EDITORIAL
Die 68er als Bettvorleger

von Karl Mueller

02/08

trend
onlinezeitung

Die ProtagonistInnen der Jugend- und Studentenbewegung der 60er und 70er Jahre waren 1988 für das bürgerliche Verlautbarungsorgan DER SPIEGEL  noch "Die wilden 68". Heute dagegen erscheinen die Tiger von damals eher als Bettvorleger, um einmal dieses allseits strapazierte Bild zu benutzen - gewissermaßen als ideologische Bettvorleger zu Füßen der Bourgeoisie und ihres politischen Personals.
 
Jedenfalls fällt mit nichts anderes mehr dazu ein, wenn ich z. B. Christian Semlers milde Erinnerungen an "68" in der TAZ vom 29.12.2007 lese. Aber wahrscheinlich muss das so sein, wenn mensch gezwungen ist, nach einer gescheiterten Karriere als Berufsrevolutionär, seine Arbeitskraft an jene verkaufen zu müssen, die den Gebrauchswert der fabrizierten Texte nur dann bezahlen, wenn er in ihren bürgerlichen Interpretationsrahmen passt.

So stellt Christian Semler, gut ein Jahrzehnt lang Chefideologe der maoistischen KPD und zuvor einer der radikalsten Köpfe der Jugend- und Studentenbewegung, ganz im Sinne der FDGO fest, "dass überkommene Institutionen nicht einfach Instrumente der herrschenden Klasse, sondern, wie die Idee des Rechtsstaats, das Produkt eines langwierigen Zivilisationsprozesses sind."

Amen. Besser hätte es die Bundeszentrale für Politische Bildung auch nicht sagen können, deren Referent Christian Semler nun  geworden ist.

Während Semler immerhin noch sozusagen sozialstaatsverträglich die revolutionären Ziele der 68er in einen angeblich selbst organisierten Sozialismus umrubelt, schreiten andere - wie Götz Aly - gleich richtig zur Abrechnung, um - im Bild bleibend - der Bourgeoisie die Füße zu küssen: "Ich fragte mich, welche Texte könnte ich heute beispielsweise meinen Kindern in die Hand drücken und sagen: Lies das mal, das lohnt sich, das ist grundlegend. Es ist ernüchternd: Ich fand nichts. Alle diese Texte wirken völlig tot und uninteressant. Da finden Sie nicht einen einzigen vernünftigen Artikel, den Sie heute noch mit Gewinn lesen könnten."

1988

heute

Und gestützt sowohl auf Abrechnungen von Renegaten wie auch auf deren mildtätige Geschichtsklitterungen gelangt die bürgerlichen Medienwelt - gleichsam einem Pawlowschen Reflex folgend - zu ihrem Lieblingsfeind, der Roten Armee Fraktion. Stellvertretend sei hier auf die IIlustrierte STERN verwiesen, wo der Spezialist für Klitterungen in Sachen "68" Kraushaar wiederholt verbreiten darf: "Die RAF ist ohne die 68er-Bewegung nicht denkbar." Deren geistiger Brandstifter nach Kraushaar kein geringerer als Rudi Dutschke war: "Er hat 1966 als erster in der Bundesrepublik von einer Stadtguerilla gesprochen."

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Ursprünglich glaubten wir unsere Dokumentationsarbeit zum Thema "68" mit der Veröffentlichung der Flugblätter des Zentralrats der umherschweifenden Haschrebellen im vorigen Jahr abschließen zu können. Doch die gegenwärtige Flut der Berichterstattung im bürgerlichen Medien- und Wissenschaftsbetrieb, inklusive weichgespülter Zeitgeister, zum Zwecke einer geschichtsfälschenden staatsbürgerlichen Erziehung veranlasste uns, mit den bescheidenen Mitteln einer kleiner linken Internetzeitung noch einmal dagegen zu halten. Karl-Heinz Schubert übernahm die redaktionelle Bearbeitung dieses Themas unter dem Titel Remember 1968. Für ihn geht es vor allem darum, Dokumente des Jahres 1968 nachzureichen, die im bürgerlichen Mainstream marginalisiert oder völlig unterschlagen werden.

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Der Blick zurück als einer, der nach vorn orientieren soll, ist zweifellos eine unabdingbare Voraussetzung, um sich in den heutigen Klassenauseinandersetzungen in Ansätzen erfolgreich bewegen zu können, indem nämlich eine damit verbundene theoretische Qualität der Analyse und Prognose sichergestellt wird. Nur darf mensch nicht dabei stehen bleiben. Daher versteht sich TREND auch nicht als historische Zeitschrift, sondern als politisches Magazin.  Und so sind wir auch besonders interessiert daran, linke Texte zu verbreiten, die aus ihrer politisch-ideologischen Ecke kommend, jeweils die aktuellen Kämpfe einschätzen und daraus Schlussfolgerungen für zukünftige Interventionen ziehen. In diesem Sinne haben wir diesmal einen Text der Zeitschrift WILDCAT und einen der ARBEITERSTIMME aufgenommen. Damit verbinden wir keine Werbung für eine bestimmte Richtung,  sondern als strömungsübergreifendes Magazin sehen wir darin einen Beitrag zur Überwindung linker Selbstabschottungsprozesse auf dem Felde theoretischer am Klassenkampf orientierter Debatten.

Gleichsam spiegelbildlich dazu verhält sich unsere Textauswahl in der Rubrik Betrieb und Gewerkschaft. Ob FAU, ob MLPD, ob Arbeitermacht ... deren Nachrichten sind uns Beleg dafür, dass die "Klasse kämpft" und dass es u. E. die Aufgabe der linken und revolutionären Organisationen ist, diese Kämpfe zusammenzuführen. Freilich wir sind keine Zentristen, den es um die Einheit um jeden Preis geht. Vielmehr gehen wir davon aus, dass die Vereinheitlichung im Klassenkampf nicht zu reduzieren ist auf ein pragmatisches Bündnisprojekt, sondern dass die Einheit im Klassenkampf nur auf vereinheitlichten theoretischen Grundlagen möglich ist.

Hier schließt sich in gewisser Weise gedanklich der Kreis zu "68". Nach Vietnam-Kongress, Pariser Mai und dem Kampf gegen die Notstandsgesetze transformierte sich die Jugend- und Studentenbewegung 1969 sukzessive in eine revolutionäre, auf das Proletariat als historischem Subjekt bezogene Bewegung. Die damalige Richtungsdebatte verlief im wesentlichen als reine Organisationsdebatte (siehe dazu unser Textarchiv Aufruhr & Revolte) und trug damit das spätere Scheitern der daraus entstandenen K- und anderen revolutionären Gruppen bereits in sich.

Mit der unlängst vollzogenen Gründung der sozialdemokratischen Partei DIE LINKE als Appendix der SPD ist ähnlich wie 1966, als die SPD unter dem Alt-Nazi Kiesinger die Große Koalition einging, wieder die Organisationsfrage als Richtungsfrage unabhängig vom Willen, Zustand und Zutun des linksradikalen Spektrums aufgeworfen. Dieser Aufgabenstellung sollte tatsächlich nachgegangen werden. Allerdings ohne die alten Fehler zu wiederholen. Daher werden wir zukünftig das eine oder andere Mal durch entsprechende - auch historische - Texte oder auch durch Veranstaltungen auf dieses Thema eingehen.