns den Zugang zu den Anwenderprogram- men frei gibt; es ist die Schlüsselstellung, die Drehung des Denkens, die dazu führt, das wir uns eine Zukunft ausmalen, die uns den Rücken zeigen wird, weil wir das verherrlichen, was war, verteufeln, was kommen wird, weil die Zukunft ab- und die Vergangenheit zunimmt. Wir sind wie eben diese Sanduhren; erst waren die Füße leicht und der Kopf war voller Ideen, dann werden die Beine schwer und der Kopf wird langsam leer. 

Die Gegenwart gleicht einem Durchfall, die durch uns hindurchrast, sie verstopft uns, die gefälschte Vergangenheit, bis zu unserem Halse, dem Ersticken gleich; unsere abgelegten und abgelebten Hoffnungen vereinigen sich zu einem reißenden Strudel, von dem sich das panisch aufgerissene Auge kaum mehr abwenden kann. Das ist das Perverse in uns, an uns: Während die Massaker kommentiert wer- den, sind im Hintergrund die TOTEN HOSEN zu hören: "Es kommt die Zeit, in der das Wünschen wieder hilft!" Will der geblendete Mensch noch einmal die Zu- kunft vergessen, auf den MALLORCA-Partys verbittert den misanthropischen, den reaktionären Geist beseite schieben, ihn nach alten Ritualen beschwören, um"s Feuer tanzen, den Tod zurückdrücken und sich ein Weitermachen vorstellen, wollen wir Fußspuren hinterlassen, in einer Zeit, die keine Fußspuren bewahrt? 

Es scheint so, als ob wir keine Sicht mehr für das haben, was vor unserer Haustür passiert; SERBEN, KROATEN und die MOSLEMS; die alten Konflikte, ein blutiger Kampf, geschürt von den westlichen Mächten, die genasführt von TUDJMAN oder MILOSEVIC, die TITOS der Unbesiegbarkeit, zu Terror greifen, um ihre politischen Ziele durchzusetzen; die NATO schweigt, die Welt schweigt, SCHRÖDER und FISCHER, scheinbar empört, setzen auf Verhandlungen, zeigen aber letztlich nur ihre eigene Ohnmacht: Die Namensschilder der Toten sind bereits abgelaufen, nichts kann sie wieder

lebendig machen. Im Zeitalter der Menschen- rechte wird mittelbar gestorben. Der Bestand an überschüssigen Menschen in peripheren Zonen zeigt, wie leicht es ist, ihren Tod zu beschleunigen; man braucht sich nur opportun zu verhalten; für die Profitgesellschaft ist deren Wertlosigkeit schon längst besiegelt. Die pro- fitabelste Lösung ist der Tod eben jener Menschen, die für den Profit nutzlos ge- worden sind: Waffenexport und durch Diplomatie (siehe IRAK) angeheizte Krie- ge helfen mit, sie als vergammelte Waren wie in einem Fruchtmarkt feil zu bie- ten, die nur als Material identifiziert werden, das ein für alle mal nicht mehr benötigt wird. 

Wer kann ungeschehen machen, was geschehen ist? Verleugnen wir einfach, verdrehen wir die Geschichte, was wir schon immer konnten, so wie es uns ins Bild paßt! An den Schwämmen der europäischen Geschichte klebt Blut, wenn wir auf den Balkan schauen; Schwamm drüber, sagt die Geschichte, Schwamm drüber sagen die Klerikalen; Schwamm drüber der Profit! Ein dreifaches und unwiderstehliches Plädoyer für den Schwamm des Verges- sens; untröstlich, ohne Glaube an die Zukunft, ohne Versprechungen und ohne Illusionen; das ist unser einziger Daseinsgrund. Nicht nur das Vergessen und die Gewissenlosigkeit sind natürlich, sondern auch die dazugehörige Erbitterung. Und da die Erbitterrung immerfort da ist, sich nicht abschütteln läßt, keine sozi- ale Macht hat, sondern (soweit sie nicht in Verbrechen, Alkohol, Rauschgift, Resignation, Suizid erstickt) im daseienden Zynismus, der "unbestechlichen" Politik immerfort wirkt, tritt niemand der alles zermalmenden Zeit des Krieges entgegen. Der Mensch gleicht einem Würgeengel, der gegen das Vergessen ankämpft. 

Wer nur das Maß der Mitte anerkennt, ist der Beste in der Kunst des Überlebens. Die Mitte zwischen Oligarchie und Demokratie, zwischen den Reichen und den Armen. Vergessen als Bewußtseinsdiplomatie der Weltmarktdemokratie: Vergessen im alltäglichen Leben- es ist das Einfügen in den fatalen Gang der Geschichte. Die Mörder von RUANDA und BOSNIEN entgingen ihrer Strafe, die die MOSTAR in Schutt und Asche legten, wurden mit Orden überhäuft; jetzt sind albanische MOSLEM-Zivilisten die Leidtragenden. Was geschieht mit diesen Waffennarren? Die "Sieger" benötigen keine Moral, haben sie noch nie benötigt; LADY MACBETH wandelte einst allnächtlich durch die Jahrhunderte und versuchte vergeblich ihr Blut abzuwaschen. SHAKESPEARE machte das rückgängig und jagte die Mör- derin mit Furien bis an das Ende der Geschichte. Die Erinnerung des Dichters läßt sich nicht einschläfern, sie bleibt hellwach wie im ersten Augenblick und für die Lady, die Nacht für Nacht an den Ort der unge- sühnten Verbrechen zurückkehrt. 

Wenn die Opfer nicht tot sind, werden sie mundtot gemacht. Wenn ihr Blut längst vertrocknet ist, die Mütter die Kinder beweint, die Väter die Frauen, die Großeltern die Enkel, wird das Leid allmächtig. Haben sie gelitten, leben sie noch? Der KOSOVO gleicht Hieroglyphen, der seine Augen aufschlägt und in der Zeit zurückschaut, wenn er den Balkan ansieht. Die politischen Führer waren/sind Puppen und Marionetten, die an Worten von Theaterstücken hängen, werden lebendig und beginnen sich zu regen, wenn die Einflußssphähren zu sichern sind; sie sind Gespenster, die um Miternacht ihre Glieder zu schütteln beginnen, zu bewegen, um uns ihre Untaten von neuem vorzuspielen. Inmitten des warenproduzierenden Systems findet immer eine Geisterstunde statt. Stunde jener Toten, die nicht zur Ruhe kommen, weil das Unrecht nie ei- gelöst wurde, das man an ihnen beging. 

Unser Vergessensmaterial ist unerschöpflich, es ist abgründig ambivalent über- all auf der Welt zu beobachten. Weg mit allem Vergangenen, ist das der Urschrei gegen das Vergessen, ist der Tod vergessen, die Gedanken über ihn? Menschliches Leben ist schnellebig. Zwei Jahre können so lang wie eine Ewigkeit sein; und doch ist es innerhalb von Sekunden ausgelöscht. Das ist die Dämmerung des Vergessens, die uns Tag für Tag gefangennimmt, als seien wir der ewigen Schwerkraft ausgeliefert, die uns von den Todeszonen hinwegzuziehen scheint; doch wir kommen immer wieder an den Ausgangspunkt zurück; gespaltener Schädel, rauchendes Schwert! Der Vergessene bleibt Vergessen! Wir treten es zusammen wie die erloschene Glut; wir vergessen die Gegenwart, den natürlichen Stoffwechsel, der die Erinne- rung wach halten sollte. Aus dem Gedächtnis, aus der Erinnerung. Wir durchschneiden den Prozeß des Vergessens und halten es für unmöglich, uns an die realen Gegebenheiten zu erinnern. Das Vergessen bleibt auf der Strecke, gespeichert sind nur die lieblosen Erinnerungslücken, der Wahn, die Qual, das paranoide Denken, die lieblosen und gestellten Gesten. 

"Wenn die Menschen sich um das Vergessen nur halb soviel bemühten, wie um das Erinnern, dann wäre die Welt schon längst ein friedliches Paradies." (JEAN ANOUILH)

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