Die Antillen ein Jahr nach dem Generalstreik und einen halben Monat nach dem Referendum über „Autonomie“: Autonomie à la Sarkozy ? Der Spaß ist uns zu teuer, uns’re Stimme kriegt Ihr nicht !

von Bernard Schmid

02/10

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Ein Sieg hat viele Väter - und Mütter -, die Niederlage ist ein Waisenkind: Eine solche Situation ist so altbekannt wie sprichwörtlich. Anders hingegen fällt die Bewertung aus, was den aktuellen Ausgang der Abstimmungen in zwei französischen „Überseebezirken“ gilt. In diesem Falle herrscht relativ starke Unklarheit, ja sogar ein gewisses Durcheinander bezüglich der Frage, auf wessen Konto der überaus klare Sieg des „Nein“ in den beiden Volksabstimmungen vom Sonntag, den 1o. Januar 10 geht. Beispielsweise muss Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy im Prinzip als einer ihrer größten Verlierer gelten, während seine eigene Partei - die konservative und wirtschaftsliberale französische Regierungspartei UMP - ebenso wie die übrige Rechte sich gleichzeitig als Gewinner der Referendumsergebnisse feiert.

Die Karibikinsel La Martinique und Französisch-Guayana, Standort der Weltraumstation und Abschussbasis für die Ariane-Rakete in Kourou, sind zwei der vier französischen départements d’outre-mer (DOM) oder Überseebezirke, zu denen noch mehrere „Überseeterritorien“ (TOM) mit anderem Status hinzukommen. Der Status als Überseebezirk, den etwa die Karibikinseln La Martinique und Guadeloupe schon seit 1946 innehaben, stellt sie weitestgehend französischen Verwaltungsbezirken auf dem europäischen Festland gleich. Dies schließt das - theoretisch gültige - Prinzip der „republikanischen Gleichheit“ ein, aber eigene Gesetzgebungs-Vollmachten grundsätzlich aus. Hingegen besitzen die „Überseeterritorien“, die insgesamt ein gutes halbes Dutzend an der Zahl sind und juristisch eine nicht ganz so enge Bindung zur „Metropole“ Frankreich unterhalten, beschränkte eigene Gesetzungsgebungsrechte; ihr rechtliches Statut ist uneinheitlich. Auf dem Spiel stand am vorletzten Wochenende nun, ob La Martinique und Französisch-Guayana ihren bisherigen Status beibehalten oder - im Namen einer erweiterten „Autonomie“ - eine rechtliche Stellung ähnlich jenem von „Überseeterritorien“ wie etwa Französisch-Polynesien übernehmen. Darauf antworteten knapp 70 % der Abstimmenden in Guyana und 79 % auf La Martinique - bei einer Beteiligung von 48 respektive 55 Prozent - jeweils mit „Nein“. (Vgl. u.a. http://www.lemonde.fr/  )

Dies klingt auf den ersten Blick nach einer „rein technischen“ Frage, über die leidenschaftslos zu befinden und allenfalls unter Juristen und Verwaltungsfachleuten zu debattierten sei. Dem ist aber nicht so. Die Frage hatte sich stark politisiert, nachdem Präsident Sarkozy am 25. und 26. Juni 2009 auf der Karibikinsel La Martinique eine Rede hielt und eine große Abstimmung zum Thema „Autonomie“ ankündigte.

Sein damaliger Auftritt war mit großer Spannung erwartet worden, da ihm in den ersten drei Jahresmonaten ein heftiger sozialer Konflikt - in Form eines Generalstreiks auf Guadeloupe und kurz darauf auch auf La Martinique - vorausgegangen war. Ursächlich dafür war die starke wirtschaftliche Benachteiligung der Karibikbewohner: Deren Inseln sind einerseits in vielfacher Hinsicht von Importen aus der „Metropole“ Frankreich ökonomisch abhängig, da die Antillen in ihren Außenwirtschaftsbeziehungen stark auf dieselbe ausgerichtet sind. Ein „Konsumkorridor“ verbindet die französischen Antillen mit dem europäischen Festland, während die Austauschbeziehungen zum - im Falle Venezuelas nur 400 Kilometer entfernten - Süd- oder Mittelamerika unterentwickelt bleiben und verkümmerten. Insofern kann man von einem Quasi-Kolonialismus sprechen, aufgrund der einseitigen Abhängigkeit von der „Metropole“, auch wenn letztere kaum Rohstoffe oder Arbeitskräfte auf den Antillen ausbeutet: Die Inseln werden eher im französischen Staatsverband behalten, um - nach dem Verlust des größten Teils der früheren Kolonien - weiterhin einen Status als maritime Großmacht beanspruchen zu können. (In Teilen der Basis der politischen Rechten hält sich deswegen das mitunter zum Vorschein kommende Ressentiments, wonach die Karibikfranzosen „uns nur Geld kosten“, um vermeintlich unter der Sonne Rum zu trinken und Hulla-hulla zu tanzen.)

Andererseits herrschen im Rahmen der quasi-kolonial deformierten Inselökonomie Einfuhr- und Ausfuhrmonopole, die fest in den Händen der kleinen Bevölkerungsgruppe der „Béké“ liegen - das sind Nachfahren der früheren weißen Sklavenhalteroligarchie, die argwöhnisch darauf achteten, sich von „Vermischung“ mit der überwiegend dunkelhäutigen Restbevölkerung fernzuhalten. Beide Faktoren zusammen tragen dazu bei, dass die materiellen Lebensbedingungen für einen Gutteil der Inselbevölkerung beschwerlich sind. Zu Anfang 2009 explodierten Wut und Frustration in Form eines Generalstreiks, der mehrfach drohte, in bewaffnete Auseinandersetzungen zu münden. Die jeweiligen Kollektive, die den Streik auf den beiden Inseln anleiteten und unterschiedliche soziale Kräfte - von Gewerkschaften über NGOs bis zu karibischen Karnevalsvereinen - bündelten, konnten damals jedoch einen bewaffneten Showdown ebenso verhindern, wie sie es vermieden, dass die von manchen politischen Strömungen aufgeworfene Frage einer Unabhängigkeit ins Zentrum rücke. Man glaubte, stünde letztere Forderung im Vordergrund, könne man unmöglich gewinnen, da man sich dann weniger an die Lohnabhängigen in Festlandfrankreich richten könne und weil die französische Staatsmacht bei einem Unabhängigkeitskampf - wie 1967, als die Repression 110 Tote auf Guadeloupe forderte - ungleich härter zuschlägt. Der Streik blieb vorwiegend ein sozialer Massenkampf, und ein Gutteil seiner Forderungen wurde erfüllt. Jedenfalls vorläufig konnten etwa 300 Euro Lohnerhöhung für alle Tieflöhne erreicht werden, die jedoch zunächst nicht allein durch die Arbeitgeber bezahlt, sondern während dreier Jahren zum Teil durch die öffentliche Hand zugeschossen werden. Was in drei - nunmehr in knapp zwei - Jahren aus der Vereinbarung werden wird, bleibt bisher abzuwarten. Deshalb rumort es unter der Oberfläche auch, vor allem auf Guadeloupe, nach wie vor weiter;

Sarkozys Angebot, als er im vergangenen Juni auf die Antillen reiste, lautete, es gebe eine „institutionelle Lösung“: Seien die Einwohner der Karibikinseln unzufrieden, so sollten sie doch einfach mehr Autonomie fordern, und in diesem Falle würden sie sich zum Teil eigene gesetzliche Regeln geben können. Ein Nachdenken über eine Unabhängigkeit der Inseln von Frankreich schloss Sarkozy im selben Atemzug kategorisch aus: „Unter meiner Präsidentschaft wird es das nicht geben.“ In seiner üblichen Postur als Superheld, der für alle Probleme passende Lösungen aus dem Ärmel zu schütteln hat, kündigte Sarkozy damals anlässlich seines zweitägigen Besuchs auch gleich die Abhaltung jenes Referendums an, das nunmehr stattgefunden hat.

Kritik – aus unterschiedlichen Richtungen & Motiven

Doch das Geschenk, das Nicolas Sarkozy damals mitgebracht hatte, war in den Augen vieler Inselbewohner/innen vergiftet. Der französische Präsident hatte seine Ankündigung im Übrigen auch mit den Worten präzisiert: „Je autonomer eine Gemeinschaft ist, desto mehr muss sie sich selbst in die Hand nehmen, und desto mehr Verantwortung werden ihre Mandatsträger für ihre Weichenstellungen haben.“ Dies bedeutet ungefähr so viel wie die Aussicht, künftig weniger finanzielle Mittel vom französischen Zentralstaat zur Verfügung gestellt zu bekommen - im Namen von Eigenverantwortung und Subsidiaritätsprinzip. Das Ganze bei gleichbleibend fortbestehenden Wirtschafts-, Konsum- und Abhängigkeitsstrukturen. Aus diesem Grunde auch das Misstrauen bei einem erheblichen Teil der Inselbevölkerung, das sich im Ergebnis vom 10. Januar 2010 niederschlug. (Hingegen wurde der mit diesem Ansinnen indirekt zusammenhängende Vorschlag, den politischen Institutionen der Überseegebiete erweiterte Befugnisse zu verleihen, indem die beiden Einrichtungen Département und Region – jedes der Überseedépartements bildet gleichzeitig je eine einzige Region, während die meisten französischen Regionen je mehrere Verwaltungsbezirke umfassen – zu einem einzigen Amt zusammengelegt werden, 14 Tage später angenommen. Bei einer zweiten Abstimmung am 24. Januar stimmte sowohl auf La Martinique als auch in Französisch-Guyana jeweils eine Mehrheit diesem Plan zu. Allerdings fiel die Beteiligung an diesem zweiten Referendum, mit 35 % der Wahlberechtigten in La Martinique und gar nur 27 % in Französisch-Guyana, dieses Mal sehr geringfügig aus. Vgl. http://www.france24.com - Entfernt glich dieser Vorschlag übrigens jener „institutionellen Lösung“, über die der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy im Juli 2003 auf der Mittelmeerinsel Korsika abstimmen lie, die jedoch bei der dortigen Abstimmung scheiterte, vgl. http://www.trend.infopartisan.net/trd7803/t247803.html  )

Präsident Sarkozys Ansinnen für die nähere politische Zukunft der Überseebezirke stand in Konformität zu der Tendenz in wirtschaftsliberalen und sich „modern“ wählenden Teilen der Rechten, einen schlanken Staat zu schaffen und möglichst viele Aufgaben an irgendwelche „Gemeinschaften“ - von der Familie bis zur Region - zu delegieren, die sich dann selbst um den Erwerb der nötigen Mittel kümmern dürfen. Hingegen erwies ein Teil der konservativen und/oder nationalistischen Rechten sich beunruhigt über die Aussicht, die Inseln könnten einen verstärkten Autonomiestatus beanspruchen, und erblickten darin einen Angriff auf die Staatsautorität. Deswegen warb Nicolas Sarkozys eigene Partei, die UMP, vor Ort im Abstimmungskampf mehrheitlich für den Sieg des „Nein“. (Vgl. bspw. http://www.lefigaro.fr ) Auch weiter rechts stehende Kräfte im europäischen Frankreich - wie der rechtsextreme Front National - begrüßten im Nachhinein das Abstimmungsergebnis, zu dem sie wenig beigetragen hatten. Rechte und rechtsextreme Kräfte hatten im letzten Jahr kurzfristig damit gedroht, die Frage einer Unabhängigkeit „auf Kosten der Inseln“ - von ihnen dargestellt als Aufgeben der Inseln, die mittellos im Stich gelassen würden - aufzuwerfen, hatten dies aber nur als Drohung im Sinne einer Alternative „Alles oder Nichts“ verstanden, um jegliche soziale Forderung abzuschmettern.

Die Hauptkräfte, die das „Ja“ bei der Abstimmung befürworteten, waren deswegen die französische Sozialdemokratie und ihr Umfeld, bis hin zur schwachen Insel-KP (vgl. dazu folgendes Interview, in welchem ein Vordenker dieser KP sich darüber beschwert, dass auch „Leute, die in der sozialen Bewegung waren“, die Vorzüge der Autonomie- à la sauce Sarkozy - „nicht verstanden“ hätten : http://www.humanite.fr/Referendum-en-Martinique-et-Guyane-une-autonomie-au-bout-du-chemin) ; denn diese Sozialdemokratie stellt die lokalen Regierungen auf La Martinique und Guadeloupe und ist zu wesentlichen Teilen an der Regierung Französisch-Guayanas beteiligt. Während die Mandatsträger auf der ärmeren Insel Guadeloupe jedoch sehr skeptisch bezüglich Sarkozys Autonomieplänen blieben - weshalb der Präsident seine Abstimmung auf letzterer Insel auch erst anderthalb Jahre später organisieren wollte, um sie nur auf La Martinique schnell stattfinden zu lassen -, hatten die martiniquaisischen Sozialisten sich auf das Ansinnen eingelassen. Sie wollten gern diejenigen sein, die das Projekt in Zukunft umzusetzen gehabt hätten. Insofern ist die Niederlage des „Ja“ beim Referendum darum vordergründig auch zuerst als Scheitern dieses Mehrheitsflügels der örtlichen politischen Klasse erschienen. Da die UMP Nicolas Sarkozys örtlich zwar uneinheitlich auftrat, aber weitaus eher für das „Nein“ bei der Abstimmung mobilisierte, konnte sie sich durchaus geschickt aus der Affäre ziehen.

Was daraus nun in naher Zukunft folgt, nachdem „Nein“-Stimmen aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen und eher nationalistisch motivierte „Nein“-Stimmen sich im Vorfeld der Abstimmung auf undurchsichtige Weise mischten, ist derzeit noch unklar. Eine Alternative zu den diversen Basteleien an „institutionellen Lösungen“ und Intrigen der etablierten Parteien könnte sicherlich in der sozialen Protestbewegung und der Massenemanzipation durch soziale Kämpfe für ein besseres Leben zu suchen sein. Nur liegt auch an diesem Punkt die Situation augenblicklich eher im Argen.

Guadeloupe: Neuer Ausstand aufgeschoben - aber lt. LKP nicht aufgehoben

Auf der Insel Guadeloupe, die von der jüngsten Abstimmung aus den genannten Gründen (noch) nicht unmittelbar betroffen war, mobilisierte das LKP (Kollektiv gegen Ausbeutung) - die Plattform, die 2009 den Generalstreik organisierte, mit rund 60 Mitgliedsvereinigungen - Anfang Januar 1o für einen neuen Ausstand. Dazu reiste in der zweiten Januarwoche dann auch Olivier Besancenot, einer der führenden Politiker der französischen radikalen Linken (der zu Anfang des Jahres 2009 neben anderen Prominenten der Linken, etwa José Bové, zur aktiven Unterstützung des Generalstreiks auf die Antillen geflogen war / vgl. http://top-news.fr/ ), erneut in Richtung Guadeloupe. (Vgl. http://guadeloupe.rfo.fr ) Am 20. Januar 1o, dem Jahrestag des letztjährigen Streikanfangs, sollte ein neuer Generalstreik beginnen: gegen neuerlich steigende Verbraucherpreise etwa beim Treibstoff, gegen Praktiken zur Umgehung des Abkommens vom vorigen Jahr - manche Produkte sehen etwa ihre Preise sinken, aber verschwinden darauf aus den Regeln, wo nur die nicht verbilligten Artikel übrig bleiben - und für die dauerhafte Festschreibung der 300 Euro Lohnerhöhung.

Doch nachdem eine Demonstration am zweiten Januarsamstag – dem o9. Januar - mit wohl unter 10.000 Teilnehmern eher ein Flop wurde, blies das LKP den schon ausgerufenen Generalstreik ab dem 20. Januar kurzfristig wieder ab (vgl. etwa http://www.leparisien.fr/). Ursächlich dafür, dass dieser schon vorab scheiterte, sind unter anderem die Risse, die in dem Kollektiv selbst auftauchten - schwarze Nationalisten, Anhänger von Unabhängigkeitsforderungen sowie von Autonomievorstellungen ebenso wie Befürworter einer Ausrichtung überwiegend an sozialen Fragen stehen dort relativ unvermittelt nebeneinander. Ein Teil der schwarzen Nationalisten wird nunmehr durch ihre Verbündeten vom vorigen Jahr als „Kleinbourgeoisie“ bezeichnet. Auch besteht ein objektives Problem für das LKP als Speerspitze des Generalstreiks darin, dass ein Gutteil ihrer Anführer französische Staatsbedienstete sind - die zwar günstige Voraussetzungen in ihrem Arbeitsumfeld haben, um einen Streik organisieren zu können (denn prekär Beschäftigte, Arbeitslose oder Beschäftigten in Kleinstbetrieben können kaum oder nicht wirksam streiken), aber im Vergleich zur übrigen Inselbevölkerung auch einen materiell äuerst privilegierten Status besitzen.

Ein weiteres Problem liegt darin, dass im Kontext der globalen Wirtschaftskrise die Arbeitslosigkeit auf den Antillen im vorigen Jahr stark angestiegen ist. Während ein Teil der örtlichen Arbeitgeber - darunter auch der schwarzen Unternehmer - damit droht, ihre Hotels oder Geschäfte dichtzumachen, falls sie die 300 Euro Erhöhung für niedrige Löhne künftig selbst und dauerhaft bezahlen müssen, ist die Drohung mit dem Arbeitsplatzverlust momentan ein schmerzhaft spürbares „Argument“.

Nichtsdestotrotz lässt das LKP sich auch nachträglich nicht entmutigen. Sein Sprecher Elie Domota kündigte jüngst an, Guadeloupe sei nach wie vor „bereit, auf die Straße zu gehen“, um für bessere Lebensbedingungen zu kämpfen: „Eines ist sicher, wir werden (erneut) zum Streik aufrufen, aber wir wissen noch nicht, zu welchem Datum“ (vgl. http://www.lemonde.fr/ ).

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir vom Autor.