Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Neues Gesetz zum Armenier-Völkermord wurde nun doch auch durch die zweite Parlamentskammer verabschiedet
Neue Runde im Streit mit türkischer Staatsmacht und türkischen Nationalisten – Nicolas Sarkozy bereitet sich auf Powern bei der Durchsetzung vor

02/12

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Ein Kamel sieht den Höcker des anderen, aber den eigenen vermag es nicht es nicht zu sehen“, lautet ein nordafrikanisches Sprichwort. Mitunter verhalten sich auch Staaten, als würden sie diesem Motto folgen. In den internationalen Beziehungen halten sie sich ihre jeweiligen Verbrechensregister vor, um sich selbst dabei tunlichst reinzuwaschen.

Frankreich wird in naher Zukunft auf seinem Boden die Leugnung des Völkermords an den Armeniern auf dem Gebiet des damaligen Osmanischen Reichs, der am 24. April 1915 begonnen hatte, unter Strafe stellen. So sieht es ein Gesetz vor, das am 22. Dezember 2011 in der französischen Nationalversammlung und am Montag, den 23. Januar 12 auch im Senat - also in den beiden Kammern des französischen Parlaments - verabschiedet wurde. Innerhalb von vierzehn Tagen soll es nun in Kraft treten. Rund 25.000 türkische Einwohner Frankreichs und türkischstämmige Menschen hatten am Samstag zuvor (21. Januar 12) in Paris dagegen demonstriert. Auch aus den Benelux-Ländern und Deutschland waren Teilnehmerinnen in Bussen dazu angereist.

Es handele sich um „ein diskriminatorisches Gesetz“, das eine „rassistische Mentalität Frankreichs“ verrate, tobte der türkische Premierminister Recep Teyyip Erdogan am Dienstag, den 24. Januar 12 bei seiner wöchentlichen Rede vor Abgeordneten der Regierungspartei AKP. Ohne allerdings zu verraten, warum das Gesetz - wie immer man es sonst bewerten möge - gerade rassistisch sei.

Kernpunkte des Streits

Das neue Strafgesetz sieht konkret vor, dass „die Leugnung oder die übermäßige Herunterspielen“ eines „vom französischen Gesetz anerkannten Völkermordes“ künftig strafbar ist. In den letzten Worten liegt die Crux bei der Sache, denn nicht alle Völkermordhandlungen des 20. Jahrhundert sind auch vom französischen Gesetzgeber als solche eingestuft worden. Seit längerem gesetzlich anerkannt ist die Vernichtung der europäischen Juden, da ein im Juli 1990 - als Reaktion auf eine spektakuläre antisemitische Friedhofsschändung in Carpentras und die darauffolgenden Auseinandersetzungen - verabschiedetes Gesetz die Holocaustleugnung explizit unter Strafe stellt. Dieses Strafgesetz, das in die Antirassismusgesetzgebung integriert wurde, bezieht sich auf das Urteil des Nürnberger Gerichtshofs. Zum Zweiten wurde der Genozid an den Armeniern, der während des Ersten Weltkriegs und unter aktiver Beteiligung deutscher Militärs - mit denen die Armee des altersschwachen Osmanischen Reichs durchsetzt war - begangen wurde, Ende Januar 2001 durch ein Votum des französischen Parlaments anerkannt. Letzteres Gesetz hatte damals rein symbolische Bedeutung. Der gesetzliche Bezug in dem neuen Regelwerk stattet es nun aber erstmals mit einem strafbewehrten Leugnungsverbot aus.

Heikel ist dabei insbesondere, dass andere Völkermorde nicht in gleicher Weise vom französischen Gesetzgeber anerkannt sind. Da die Leugnung des Holocaust ohnehin seit über zwanzig Jahren unter Strafandrohung stand, ist der neue Text de facto ein Einzelfallgesetz, wie es normalerweise in Demokratien mit rechtsstaatlichen Standards verboten ist, da gesetzliche Normen grundsätzlich auf eine nicht vorab feststehende Liste von Situationen anwendbar sein müssen.

Denn einzig und allein der Tatbestand der Abstreitung der historischen Realität des Völkermords an den Armeniern ist im Visier. Weder der Völkermord an den Herero im damaligen „Deutsch-Südwestafrika“ ab 1904, noch der Genozid an den Tutsi in Rwanda im Frühjahr und Frühsommer 1994 sind von dem neuen Gesetz betroffen. Zwar gab es auch Zustimmung zu dem neuen Gesetz in Teilen von antirassistischen Organisationen wie dem MRAP oder internationalistischen Gruppen wie der gegen Neokolonialismus in Afrika kämpfenden Vereinigung Survie - gerade auch deswegen, weil manche sich dort erhofften, das Gesetz als Handhabe gegen eine Leugnung oder das Herunterspielen des Völkermords in Rwanda nutzen zu können. Die Hoffnung dürfte jedoch sich als trügerisch erweisen. Argumentiert wird von den Optimistinnen damit, dass ein französisches Gesetz von 1996 zur Zusammenarbeit mit dem „Internationalen Gerichtshof zu Rwanda“ im tansanischen Arusha existiert. Darin ist davon die Rede, dass Personen, „denen Völkermordhandlungen vorgeworfen werden“, nach Arusha ausgeliefert werden können. Der Text referiert jedoch nur den Vorwurf, ohne ihn zu bewerten, und ohne die Realität dieses Genozids ausdrücklich anzuerkennen. Strafgesetze müssen grundsätzlich restriktiv ausgelegt werden, da jede extensive Interpretation mit dem fundamentalen Prinzip der Unschuldsvermutung kollidieren würde: Strafbar ist nur, was ausdrücklich und ohne jeden Hauch eines Zweifels verboten wurde. Dass trifft nach restriktiver Lesart jedoch auf eine Leugnung des Völkermords an den Tutsi nicht zu.

Besonderer letzterer Punkt ist mehr als kritikwürdig, waren doch lebende - und oft noch aktive - Politiker und Militärs in Frankreich an der Verübung dieses Völkermords mindestens indirekt beteiligt. Ganz zu schweigen davon, dass eine Leugnung der realen Dimensionen dieses Völkermords in Frankreich bis vor etwa drei Jahren quasi Staatsdoktrin war, um ebendiese Vorgeschichte zu vertuschen. (Vgl. Alles nur Schall & Rauch) Es ist eben wesentlich einfacher, die Leugnung eines Völkermords unter Strafe zu stellen, der sich vor über 90 Jahren auf einem fremden Staatsgebiet ereignete, als im Sinne des bekannten Sprichworts vor den eigenen Türen zu kehren.

Beweggründe

Dass Frankreich überhaupt ein eigenes Gesetz zur Abstreitung des Armenier-Genozids annimmt, hat politische Motive. Da ist zum Einen der Kontext der Vorwahlperiode: Ende April und Anfang Mai 2o12 wird das nächste französische Staatsoberhaupt, am 10. und 17. Juni 12 das nächste Parlament gewählt. Im Unterschied zu Deutschland leben in Frankreich relativ wenige türkischstämmige, und umso mehr armenischstämmige Staatsbürger: Nach dem Massenmord kamen, unmittelbar am Ausgang des Ersten Weltkriegs, viele Überlebende und Nachfahren von ermordeten Armeniern auf Schiffen in Marseille an. Im Umland der südfranzösischen Metropole und Hafenstadt leben noch heute überdurchschnittliche viele Franzosen armenischer Herkunft. Es dürfte auch kein Zufall sein, dass es eine Abgeordnete des Bezirks um Marseille - Valérie Boyer, Mitglied der Regierungspartei UMP - war, die den Gesetzesantrag ins Parlament eingebracht hatte. Offiziell kam er nicht aus der Regierung, doch es war klar, dass letztere das Vorhaben ebenfalls unterstützte: Präsident Nicolas Sarkozy hatte Anfang Oktober 2011 bei einem Besuch in Eriwan, der Hauptstadt der früheren Sowjet- und jetzigen unabhängigen Republik Armenien, einen solchen Gesetzestext versprochen. In Armenien wurde dessen Verabschiedung nun auch mit ziemlicher Begeisterung aufgenommen. Ein neugeborenes Baby wurde vergangene Woche sogar auf den Vornamen „Sarkozy“ getauft - was in Frankreich heute wohl wirkich niemandem mehr einfallen würde... (Vgl. http://www.lefigaro.fr/ )

Umgekehrt war der Proteststurm nicht nur unter türkischen Nationalisten, sondern auch im mit Armenien verfeindeten Nachbarland Aserbaidschan gro. Valérie Boyer erhielt während der Weihnachtstage Morddrohungen, gegen welche sie Strafanzeige erstattete, und eine türkische Hackergruppe legte während der damaligen Urlaubsperiode ihre Webseite lahm. Es handelte sich um dieselben Netzpiraten, die Anfang November 11 bereits die Webseite der Wochenzeitung Charlie Hebdo aufgrund einer Mohammedkarikatur attackiert hatten.

Als zweites Motiv in der französischen Politik kam sicherlich bei einer Reihe von konservativen Parlamentariern auch hinzu, dass sie dieses Thema seit Jahren instrumentalisieren, um tunlichst weitere Hürden gegen einen EU-Beitritt der Türkei - gegen den sie aus anderen Gründen opponieren - zu errichten. Allerdings durchzog die Frage der Annahme einer spezifischen Gesetzgebung gegen Leugner des Armenier-Genozids in den letzten Jahren die französische Politik quer zu Parteigrenzen. 2006 hatten etwa Sozialdemokraten bereits einmal die Verabschiedung eines solches Textes in der Nationalversammlung gefordert. Ihr Vorschlag fand dann aber mehr Zustimmung auf den konservativen als auf den sozialistischen Abgeordnetenbänken. Doch im Anschluss verwarf dann der, seinerseits damals noch konservativ dominierte, Senat den Entwurf. Zuletzt im Mai 2011. Damals demonstrierten zum Teil auch radikale Linke, etwa eine Abordnung derNeuen Antikapitalistischen Partei“ (NPA), vor dem Senat für die Verabschiedung des Textes; seinerzeit wurde die Vorlage jedoch durch eine Mehrheit im Senat zurückgewiesen, vgl. http://www.lefigaro.fr . Jetzt wiederum kommt viel Kritik von links an den Hintergedanken des Sarkozy-Lagers, die zur Annahme der neuen Gesetzesinitiative geführt hätten.

Türkische Reaktionen

In der Republik Türkei wiederum ist seit langen Jahren eine Ablehnung der Anerkennung des Armeniermords als Genozid Staatsdoktrin: Die politische Klasse des Landes ist bereit, bis zu 500.000 Tote - das wäre rund ein Drittel der Zahl von tatsächlich Ermordeten - anzuerkennen, bestreitet jedoch eine planmäige Vernichtungsabsicht. Vielmehr wird behauptet, die christliche Minderheit der Armenier, die angeblich zum Kriegsgegner Russland gehalten habe, sei in gewisser Weise zum Opfer der Kriegswirren im Ersten Weltkrieg geworden.

Premierminister Erdogan erinnerte, um die scharfen Reaktionen zur Abwehr des französischen Gesetzes zu begründen, auch an Verbrechen der französischen Staatsmacht. Doch irrte er sich dabei erkennbar in den Details. So warf er Frankreich einenVölkermord während des Kolonialkriegs in Algerien der Jahre 1954 bis 62, was im engeren Sinne allerdings nicht zutrifft: Der Algerienkrieg war eine Kette von Verbrechen, Massakern und Foltervorfällen, allerdings kein Genozid im engeren Sinne. Erdogan fügte hinzu, Nicolas Sarkozys Vater müsse darüber ja Bescheid wissen, wohl im Glauben, jener sei dort als Soldat gewesen. Der alternde Pál Sarkozy ein gebürtiger Ungardementierte dies allerdings umgehend und erklärte, er sei während seines Militärdiensts in Frankreich nicht über Marseille in Richtung Süden hinausgekommen“. Von Rwanda sprach der islamistische Premierminister nicht, vielleicht nicht nur aus Unkenntnis (oder weil die Sache aufgrund der eher indirekten denn direkten Beteiligung Frankreichs relativ kompliziert darzustellen ist), sondern auch weil die Rwander überwiegend keine Muslime sind und deswegen keine symbolischeislamische Solidarität mit ihnen geübt werden kann. Nationalistische Protestdemonstranten vor der französischen Botschaft in Ankara redeten allerdings in die Mikrophone der anwesenden Presse hinein nicht nur über den Algerienkrieg, sondern ebenfalls über Frankreichs Rolle in Rwanda.

Nach dem Votum in der französischen Nationalversammlung vom 22. Dezember 11 drohte die offizielle Türkei mit heftigen Reaktionen: Wirtschaftssanktionen, einer Einstellung der militärischen Zusammenarbeit, einem Überflugverbot für französische Armeeflugzeuge und einer Verweigerung des Einlaufens von Militärschiffen in türkische Häfen. Am 23. Dezember verlie zudem der türkische Botschafter, Tahsin Burcuoglu, Paris auf unbestimmte Zeit. Am 8. Januar 12 kehrte er allerdings zurück. Doch erklärte er vergangene Woche anlässlich der Abstimmung im Senat, es könne auch mit seinem definitiven Abgang und einer „Herunterstufung der diplomatischen Beziehung“ - ohne Botschafter würden sie nur auf der Ebene von Geschäftsträgern abgewickelt - zu rechnen sein. Allerdings versuchte Premierminister Erdogan laut einer Einschätzung des Figaro, am Tag nach dem Votum im Senat (also am 24. Januar 12), die Wogen eher zu glätten. Er sprach davon, Sanktionen sollten nur „Schritt für Schritt“ greifen, die Türkei müsse noch „Geduld“ zeigen. Und „die Würde“ erfordere es, sich nicht „mit Frankreich herumzuzanken“.

Ausblick

Das nationalistische Getöse, das in den letzten Wochen in der Türkei ausgelöst wurde, dürfte vor allem eine politische Funktion nach innen hin haben - ebenso, wie dies unter anderen Umständen auch für das französische Gesetz zutrifft. Dennoch dürfte es eine Eigendynamik entwickeln, das die Beziehungen zwischen den beiden NATO-Ländern auf längere Sicht beeinträchtigen könnte.

Unterdessen haben in Frankreich konservative Parlamentarier wie Jacques Myard – ein Rechtsauslager der Regierungspartei UMP – mit dem reaktionären Argument, sie protestierten gegen eine „Sowjetisierung der Geschichtsschreibung“ in Form jeglicher Strafgesetze zur Leugnung von Völkermordverbrechen, das Verfassungsgericht angerufen. Auch der UMP-Abgeordnete Michel Diefenbacher, der der parlamentarischen Freundschaftsgesellschaft Frankreich-Türkei angehört (und also aus naheliegenden Motiven heraus agiert), zählt zu den Klägern vor dem Verfassungsgericht.

Am 1. Februar 12 wurde bekannt, dass Präsident Sarkozy von der nunmehr erfolgenden Befassung des Verfassungsgerichts nicht nur einen zeitlichen Aufschub, sondern auch das Risiko einer Zensur des Textes befürchtet. Nicolas Sarkozy kündigte jedoch gleichzeitig an, im Falle einer Zurückweisung des Gesetzestextes durch die Verfassungsrichter sogleich eine neue Vorlage zu präsentieren und ins Parlament einzubringen; vgl. http://www.lefigaro.fr/ sowie http://www.lefigaro.fr/flash-actu/ - Dies belegt zumindest zweierlei, dass nämlich der Text einerseits juristisch nicht völlig unbedenklich zu sein scheint (jedenfalls in den Augen des Präsidenten), andererseits aber das eigene politische Interesse Sarkozys und seiner Umgebung nunmehr unverkennbar wird. Es tritt im Augenblick klar zum Vorschein, während bislang das Regierungslager hinter eineraus dem Parlament selbst kommenden Initiative sich verschanzen bedeckt bleiben konnte.

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.